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5 Freiheit und Verantwortung

5.2 Die Freiheit des Einzelnen: Sorge, Angst, Nichts

In ihrer allgemeinen Form zeigen sich Zugänglichkeit, konkrete Möglichkeit und Offenheit als Beschreibungen der Freiheit; sie sind allerdings noch vage und es fehlen die konkreten Anschlüsse. Ein Allgemeinbegriff der Freiheit scheint immerhin einer liberalen Position entgegenzukommen, der zufolge alle Menschen ungeachtet ihrer individuellen und habituellen Ausstattung einen Rechtsanspruch auf freie Selbstbestimmung besitzen und der zufolge die Allgemeingültigkeit der individuellen Freiheitsrechte unhintergehbar ist. In der Tat kann der Sinn oder gar der Wert liberaler und demokratischer Rechte nicht im Namen der Freiheit bezweifelt werden. Dennoch gilt es festzuhalten, dass Freiheit wesentlich keine Eigenschaft von Personen ist, sondern in Handlungs- und Lebenszusammenhängen erschlossen wird, also in einem Zusammenhang entsteht, der mit anderen geteilt wird und von dem her individuelle Zuschreibungen genauso wie generelle Ansprüche erst verständlich werden. Die Zuteilung allgemeiner Freiheitsrechte reicht nicht aus, man muss sie auch verstehen, um sie tatsächlich in Anspruch nehmen zu können. Dieser Hinweis auf das praktische Verständnis der Freiheit kommt in gewisser Weise einer kommunitaristischen Position entgegen, der zufolge gemeinschaftliche, also mit anderen geteilte Lebensformen den liberalen Grundrechten erst den konstruktiven (deliberativen) Sinn einer kollektiven Selbstbestimmung verleihen und der zufolge gemeinsam praktizierte und insofern allgemein gültige Werte die Anerkennung individueller Freiheiten ermöglichen.

Gleichwohl bedeuten selbst innerhalb überschaubarer ‘communities’ die gelebten Sittlichkeits- oder Tugendformen keine starre und homogene Allgemeinheit. Freiräume können zwar nicht beliebig verlassen oder gewechselt werden, ohne die eigenen Handlungsmöglichkeiten mehr oder weniger nachhaltig zu irritieren, doch erschließen sich im Handeln unvermeidlich auch neue Möglichkeiten, die eine Wertegemeinschaft herausfordern und unablässig verändern.

Der hier vorgeschlagene Allgemeinbegriff der Freiheit unterläuft die Alternative zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Gegenüber der einen Position betont er das je schon praktische Verständnis, gegenüber der andern die prinzipielle Offenheit der

Freiheit; die Freiheit ermöglicht das Individuum wie das Kollektiv gleichermaßen. In pragmatischer Perspektive ist die Freiheit, die ich nur meinen und verstehen kann, von dieser Welt, sie ist mir nur in ihr und durch sie erschlossen: Sie ist nicht so sehr in mir begründet, als vielmehr eine handelnd erschlossene und lebensweltlich geteilte Dimension des Zugangs, des konkret Möglichen und der Offenheit; zugleich muss ich, um frei zu sein, mir etwas zugetraut und zugemutet haben, das mir nicht von selbst zukommt. Dieser durchaus heroische, fast schon tragische Sinn der Freiheit gibt durchaus Anlass zu Missverständnissen, vor allem dann, wenn er insgeheim auf ein souveränes Selbst verweisen soll, auf ein Drama der Freiheit, das zwischen kalkuliertem Selbstverlust und Selbstgewinn spielt und wie in den abgekarteten Bahnen einer Odyssee verläuft. Dennoch stellt sich im Sinne der liberalen Intuition die Frage nach der Autorität der ersten Person, danach, auf welche Weise und von wem die Freiheit verstanden wird, wie sie also ‘zu Bewußtsein kommt’ und damit auch zu einer individuellen Bestimmung und Verantwortung führt. Ohne den hier scheinbar unvermeidlichen Rückgriff auf eine intellektualistische Fundierung, bietet die „im deutschsprachigen Raum früheste Konzeption eines konsequenten Pragmatismus“206, nämlich die von Martin Heidegger in Sein und Zeit vorgelegte Phänomenologie der menschlichen Freiheit, eine erste Antwort. Diesem attraktiven, dem eigenen Vernehmen nach nicht bewusstseinsphilosophischen Angebot, werde ich mich jetzt ausführlich zuwenden.

