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In der Wissenschaftsgeschichte hat der Begriff der Raumaneignung und das damit verbundene Aneignungskonzept eine lange Tradition. Was genau jedoch unter Aneignung verstanden wird, ist oftmals nicht ganz eindeutig zu erklären. Der Begriff wird in der Wissenschaft sowohl sehr widersprüchlich als auch vielschichtig verwendet (vgl. Braun 2004:

19).

Im folgenden Kapitel wird deswegen der wissenschaftliche Ursprung des Aneignungskonzepts nachvollzogen und eine Verbindung zwischen Aneignung, Raum und Lebenswelt hergestellt.

In weiterer Folge werden unterschiedliche Dimensionen des Aneignungskonzepts beschrieben und fünf sozialräumliche Aneignungsdimensionen nach Ulrich Deinet vorgestellt.

Im letzten Teil dieses Kapitels wird der Zusammenhang zwischen Raumaneignung und dem Raumbezug radikalisierter Menschen erläutert. Es wird auf die Fragestellung eingegangen, welche Aneignungsmöglichkeiten radikalisierte Menschen haben.

2.2.3.1. Ursprünge des Aneignungskonzepts

In den 1930er-Jahren entwickelten Alexei Leontjews und seine Mitarbeiter*innen den tätigkeitstheoretischen Ansatz der kritischen Psychologie. Aus dieser Theorie zieht das Aneignungskonzept seine Grundüberlegungen und kann heute als „[...] tätige Auseinandersetzung des handelnden Subjekts mit der Umwelt“ (Deinet 2002: 34) beschrieben werden. Laut Leontjews wird Aneignung dabei weniger als psychischer Prozess gesehen, also als eine Entwicklung, die von außen auf den Menschen wirkt. Vielmehr wird das Aneignungskonzept als aktive Auseinandersetzung des Subjekts mit der Umwelt gesehen (vgl.

Winkler 2017: 10).

Dem Begriff der „Gegenstandsbedeutung“ wird eine zentrale Rolle von Alexei Leontjews zugeschrieben. Der sowjetische Psychologe beschreibt damit zum einen den Prozess der Vergegenständlichung, bei dem Menschen und Gegenstände durch produktive Arbeit verbunden sind. Zum anderen sieht er die Verarbeitung von (vor allem) Kindern und

29 Jugendlichen von einer vergegenständlichten Umwelt und ihrer Bedeutung (vgl. Deinet 2002:

34f).

Der Begriff der „Gegenstandsbedeutung“ beschreibt also die „[...] Vergegenständlichung gesellschaftlicher Erfahrungen, die im Aneignungsprozess erschlossen werden muss“ (Deinet 2014b: 11). Aneignung stellt Leontjews zufolge die individuelle Seite gegenseitlicher Produktionsprozesse dar (vgl. Winkler 2017: 10). Auch die beiden Sozialwissenschaftler Ulrich Deinet und Christian Reutlinger haben sich mit dem Aneignungsprozess bei Kindern und Jugendlichen auseinandergesetzt und definieren Aneignung wie folgt:

„Aneignungsprozesse können als spezifische Formen der Territorialisierungen von Kindern und Jugendlichen aufgeschlossen werden, und es gilt diese in Bezug zu den anderen gesellschaftlichen Akteur/innen zu setzen. Die in Räumen bzw. räumlichen Bedingungen (im Sinne von physisch-materiellen, sozialen und subjektiven Rahmenbedingungen des Handelns) eingelagerten gesellschaftlichen Bedeutungen werden im Aneignungsprozess entschlüsselt, Räume umgedeutet und damit ist ‚Aneignung‘ auch als Bildungsprozess im Raum zu verstehen, ausgehend von einem breiten Bildungsverständnis“ (Deinet, Reutlinger 2004: 8).

Deinet und Reutlinger sehen im Aneignungsprozess also auch einen Bildungsprozess, der auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen im Umgang mit anderen Menschen abzielt. Zudem können durch Aneignungsprozesse Handlungsräume geschaffen werden und eine Erweiterung des Verhaltensrepertoires entwickelt werden. Aneignung führt dazu, dass Menschen sich in der Gesellschaft zurechtfinden und die Möglichkeiten dieser nutzen können (vgl. ebd.: 177f).

