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Gerechtigkeit als Nutzen oder Das Problem der Entscheidung

2 Eine kurze Geschichte der Gerechtigkeit

2.3 Gerechtigkeit als Nutzen oder Das Problem der Entscheidung

Aus der wohl unvermeidlichen Enttäuschung naturrechtlicher Konstruktionshoffnungen hat David Hume die Konsequenz einer triftigen Unterscheidungen gezogen. Obwohl er, ähnlich wie Rousseau, von der grundlegenden Bedeutung des Gefühls für ethisch-moralische Entscheidungen ausgeht, verzichtet er auf den normativen Effet des Naturrechts: In Hinsicht auf seine Fehlschlüssigkeit sind das Sein und das Sollen auseinander zu halten; das eine lässt sich nicht aus dem anderen herleiten. Ob ein Urzustand der Menschennatur, wie Hume in seiner Untersuchung über die Prinzipien der Moral klar bemerkt, „je hat bestehen können [,...] darf füglich bezweifelt werden.

Der Mensch wird notwendig wenigstens in eine Familiengemeinschaft hineingeboren und von seinen Eltern nach irgendeiner Norm des Betragens und Verhaltens geschult.“38 Hier und jetzt lebt der Mensch – und in Gesellschaft. Seine Gefühle, die natürlichen Affekte, wohnen in keinem unvordenklichen Jenseits, sondern motivieren ganz diesseitig sein Handeln, indem sie ihm Lust oder Schmerz anzeigen; ohne ein solchermaßen wertendes Motiv würde kein Handschlag getan. Hinzukommen muss freilich die orientierende, dabei erfahrungsabhängige Vernunft, die vergleichend und schlussfolgernd den rechten Weg erkennt; ohne ein Wissen vom Womit und Wohin verliefe das Gefühl im Irgendwo. Gleichwohl bleibt das vernünftige Urteil ohne

37 Eine entlastende Gewaltenteilung, wie sie schon bei Locke mit seiner Unterscheidung zwischen Legislative und Exekutive zu finden ist oder bei Montesquieu mit seiner Ergänzung um die dritte Gewalt der Judikative – das ist Rousseau fremd. Sein Glaube an die legitimierende und zugleich expressive Menschenmenge, den volonté générale in der direkten Demokratie, zeigt deutlich die Aporie seines Gesellschaftsvertrags: durch sie wird er sowohl begründet als auch unterbrochen. Diese Aporie lässt sich nach mindestens zwei Seiten auflösen: durch die Betonung kleiner, intimer und gefühlsechter Gemeinschaften, die sich im Extrem via strikter Abschottung im Begriff der ‘Identität’ zusammenziehen können, wie schon bei Edmund Burkes Votum für den Nationalstaat; oder durch die Gemeinschaft als latentem Ausnahmezustand, die sich im Extrem via plebeszitärer Ermächtigung im Begriff der ‘Bewegung’ zusammenziehen kann, wie etwa bei Carl Schmitts Votum für den autoritären Führer-Staat. – Natürlich sind auch Lebensformen in ländlicher und gottesfürchtiger Idylle denkbar. Wer möchte, kann in diesem Zusammenhang, etwas unspektakulärer zwar, aber nicht minder triftig, auf den inzwischen umfänglichen Erfahrungsbestand von sog. Wohngemeinschaften zurückgreifen.

affektive Bindung nicht nur kraft-, sondern, im strengen Sinne des Wortes, wertlos: „Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will als einen Ritz in meinem Finger“, stellt Hume in seinem Traktat über die menschliche Natur lakonisch fest.39 Vernunft und Gefühl sind aufeinander angewiesen. Jedoch fallen sie nicht zusammen in einer ursprünglichen Natur oder einem entsprechenden Prinzip, einem Ideal, das normativ zu verstehen wäre. Gefühl und Vernunft führen noch nicht zu einer moralisch-ethischen Haltung, dazu bedarf es der Übereinkunft mit anderen Menschen.

Grundlegend für menschliche Übereinkünfte ist für Hume die Sympathie. Als mitfühlende und teilnehmende Haltung erlaubt sie jedem, sich in den anderen hineinzuversetzen, aber auch, sich von ihm ‘berühren’ zu lassen. Wenn zur sympathetischen Beziehung zwischen den Menschen die Einsicht hinzukommt, dass es hinsichtlich ihres Eigennutzes sowie des Gemeinwohls von größerem Vorteil ist, sich allgemeingültig und -verpflichtend auf ein Gesetz zu einigen, wenn sie endlich der aus veränderlichen Gefühlen und wandelbaren Prinzipien folgenden Verwirrung überdrüssig geworden sind – dann kann sich eine allgemeine Tugend herausbilden. Hume nennt sie Gerechtigkeit: „Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit für den Bestand der Gesellschaft ist die einzige Grundlage dieser Tugend, und da kein moralisches Gut eine höhere Achtung genießt, dürfen wir folgern, dass dies Moment der Nützlichkeit im allgemeinen die größte Wirkungskraft hat und über unsere Gefühle die stärkste Herrschaft ausübt.“40 Allgemeine Nützlichkeit begründet die Tugend der Gerechtigkeit. Die praktische Umsetzung in einem sozial und politisch vielgestaltigen Gemeinwesen führt zur Idee des unparteilichen Beobachters, der die Dinge wie aus der Ferne betrachten soll, ohne das Besondere ihrer Lage und Umstände eigens zu berücksichtigen. So gilt es, „ jede Willkür und Parteilichkeit aus den Entscheidungen über das Eigentum fernzuhalten und die Rechtsprechung auf solche allgemeinen Gesichtspunkte und Erwägungen zu gründen, die für alle Mitglieder der Gesellschaft gleichmäßig gelten können.“41 Konkret

38 David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 1972, S. 27.

39 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur (Zweites Buch: Über die Affekte), Hamburg 1978, S.

154.

40 David Hume, Eine Untersuchung..., a.a.O., S. 43. Der hier veranschlagte gesamtgesellschaftliche Nutzen formuliert bereits das utilitaristische Programm des ‘größten Glücks der größten Zahl’ von Jeremy Bentham und John-Stuart Mill.

41 Ebd., S. 161; kurs. v. mir, C.S. Das Begriff des „unparteilichen Beobachters/Zuschauers“ (impartial spectator) wird erst bei Adam Smith ein- und in extenso ausgeführt; vgl. dazu seine Theorie der ethischen

wird diese Hinsicht dem am etatistischen Nutzenkalkül geschulten Blick des Staatspersonals zugetraut, der bürgerlichen Obrigkeit, Königen, Ministern oder Richtern. Für sie muss der unbedingte Vorrang der Allgemeinheit, des öffentlichen Nutzens gelten, selbst wenn dies zu Härten und zur Ungerechtigkeit im Einzelfall führen mag.

Für Hume genügt es, „dass der Plan oder Aufriss als Ganzes für die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft notwendig ist, und dass durch denselben im wesentlichen die Waagschale des Guten ein starkes Übergewicht über das Böse erhält.“42 Ist auf diese Weise erst einmal das Zusammenleben der Menschen gesichert, dann leiten sich daraus alle weiteren Tugenden und Institutionen ab. Humes Vorstellung von Gerechtigkeit orientiert sich an größtmöglicher, gleichwohl konkreter Allgemeinheit. Sie behält das Einzelne durchaus im Blick, indem sie den individuellen Wohlstand schützt, vorrangig das Eigentum, der unbeständigsten Äußerlichkeit zwischen den Menschen und damit der häufigste Anlass zu Streitigkeiten. Dies bedeutet in der Tat ein Misstrauen gegen die Idee völliger Gleichheit im Sinne enteignender Gleichverteilung: „Wie gleichmäßig man den Besitz auch verteilen mag, so wird doch die Verschiedenheit der menschlichen Geschicklichkeit, Sorgfalt und Arbeitsamkeit alsbald eine Durchbrechung solcher Gleichheit herbeiführen. Hemmt man jedoch die Entfaltung dieser Tugenden, so drückt man die Gesellschaft auf das Niveau äußerster Dürftigkeit herab, und anstatt die Not und Armut bei wenigen zu steuern, macht man sie für die Gesamtheit unabwendbar.“43 Mithin versinkt die Gleichheit, hätte sie nur sich selbst zum Maß, geradewegs in der Tyrannei. Gleichheit kann nur insoweit ein Kriterium der Gerechtigkeit sein, als sie dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen nicht schadet.

In dieser Ordnung fehlt allerdings ein wesentliches Moment. Hume bezeichnet die Gerechtigkeit als ‘künstliche Tugend’, denn sie geht nicht wie die ‘natürlichen Tugenden’ des Muts, des Ehrgeizes, des Mitleids oder der Treue auf ein Gefühl zurück.

Vielmehr organisiert die Gerechtigkeit die Vielfalt der affektiven Verbindungen zwischen den Menschen als übergreifendes Prinzip größtmöglichen Nutzens. Nun

Gefühle, Hamburg 1994, und zwar im Zusammenhang mit der Sympathie auf S. 100 u. 167, als Prinzip der Gerechtigkeit auf S. 127 u. 489f und bei der Rechtsprechung auf S. 194f.

42 David Hume, Eine Untersuchung..., a.a.O., S. 159.

43 Ebd., S. 32.

können sowohl die konkurrenzbedingte Ungleichheiten als auch die sympathetischen Bande zwischen den Menschen nützlich sein, beide müssen sich aber nicht miteinander vertragen. Innerhalb der umfassenden Nützlichkeit kann es zu unvereinbaren, einander widerstreitenden Bedeutungen des Nutzens kommen. Eben dies muss die Einsicht in die Vorteile eines allgemeinen Nutzenkalküls immer wieder neu herausfordern. Wenn die einsichtig beschlossene Gerechtigkeit des größten Nutzens als ‘künstliche Tugend’ ohne Antrieb und Vielfalt des Gefühls soll bestehen können, dann bedarf sie der Freiheit.

Denn auf ‘natürliche’ Weise mag das individuelle Nutzenkalkül begründet und einsichtig sein, doch schon die Frage, was für mich und andere gleichermaßen nützlich sein soll, setzt Verschiedenheit und damit freie Individuen voraus – es sei denn, die Nützlichkeit wäre von ewig her, mit fast schon naturrechtlicher Kraft beschlossene Sache.44

Was in naturrechtlicher Hinsicht der Kultur voranzustellen ist, das scheint Hume in die Immanenz der Kultur selbst ziehen zu wollen; doch ohne eine vor- oder außerkulturelle Instanz muss der Nutzen zum kruden Selbstzweck werden. Soll er das gerechte Maß sein, dann bleibt die Gerechtigkeit selber maßlos, was sich insbesondere beim Konzept des unparteilichen Beobachters, des ‘allgemeinen Gesichtspunktes’ deutlich zeigt: Er soll zwar die kulturelle Ordnung intern stabilisieren, indem er das Ganze des gesamtgesellschaftlichen Nutzens dadurch kalkuliert, dass er die verschiedenen Nützlichkeits-Einheiten entsprechend portioniert und miteinander harmonisiert. Seine Funktion bleibt jedoch nicht nur prekär, weil ihm die widerstreitenden und nicht zuletzt auch eigenen Nutzenkalküle dabei im Wege stehen. Vielmehr bleibt unklar, warum und wie der ‘allgemeine Gesichtspunkt’ in der Paradoxie seines partikular gebundenen und bewirkten Interesses am Nicht-Partikularen, seinem allemal interessierten Desinteresse überhaupt soll bestehen können. Wäre er hingegen frei, so könnte er die ehernen, wie mit naturgesetzlicher Strenge wirkenden Notwendigkeiten, vielleicht nur für einen

44 Den Widerstreit zwischen Konkurrenz und Sympathie hat Adam Smith versucht, in einer Art Distanzierung der widerstreitenden Positionen zu entschärfen. Die eine findet sich in seiner Abhandlung über den Wohlstand der Nationen, die andere in seiner Theorie der ethischen Gefühle; hier stehen neben der Sympathie der Gerechtigkeitssinn und die Gesetzlichkeit, dort stehen neben der Konkurrenz der Eigennutz (Sparsamkeit). Zur Vermittlung bieten sich entweder das Instanz des ‘unparteilichen Beobachters’ oder die ‘unsichtbare Hand’ des Marktes an, mit anderen Worten: aus der Sicht der Ethik die Forderung nach mehr, aus der Sicht des Wohlstands nach weniger Staat. – Allerdings kommt es bei Smith, ähnlich wie bei John-Stuart Mill, zu einer sehr viel stärkeren Betonung der individuellen Freiheit. Darauf gehe ich hier nicht weiter ein; es sollte nur das grundsätzliche Problem einer an Nützlichkeit orientierten Gerechtigkeit deutlich werden. Dennoch: Ob Freiheit

Moment, distanzieren. Nur so könnte die Zustimmung in irgendein Prinzip des menschlichen Zusammenlebens einsichtig sein; sie wäre so frei, immer wieder überprüft, gegeben oder verweigert werden zu können. Einsicht ist nicht nur Einsicht vorgefundener Notwendigkeiten – mögen sie auch plausibel sein wie der Nutzen.