Heideggers Untersuchung geht vom „phänomenologischen Aufweis des Seins des nächstbegegnenden Seienden“ aus und „bewerkstelligt sich am Leitfaden des alltäglichen In-der-Welt-seins, das wir auch den Umgang in der Welt und mit dem innerweltlichen Seienden nennen. Der Umgang hat sich schon zerstreut in eine Mannigfaltigkeit von Weisen des Besorgens. Die nächste Art des Umgangs ist [...] aber

206 Carl Friedrich Gethmann, „Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit“ in: Annemarie Gethmann-Siefert u. Otto Pöggeler (Hg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a.M.

1988, S. 143. Meine Erörterung verdankt den Ausführungen Gethmanns wichtige Anregungen. – Zum

‘impliziten Pragmatismus’ vgl. ansonsten Karl-Otto Apel, „Wittgenstein und Heidegger. Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik“, in: ders., Transformationen der Philosophie. Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1973, und vor allem Carl Friedrich Gethmann, „Vom Bewußtsein zum Handeln. Pragmatische Tendenzen in der Deutschen Philosophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts“, in: H. Stachiowak (Hg.), Pragmatik. Bd. 2: Der Aufstieg des pragmatischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 1987, sowie Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a.M. 1988. Zum ‘ontologischen

nicht das nur noch vernehmende Erkennen, sondern das hantierende, gebrauchende Besorgen, das seine eigene ‘Erkenntnis’ hat.“207 Heideggers Untersuchung nimmt also ihren methodischen Anfang bei der ganz und gar alltäglichen Praxis, in der sich das menschliche Dasein immer schon vorfindet. Die Sphäre des Handelns ist fundamental, aus ihr ergeben sich alle weiteren Bestimmungen. In diesem Sinne soll auch die ‘eigene Erkenntnis’, von der hier die Rede ist, nicht in einer dem Handeln vorausgehenden intellektuellen Instanz gründen, die aus unvordenklicher Freiheit über den gebrauchend-hantierenden Umgang entscheidet und ihn anleitet. Vielmehr entfaltet sich die ‘eigene Erkenntnis’ im alltäglichen Handeln, und zwar entlang einer besonderen Art von Zweck-Mittel-Relation, die Heidegger ‘Umsicht’ nennt: Der Umgang „ist nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Dinghaftigkeit verleiht. Der Umgang mit Zeug unterstellt sich der Verweisungsmannigfaltigkeit des ‘Um-zu’. Die Sicht eines solchen Sichfügens ist die Umsicht.“208 Mit anderen Worten, der alltägliche Umgang ist in eine Umsicht eingebettet, die als eine Art Verstehen das innerweltliche Seiende nicht als etwas versteht, also im Sinne einer methodisch fixierten und reflexiv kontrollierten Wahrheit, sondern die sich auf etwas versteht, also einen tätigen und gelingenden Vollzug bezeichnet.209 Die Umsicht lässt sich noch nicht als das praktische Wissen eines

‘gewusst wie’ beschreiben, das sich vom theoretischen Wissen eines ‘gewusst dass’

absetzt; die Umsicht ist vorerst nichts weiter, als in einer für sie alltäglichen, also unproblematischen Weise erfolgreich, insofern der Umgang mit seinen ‘zuhandenen’

Dingen (‘Zeug’) vertraut ist.210

Pragmatismus’ vgl. zuletzt Robert Brandom, „Heideggers Kategorien in ‘Sein und Zeit’“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 45/4, Berlin 1997.

207 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, S. 66f.

208 Ebd., S. 69.

209 Diese Verwendung des Begriffs des Verstehens findet sich in der Formulierung: ‘Er versteht sich gut auf das Segeln’ Ein solches Verstehen können wir mit Heidegger hermeneutisch nennen; es weist durchaus die prädizierende Form des ‘etwas als etwas verstehen’ auf, wird jedoch ergänzt durch ein ‘um zu’. Vgl. dazu und zum apophantischen Verstehen in der ‘Aussage’ ebd., S. 158.

210 Im diesem Zusammenhang übrigens legt auch Heidegger den Begriff ‘Pragmatismus’ nahe: „Die Griechen hatten einen angemessenen Terminus für die ‘Dinge’: pragmata, d.i. das, womit man im besorgenden Umgang (praxis) zu tun hat. Sie ließen aber ontologisch den spezifisch ‘pragmatischen’

Charakter der pragmata im Dunkeln und bestimmten sie ‘zunächst’ als ‘bloße Dinge’. Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug.“(Ebd., S. 68).

Zum alltäglichen Dasein gehört des weiteren etwas, das Heidegger ‘Stimmung’ nennt.

Sie „macht offenbar, ‘wie einem ist und wird’“211, sie offenbart, mit anderen Worten,

‘wie es einem geht’ und füllt das ganze Befinden des Menschen in einer bestimmten Lebenssituation aus. Stimmungen sind deshalb nicht mit Affekten zu verwechseln, denn während diese auf einzelne Sachverhalte reagieren, die einem positiv oder negativ betreffen, umfassen jene die ganze Situation, in der sich jemand befindet. Stimmungen haben insofern auch keinen genau angebbaren propositionalen Gehalt, sondern zeichnen sich durch einen offenen Situationsbezug aus: „Der ungestörte Gleichmut ebenso wie der gehemmte Mißmut des alltäglichen Besorgens, das Übergleiten von jenem in diesen und umgekehrt, das Ausgleiten in Verstimmungen sind ontologisch nicht nichts, mögen diese Phänomene als das vermeintlich Gleichgültigste und Flüchtigste im Dasein unbeachtet bleiben. Daß Stimmungen verdorben werden und umschlagen können, sagt nur, daß das Dasein je schon immer gestimmt ist.“212 Dem so oder so gestimmten Dasein ist die Welt und das innerweltliche Seiende, mit dem es seinen alltäglichen Umgang hat, im Lichte seiner Stimmung erschlossen, sei es als entgegenkommend oder abweisend, als lästig, langweilig oder schal, als bedrückend oder erbaulich, als freundlich, einladend etc. Kurzum: Die Stimmung gehört zur grundlegenden Erschlossenheitsweise des In-der-der-Welt-seins. Ohne sie gäbe es für den innerweltlichen Umgang keinen Anhalt; das Handeln wäre nicht in seine Welt eingelassen und bliebe schlicht orientierungslos. Die Zweck-Mittel-Relation ist insofern nicht das einzige Charakteristikum des umsichtigen Handelns, es bedarf immer auch einer erschließenden „Angewiesenheit auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann.“213 Was hier begegnet, geht das Handeln immer nur in dieser oder jener Stimmung etwas an. Sie gehört zur „ursprünglichen Seinsart des Daseins“ und ist „ihm selbst vor allem Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen“.214

Die Umsicht bezeichnet sowohl in Bezug auf den erfolgreichen Umgang in der Welt als auch in Bezug auf die welterschließende Stimmung die elementare Vollzugsform der Handelns. Sie ist deswegen aber nicht, in Opposition zur Theorie, bloß praktisch;

211 Ebd., S. 134.

212 Ebd.

213 Ebd., S. 138.

214 Ebd., S. 136.

vielmehr bedeutet sie eine vorgängige Vertrautheit und Erschlossenheit. Auf der Ebene dieser naht- und fugenlosen Verständlichkeit der Welt sind Unterscheidungen wie die zwischen einem ‘Ich’ und der ‘Welt’, einem ‘Subjekt’ und einem ‘Objekt’, einer

‘Theorie’ und einer ’Praxis’ oder einem ‘Sein’ und einem ‘Sollen’ noch gar kein Thema.215 Heidegger bezeichnet mit der Umsicht ein elementares Verstehen, das nicht als eine noumenale Instanz, sondern als ein kognitives Moment vollkommen in den alltäglichen Weltvollzügen des Menschen aufgehoben ist. Gleichwohl kommt es auf dieser Ebene zu thematisierenden Akten, Heidegger nennt sie ‘Auslegung’: „Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst [...] Das Zuhandene kommt ausdrücklich in die verstehende Sicht.“ In der Auslegung artikuliert sich das umsichtige Verstehen im Sinne einer unproblematischen Selbst-Verständlichkeit, die folgende Form haben kann: „Auf die umsichtige Frage, was dieses bestimmte Zuhandene sei, lautet die umsichtig auslegende Antwort: es ist zum ...“216 Anders gesagt: In ihrer sprachlichen Form kann sich die Auslegung auf umsichtige, ganz selbst-verständliche, beiläufige und unproblematische Weise als Frage-Antwort-Relation strukturieren; innerhalb dieser responsiven Struktur ist etwas thematisch, ohne problematisch zu sein.217 Dies gilt allerdings nur solange, bis die nächst höhere Stufe des Verstehens erreicht ist, Heidegger nennt sie ‘Aussage’.

Durch sie wird vom umsichtigen, ausschließlich störungslosen und erfolgsgewohnten

215 Vgl. ebd., § 12., insb. S. 59.

216 Beide Zitate ebd., S. 148f; kursiv von mir, C.S.

217 Auf die in einer zentralen Hinsicht problematischen Strukturmomente der ‘Auslegung’ (‘Vorhabe’,

‘Vorsicht’, ‘Vorgriff’) werde ich nicht weiter eingehen: Wie schon bei der Erläuterung des ‘umsichtigen Umgangs’ unterschätzt Heidegger in eklatanter Weise auch hier die Sprachlichkeit des Verstehens. Er scheint nahe legen zu wollen, dass überhaupt erst im Modus der ‘Auslegung’ dem Verstehen eine Sprache zuwächst. Dabei hat Heidegger zuvor schon auf die Zeichenhaftigkeit des verstehenden In-der-Welt-seins hingewiesen, die „zu einer universalen Beziehungsart formalisiert werden [kann], so daß die Zeichenstruktur selbst einen ontologischen Leitfaden abgibt für eine ‘Charakteristik’ alles Seienden überhaupt.“ (Ebd., S. 77) Zwar schränkt Heidegger den Charakter des Zeichen-Verstehens als bloß

„formal-allgemein“ (ebd.) ein, doch macht dies methodologisch keinen Sinn, weil die Heideggersche Existenzialhermeneutik selbst nur ‘formalanzeigend’ sein kann und will. Diese Inkonsistenz einmal beiseite, nehme ich die angeführten Formulierungen des ‘umsichtigen Fragens’ und der ‘umsichtig auslegenden Antwort’ so auf, dass bereits auf der umsichtig-umgänglichen Elementarebene das Verstehen sprachlich ist, nämlich im Sinne gestellter Fragen und gegebener Antworten. Meine – wohlwollende – Interpretation geht also davon aus, (a) dass dem menschlichen Dasein auf der elementaren Ebene des umsichtig-umgänglichen Weltverstehens die Sprache gar nicht problematisch und insofern auch nicht thematisch (‘bewusst’) sein muss, und (b) dass es hier neben der Sprache im engeren Sinn auch die Sprache der Gesten, der Mimik etc. gibt, wobei der einen wie der anderen Sprache gemeinsam ist, responsiv strukturiert zu sein. Ich komme im nächsten Kapitel darauf zurück.

Umgang mit dem innerweltlichen Seienden abgesehen. Die Aussage zeigt auf ein Einzelnes, indem sie es ‘von ihm selbst her sehen lässt’, sie bestimmt das insofern Besonderte, indem sie es ‘prädizierend’ von anderem unterscheidet, und schließlich teilt sie ihre Erkenntnis mit, indem sie andere ‘mitsehen’ lässt, sich für sie und mit ihnen gemeinsam, also in Allgemeinheit ausspricht: „Aussage ist mitteilend bestimmende Aufzeigung.“218

In Heideggers pragmatischer Bestimmung des Verhältnisses von Handeln und Erkennen zeigt sich dieses als ‘abkünftiger Modus’, als abgeleitet aus dem umsichtig auslegenden Umgang, mit anderen Worten: als ein in dem alltäglichen In-der-Welt-sein des Menschen fundierter Sonderfall. Erst mit der Aussage kommt etwas in den ausdrücklichen und absichtsvollen, also intentionalen und reflektierenden Gebrauch, was sich zuvor, etwa in der unproblematischen Responsivität des innerweltlichen Besorgens, wie von selbst ergab. Die Aussage als Modus einer enthobenen Erkenntnis ist in einem gewissen Sinne freigesetzt, auch wenn, wie Heidegger einschränkt, ihr distanzierter Zustand nicht lange anhalten muss: „Allein das Aussetzen einer spezifischen Hantierung im besorgenden Umgang läßt die sie leitende Umsicht nicht als einen Rest zurück. Das Besorgen verlegt sich dann vielmehr eigens in ein Nur-sich-umsehen zurück. Damit ist aber noch keineswegs die ‘theoretische’ Haltung der Wissenschaft erreicht. Im Gegenteil, das mit der Hantierung aussetzende Verweilen kann den Charakter einer verschärften Umsicht annehmen als ‘Nachsehen’, Überprüfen des Erreichten, als Überschau über den gerade ‘still liegenden Betrieb’ [..., so] daß die verweilende, ‘betrachtende’ Umsicht ganz dem besorgten, zuhandenen Zeug verhaftet bleibt.“219 Darüber hinaus betont Heidegger, dass sich die aussagende Erkenntnis nicht selbst befreit, sondern erst dann aus dem umsichtigen Umgang mit den Dingen befreit wird, wenn es hier zu nachhaltigen „Störungen“ oder „Brüchen“220 kommt. Das ist vorerst immer dann der Fall, wenn sich die Mittel oder Dinge des alltäglichen Hantierens in dreifacher Hinsicht als unbrauchbar erweisen, entweder durch ihre Beschädigung oder durch ihr Fehlen, oder durch ihre Sperrigkeit.221

218 Ebd., S. 156.

219 Ebd., S. 357f.

220 Ebd., S. 74 u. 75.

221 Vgl. ebd., § 16.

Erst aufgrund von Störungen kommt es zu den kognitiven und operativen Tätigkeiten des Erforschens möglicher Ursachen, zur ‘objektivierenden’ Erkenntnis und schließlich zur Störfallbeseitigung. Überdies können sich diese Tätigkeiten auch zu einem

komplexen Arrangement aus methodisch kontrollierten Störfallbeseitungsinstrumentarien fortentwickeln, mithin zur Wissenschaft.222 Damit hat

Heidegger in pragmatischer Perspektive nicht nur gezeigt, dass und wie es zu einer in der menschlichen Handlungssphäre fundierten Erkenntnis kommen kann, sei sie nun in Gestalt eines praktischen oder eines theoretischen Wissens. Vielmehr ist jetzt auch vorgezeichnet, dass und wie ein aus dem Handeln hervorgegangenes und dem Handeln enthobenes Wissen zu einem Wissen von sich selbst werden und insofern als frei gelten kann: Als freies Bewusstsein seiner selbst steht es ihm einerseits frei, sich über seine praktische Bedingtheit hinwegzusetzen und sich zu einer Art Selbstbewusstsein zu ermächtigen, das wie ein absolutes Wissen oder wie ein sich selbstmächtig ergreifendes Subjekt über alles zu verfügen meint; anderseits stellt diese Art grenzenloser Freiheit nur einen Sonderfall dar, weil das menschliche Dasein in seinem Selbstverhältnis auf grundlegende und nichthintergehbare Weise von seiner handelnd erschlossenen Welt abhängig bleibt. Diesen Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdbezug bezeichnet Heidegger als ‘Sorge’. Damit ist kein aufgeregtes, furchtsames Besorgtsein-um gemeint, sondern das im menschlichen Handeln unvermeidliche Sorge-tragen-für, ein sich-kümmern-um. Die Sorge um sich und in Bezug auf die Welt verweist darauf, dass es für das menschliche Handeln kein Bedarf gäbe, wenn der Mensch nicht auf etwas angewiesen wäre, über das er nicht seit je her verfügt.223

Die Struktur der Sorge, also der Selbst- und Fremdbezug des menschlichen Daseins, verweist auf die fundamental welterschließende Bedeutung des Handelns. In dieser pragmatischen Ausrichtung versteht Heidegger die Sorge als Gegenbegriff zu dem, was traditionell ‘Bewusstsein’ genannt wird.224 Als Konsequenz dieser Konzeption ist festzuhalten, dass Verbindlichkeiten, Verpflichtungen und nicht zuletzt auch die

222 Carl Friedrich Gethmann, „Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit“, a.a.O., S. 153, führt dazu aus: „Erst Störungen der kommunikationsgestützten Kooperationen führen zur Aussonderung von Gegenständen im Sinne von ‘Objekten’. Wissenschaften sind gemäß dieser Konzeption kognitive und operative Störfallbewältigungsinstrumente.“ Zum Konzept einer ‘existenzialen Wissenschaft’ vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 69b.

223 Vgl. ebd., S. 180ff.

224 Vgl. Carl Friedrich Gethmann, Verstehen und Auslegung. Das Methodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers, Bonn 1974, S. 127ff.

Verantwortung für ein Handeln in der Unvermeidlichkeit des Handelns selbst begründet sind: Nur im Handeln kann etwas als verbindlich oder verpflichtend erschlossen und nur handelnd kann das Dasein seiner Verantwortung gerecht werden. Zugleich ist festzuhalten, dass der Mensch nicht souverän über sich selbst verfügt, sondern sich als Handelnder in einer Situation vorfindet, in sie ‘geworfen’ ist: Er mag seine freie Absichten haben, die Zwecke und die seiner Meinung nach geeigneten Mittel wählen, doch als aktual Handelnder kann er nicht bereits schon die Realisierung dieser Zwecke sein. Das menschliche Dasein bleibt in seiner Existenz, also im Entwerfen seiner eigenen Möglichkeiten, auf seine Faktizität angewiesen, also auf den Umstand, dass es sich zwar zu sich selbst verhält, aber sein Selbstverhältnis ihm entzogen ist, insofern es dieses Selbstverhältnis nicht initiiert, sondern sich als dieses Selbstverhältnis immer schon vorfindet – und zwar nachdem es zu ‘Störungen’ oder ‘Brüchen’ in der Sphäre des Handelns gekommen ist. Das Dasein ist also nicht schlechthin autonom, sondern als entwerfendes durch seine Geworfenheit bestimmt: „Das Dasein existiert faktisch“, wie Heidegger bündig formuliert.225 Die Doppelstruktur von existenziellem Entwurf und faktischer Geworfenheit bildet nun die Grundlage für die Bestimmung der menschlichen Freiheit. Dabei greift Heidegger trotz des ‘gleichursprünglichen’ Verhältnisses zwischen Existenz und Faktizität nur auf die existenzielle Seite des menschlichen Daseins zurück, um zu erklären, in welchem Sinne es sich als frei verstehen kann: Das sich in seinen Lebensvollzügen verstehende Dasein entdeckt den Sinn seiner Existenz nur im

„eigensten Seinkönnen“, in der „Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist.“226

Der offenkundige Vorzug des existenziell Möglichen soll unterstreichen, dass das menschliche Dasein weder in Ansehung einer ‘unwandelbaren’ Natur noch eines

‘höheren’ Gesetzes, noch eines umfassenden Systems existiert, sondern ausschließlich um seiner selbst willen; es ist ganz kantianisch ‘Zweck an sich’ und verbindlich ist ihm nur, wozu es sich um seinetwillen entschließt.227 Allerdings bleibt die Frage, worin die

225 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 181.

226 Ebd., S. 193; ‘existenzielle’ kursiv von mir, C.S.

227 Vgl. Carl Friedrich Gethmann, „Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit“, a.a.O., S.

158f: „Mit der Selbstbezüglichkeit des Daseins als Umwillen des Handelns bewegt sich Heidegger in einem pragmatischen Schema, daß vor allem Kant mit der Charakterisierung des Menschen als ‘Zweck an

eigensten Möglichkeiten bestehen, wozu sich das Dasein eigentlich entschließt, wenn es sich zu sich selbst entschließt. Heidegger gibt folgende Antwort: „Zur Entschlossenheit

eigensten Möglichkeiten bestehen, wozu sich das Dasein eigentlich entschließt, wenn es sich zu sich selbst entschließt. Heidegger gibt folgende Antwort: „Zur Entschlossenheit