Deinet und Reutlinger sehen in räumlichen Aneignungsprozessen folgende Qualitäten:

• „eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt,

• (kreative) Gestaltung von Räumen durch Symbole etc.,

• Inszenierung, Verortung im öffentlichen Raum (Nischen, Ecken, Bühnen) und in Institutionen,

• Erweiterungen des Handlungsraumes (die neuen Möglichkeiten, die in neuen Räumen liegen),

• Veränderung vorgegebener Situationen und Arrangements,

• Erweiterung motorischer, gegenständlicher, kreativer und medialer Kompetenz,

• Erprobung des erweiterten Verhaltensrepertoires in neuen Situationen

• Entwicklung situationsübergreifender Kompetenzen“ (Coelen, Otto 2008, zit. n.

Deinet 2008: 727).

Um eine Verbindung zwischen Raum, Aneignung und Lebenswelt zu schaffen, müssen sozialökologische Theorieansätze berücksichtigt werden. Deinet beschreibt die häufige Auseinandersetzung mit fehlenden Räumen in Städten, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Die fehlende Einbindung der räumlichen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen führt dazu, so Deinet, dass das Aneignungskonzept mit sozialökologischen Theorien verknüpft werden muss (vgl. ebd.: 727). Nur so kann erforscht werden, „[...] wo und wie Aneignungsprozesse stattfinden und wodurch diese behindert bzw. gefördert werden“

(Winkler 2017: 11).

30 Deinet geht davon aus, dass konkrete gesellschaftliche Verhältnisse, so wie sie von Kindern und Jugendlichen erlebt werden, ausschließlich räumlich vermittelt werden. Gesellschaften produzieren Raum, welcher von gesellschaftlichen Strukturen geprägt ist. Innerhalb dieses Raums können Aneignungsprozesse stattfinden. Die vorher erwähnte Gegenstandsbedeutung findet sich in den geschaffenen Räumen wieder, denn hier zeichnen sich Kategorien und Strukturen einer Gesellschaft ab (vgl. Deinet 2014b: 23f).

Der individuelle Aneignungsprozess steht immer im direkten Zusammenhang mit der Umwelt bzw. der Lebenswelt und ihren Möglichkeiten. Aneignung und Lebenswelt beeinflussen sich direkt und müssen in einer wechselwirkenden Beziehung gesehen werden. Der gesellschaftlich konstruierte Raum stellt den Rahmen dar, in dem Aneignung, Lebenswelt und lebensweltliche Möglichkeiten agieren und „[...] ist, entsprechend der Struktur der kapitalistischen Gesellschaften auch ein Raum, der durch kodifizierte Regelungen, Machtbefugnisse, Herrschafts- und Eigentumsansprüche verregelt ist“ (Deinet 2014b: 24).

2.2.3.2. Dimensionen der Aneignung

Der Sozialwissenschaftler Ulrich Deinet veröffentlichte im Jahr 2014 eine überarbeitete Version des Aneignungskonzepts, in dem er „Mensch-Umwelt“-Auseinandersetzungen in der menschlichen Entwicklung thematisiert. Im Mittelpunkt seines Beitrags stehen fünf sozialräumliche Aneignungsdimensionen, die sich aus einer handlungsorientierten Perspektive ableiten lassen und die die bereits erwähnten Qualitäten von räumlichen Aneignungsprozessen als Fundament haben. Deinet sieht die Aneignung als Erweiterung motorischer Fähigkeiten als erste sozialräumliche Aneignungsdimension und geht dabei auf die motorische Fähigkeit im Umgang mit bestimmten Gegenständen und Werkzeugen ein.

Angelehnt an die Gegenstandsbedeutung von Leontjews bezieht sich diese Dimension auf die Anwendung von Gegenständen und Werkzeugen in neuen und ungewohnten Situationen (vgl.

Winkler 2017: 12).

Als zweite Dimension sieht Deinet die Aneignung als Erweiterung des Handlungsraumes.

Besonders Kinder und Jugendliche setzen sich ständig mit der Erweiterung ihres Handlungsraumes auseinander und können sich im Laufe dieses Prozesses unterschiedliche Kompetenzen aneignen.

„Die Erweiterung des Handlungsraumes steigert Handlungskompetenz und persönliche Kompetenzen wie Risikoabschätzung, Neugier und Offenheit. Die Chancen, solche Kompetenzen zu entwickeln, werden wesentlich geprägt durch die Struktur der jeweiligen Lebenswelten und die Möglichkeiten des Individuums, sich seine Lebenswelt anzueignen“ (Coelen, Otto 2008, zit. n. Deinet 2008: 727f).

Heutige Strukturen wie beispielsweise die Durchfunktionalisierung vieler Lebensbereiche erschweren den Erweiterungsprozess enorm. Mit der Erweiterung des Handlungsraumes ist Deinet nach die Einbeziehung und Nutzung neuer und bisher unbekannter Räume gemeint und die gleichzeitige, damit verbundene, Aneignung vielschichtiger Kompetenzen (vgl. Winkler 2017: 12f).

31 Die dritte Dimension sozialräumlicher Aneignungsprozesse stellt die Aneignung als Veränderung von Situationen dar. Deinet beschreibt die gewonnenen Fähigkeiten vorheriger Situationserfahrungen, die in weiterer Folge als Handlungskompetenzen in neuen Situationen dienen können. Im Zusammenhang mit erfahrenen Situationen wird die Fähigkeit der Veränderung von Situationen als Handlungskompetenz gesehen. Strukturelemente von gewissen Situationen, Themen einer Situation oder die Umgebung von Situationen sollen auf Grund von vorherig häufig erlebten Situationen nach Belieben verändert werden können. Die Möglichkeit zur Veränderung nimmt im Aneignungsprozess eine besondere Rolle ein, da eigentätige und selbstbestimmte Aneignung im individuellen Erfahrungsraum immer mehr abnehmen (vgl. ebd.: 13). Um die vierte und fünfte sozialräumliche Aneignungsdimension beschreiben zu können, bedarf es vorerst einem kleinen Exkurs in die Raumsoziologie von Martina Löw. Die deutsche Soziologin beschreibt im Jahr 2001 in einem wissenschaftlichen Beitrag den dynamischen Raumbegriff. Löw beschreibt ein Raumverständnis, welches nicht von einem absolutistischen Gedanken geprägt ist und sieht Raum nicht als etwas Gegebenes.

Ganz im Gegenteil formuliert Löw einen Raumbegriff, der die Trennung von Subjekt und Raum sieht und Raum als etwas versteht, dass aus der Interaktion von Menschen entsteht (vgl. Löw 2001: 103f). Löw vertritt den Standpunkt, dass an einem physischen Ort unterschiedliche Räume entstehen können. Räume werden geschaffen, indem sie von Menschen Zuschreibungen und Bedeutungen erhalten. Die Art und Weise wie Menschen Raum durch ihr Handeln gestalten, trägt zur Schaffung eines Raumes bei. Im Sinne eines relationales Raumverständnis geht Löw davon aus, dass Raum geschaffen wird und ordnet diesen Prozess dem Begriff des „Spacing11“ zu (vgl. ebd.: 104).

„Raum konstituiert sich demnach zum einen durch das Platzieren von Menschen und Gütern, es geht dabei um das Errichten, Bauen und Positionieren von Menschen, Waren und Landesgrenzen“

(Winkler 2017: 13).

Zum anderen wird Raum durch sogenannte Syntheseleistungen geschaffen. Für Löw wird Raum immer über Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprozesse konstituiert, diese Prozesse tituliert Löw als Syntheseleistungen (vgl. Löw 2001: 104).

Die Aneignung als Verknüpfung von Räumen wird von Deinet als vierte Dimension gesehen. Der Sozialwissenschaftler bezieht sich auf die Raumsoziologie von Martina Löw und sieht in den Syntheseleistungen eine wichtige sozialräumliche Aneignungsdimension. Das Schaffen von Räumen durch Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprozesse nennt Deinet die Aneignung als Verknüpfung von Räumen (vgl. Winkler 2017: 13).

Als letzte Dimension wird die Aneignung als Spacing gesehen. Aufbauend auf einem relationalen Raumverständnis entstehen Räume, indem Menschen und Güter in Beziehung zueinanderstehen und agieren.

„Spacing als Errichten, Bauen oder Positionieren ist der erste Teil des räumlichen Konstitutionsprozesses. Eine bedeutendere Rolle wird jedoch den Syntheseleistungen (Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse) zugeschrieben, weil sie erst die Räume konstituieren und abgrenzen. Der gesamte Konstitutionsprozess wird durch räumliche

11 Wird im Laufe des Kapitels ausführlicher beschrieben.

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Strukturen als Regeln und Ressourcen, Geschlechtsspezifik, Abweichung und soziale Ungleichheit mehr modifiziert als mitbegründet“ (Löw 2001: 104).

In der Raumsoziologie von Martina Löw wird menschliches Handeln als Prozess gesehen, weshalb eine Gleichzeitigkeit zwischen Spacing und Syntheseleistungen besteht (vgl. Winkler 2017: 13). Die fünf sozialräumlichen Aneignungsdimensionen beschreiben die Wichtigkeit von Aneignungsprozessen in individuellen Lebenswelten. Aneignung kann Kompetenzen erweitern und Handlungsräume schaffen.

„Analog zu Leontjews Gegenstandsbedeutung, bei der es ja nicht um tote Gegenstände, sondern um deren Bedeutung im gesellschaftlich-historischen Prozess geht, bedeutet die Verbindung von Aneignung und Raum, dass es weniger um die Räume selbst geht, sondern mehr um die Möglichkeiten, die in Räumen liegen“ (Deinet 2014b: 68).

Eine Berücksichtigung der entsprechenden Lebenswelt ist demnach immer notwendig, um Menschen und menschliches Handeln verstehen zu können. Menschliches Handeln agiert immer im räumlichen Kontext und ist demnach raumgebunden (vgl. Winkler 2017: 14).

Die sozialraumorientierte Soziale Arbeit sieht ihren Grundgedanken in der These, dass die Aneignung von Räumen zu neuen Stärken, Chancen und Möglichkeiten führen kann und versucht durch Aneignungsprozesse individuelle Handlungsfreiräume zu schaffen. Es müssen Räume geschaffen werden, „[...] in denen Individuen sich selbst und die Wirksamkeit ihrer Handlungen erfahren können“ (ebd.: 14). Die Abhängigkeit von Mensch und Raum muss thematisiert und gemeinsam erforscht werden. Die herrschende Wechselbeziehung muss auch bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheiten und Problemlagen berücksichtigt werden (vgl. Deinet 2014b: 68f).

Das Aneignungskonzept und die daraus abgeleiteten sozialräumlichen Aneignungsdimensionen von Deinet sind ein wichtiger Beitrag um sozialräumliche und handlungstheoretische Perspektiven verstehen zu können. Diese Perspektiven beziehen sich auf ein relationales Raumverständnis und können mit subjektorientierten Zugängen verbunden werden. Wichtig ist der Blickwinkel auf die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Lebenswelt und die daraus resultierenden Entwicklungen, Chancen und Möglichkeiten (vgl.

Winkler 2017: 14).

Die ausgearbeiteten fünf sozialräumlichen Aneignungsdimensionen nach Deinet werden im folgenden Kapitel in Bezug zu radikalisierten Menschen, bzw. Menschen, die radikalisierungsgefährdet sind, gesetzt. Anhand von gesellschaftlichem „Standing“ und räumlichen Aneignungsmöglichkeiten für diese Menschen wird bewertet, inwieweit Aneignung auch als Ressource für Menschen gesehen werden kann, die (oftmals) mit gesellschaftlichem Ausschluss konfrontiert sind. Hierfür werden theoretische Grundüberlegungen unter anderem von Henri Lefebvre herangezogen um den Zusammenhang der individuellen Raumaneignung und radikalisierten Menschen herzustellen.

2.2.3.3. Raumaneignung radikalisierter Menschen

Schon im 20. Jahrhundert stellte der marxistische Soziologe Henri Lefebvre fest, dass Raum weder als „Subjekt“ noch als „Objekt“ gesehen werden kann. