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3 Die Gegenwart der Gerechtigkeit

3.2 Gerechtigkeit als Sphärentrennung

Die liberale Neigung, bei der Begründung gerechter Prinzipien den konkreten Lebensverhältnissen und -umständen eher weniger Beachtung zu schenken, ist seit jeher,

63 Zur Stabilität vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, a.a.O., S, 539ff., 565ff. u. 580ff.

aber jüngst aus kommunitaristischer Perspektive kritisiert worden.64 So verweist Michael Walzer, trotz seiner Sympathien für die liberalen Prinzipien von Rawls, auf die unhintergehbare Voraussetzung der lebendigen und gelebten Gemeinschaft. So gesehen, ist gerechtes Handeln oder Urteilen nur in gemeinschaftlichen Zusammenhängen und aufgrund gemeinsam geteilter Wertvorstellungen möglich. Die kontextuelle Bindung und die in ihr situierte Urteilskraft reichen allerdings nicht aus. Es bedarf zudem einer

„Kunst der Trennung“ in verschiedene Lebensbereiche; nur so kann ein Optimum an Freiheit verwirklicht werden, wie Walzer im Rekurs auf die seit dem Mittelalter bestehende Autonomie der Universitäten und die neuzeitliche Sphärentrennung von Staat und Kirche erläutert.65 Mithin hängt von der geschickten Grenzziehung gesellschaftlicher Sphären auch der demokratische Fortbestand einer Gesellschaft ab.

Extrem große Vermögensunterschiede können zu Zwängen, zu Befehls- und Gehorsamstrukturen führen und die Kapitalkonzentration wird schließlich auch die Staatsgewalt, mindestens aber die bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte kassieren.66 Hegemonie zerstört alle konkreten wie partikularen Lebensgemeinschaften und damit auch das Wertefundament menschlichen Zusammenlebens. Walzer sieht die vornehmliche Aufgabe des Staates eben darin, über die Einhaltung der Trennungen zu wachen, aber auch für ihre Revision zu sorgen, wenn durch sie die Freiheit bedroht ist.

Dem Schutz der staatlichen, also politischen und rechtlichen Sphäre kommt insofern ein gewisser Vorrang zu; Bürgerrechte sind fundamental.

Politische Gemeinschaften haben dabei ihre Freiheit nicht nur gegen andere zu verteidigen, sie haben im Sinne ihres freiheitlichen Selbstverständnisses auch die Verpflichtung, all jenen Einlass und Zuflucht zu gewähren, die aus politischen oder anderen Gründen verfolgt werden. Darüber hinaus ist es geboten, überflüssige

64 Vgl. direkt dazu Michael Sandel, Liberalism and the limits of justice, Cambridge 1982; außerdem:

Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (1981), Frankfurt/New York 1987; Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (1985), Frankfurt a.M. 1988. Auf die mit diesen Namen verbundene Debatte (zu nennen wären auch Benjamin Barber, Amitai Etzioni oder Martha C. Nussbaum) zwischen den

‘Kommunitaristen’ und den durch Rawls prototypisch vertretenen ‘Liberalismus’ gehe ich nicht weiter ein.

Vgl. dazu sehr treffend Albrecht Wellmer, „Bedingungen einer demokratischen Kultur. Zur Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen“, in: Micha Brumlik u. Hauke Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993.

65 Vgl. Michael Walzer, „Liberalismus und die Kunst der Trennung“, in: ders.: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, S. 38: „Der Liberalismus ist eine Welt von Mauern, und jede erzeugt eine neue Freiheit.“

66 Vgl. ebd., S. 50.

Ressourcen an Reichtum und Land mit denen zu teilen, die darüber nicht verfügen und gerade deshalb in ihren Freiheiten eingeschränkt sind. Der Staat ist allerdings nicht allzuständig, er hat sich in weltanschaulichen Fragen zurückzuhalten; so gilt die Eigenständigkeit der religiösen Sphäre. Auch die verwandtschaftlichen Beziehungen und die Liebe zumal, aber auch die Freizeit bilden ihrerseits eigene Sphären, die es zu wahren gilt. Walzers Projekt der Sphärentrennung erblickt in der partikularen Vielfalt moderner Gesellschaften nicht so sehr den Verlust ehemals sicher geglaubter Einheit, als vielmehr die Möglichkeit zu gerechter Verteilung von Gütern und Zuständigkeiten.

Bei aller Betonung für die Verschiedenheit muss allerdings, wo verteilt werden soll, auch verglichen werden – und wo verglichen wird, ist irgendeine Form der Gleichheit im Spiel. Walzer unterscheidet in den Sphären der Gerechtigkeit zweierlei Formen: zum einen die simple Gleichheit, die nichts anderes meint, als identifizierende, uniformierende und letztlich tyrannisierende Gleichmacherei; zum anderen die komplexe Gleichheit, die den verschiedenen Lebensumständen und Begabungen zwar angemessen ist, jedoch der Dominanz und der Konzentration von ökonomischem, sozialem oder politischem Kapital Einhalt gebieten soll. So darf ein politisches Amt keinen ökonomischen Vorteil mit sich bringen und niemanden daran hindern, sich ebenfalls für dieses Amt zu bewerben.67

Die Verhinderung unangemessener Vorteile, bedingt durch Herkunft, Verdienst oder bloß Glück, ist der Kern von Walzers Theorie der Gerechtigkeit. Er entwirft eine durch ausgleichende Momente korrigierte Verteilungsgerechtigkeit. Nur wenn der stets drohenden Vorherrschaft von Macht und Geld klare Grenzen gezogen werden, können sich die menschlichen Gemeinschaften als Orte konkret gelebter, in der Familie, dem Kegelklub, am Arbeitsplatz oder bei anderen öffentlichen Betätigungen eingeübter Sittlichkeit erhalten. Nur eine intakte Lebenswelt, eine sittliche Gemeinschaft schafft die stabilen Bedingungen für ein soziales und politisches Gemeinwesen. Der Gerechtigkeit kommt insofern konstitutive Bedeutung zu, ihre staatliche Durchsetzung kann allerdings, im Sinne ‘komplexer Gleichheit’, nur regulativ sein. Insgesamt wichtig bleibt, dass ein politisches und soziales Gemeinwesen nicht durch die Vorherrschaft einer gesellschaftlichen, insbesondere der ökonomischen Sphäre zugrunde geht. Vor diesem Hintergrund wird Walzer drei allgemeine Prinzipien der Wohlfahrtsstaatlichkeit

67 Vgl. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit (1981), Frankfurt a.M./New York 1992, S. 46 ff.

fordern: „Prinzip I: Jede politische Gemeinschaft muß den Bedürfnissen ihrer Mitglieder in der ihnen von allen gemeinsam beigelegten Bedeutung nachkommen. Prinzip II: Die zur Verteilung gelangenden Güter müssen gemäß den Bedürfnissen verteilt werden.

Prinzip III: Die Verteilung muß die allen zugrundeliegende Gleichheit der Mitgliedschaft anerkennen und bewahren.“68

Nun birgt gerade die hier zugrunde gelegte ‘Mitgliedschaft’ einige Probleme, weil sie immer wieder Streitigkeiten und Brüche im sozial-politischen Gefüge provozieren muss.

Innerhalb eines Gemeinwesens gibt es vielerlei Mitgliedschaften und Sphären, die nicht unbedingt miteinander verträglich sind; jede einzelne Mitgliedschaft geht auf eine sphäreninterne Gerechtigkeit zurück, die sich nicht umstandslos in eine externe Perspektive übersetzen lässt. Und so bleibt Walzer nur die Forderung, dass eine

„Gesellschaft, um gerecht zu sein, diesen Differenzen Rechnung tragen [muß], indem sie einerseits institutionelle Kanäle für ihre Artikulation schafft und anderseits rechtliche Entscheidungsverfahren [adjudicative mechanisms] und alternative Verteilungsformen entwickelt.“69 Die vielen Gerechtigkeitsgemeinschaften, ob nun politische oder unpolitische Vereinigungen der Bürger, bedürfen der Vermittlung durch die Öffentlichkeit und die staatlichen Institutionen; umgekehrt dürfen ihnen die partikularen Gerechtigkeiten nicht einfachhin untergeordnet werden. Die soziale Wirklichkeit entspricht keinem platonischen Modellstaat, keinem Kunstwerk, sondern ist rissig und in ihrem Bestand immer nur vorläufig: Die Differenz, die Vielheit und die Zersplitterung ist das „Vehikel der Demokratie“.70 Deswegen auch ist die Gerechtigkeit ihrem Inhalt nach „kein absoluter, sondern ein relativer Begriff, dessen je konkreter Inhalt in Relation steht zu bestimmten sozialen Zielen und Sinngehalten.“ 71 Mit diesem pragmatischen, auf Durchsetzung, Verteidigung und Bewährung zielenden Schluss, steht die Gerechtigkeit unsicher wie eh und je da. Walzers Verständnis der Gerechtigkeit hat einen Preis, „den Preis beständiger Wachsamkeit.“72

68 Ebd., S. 134. Für diese Aufzählung gilt die Beschränkung Walzers auf us-amerikanische Verhältnisse.

69 Ebd., S. 441.

70 Michael Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, a.a.O., S. 233.

71 Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 440.

72 Ebd., S. 448. Vgl. zur ‘Durchsetzung’ und ‘Verteidigung’ der Gerechtigkeit Michael Walzer, Gibt es den gerechten Krieg? (1977), Stuttgart 1982, sowie ders., Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik (1987), Berlin 1990, S. 43ff; zur Konzeption und ‘Bewährung’ insbesondere universalistischer Gerechtigkeitsprinzipien vgl. dens., Lokale Kritik – globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Hamburg 1996, S. 139ff.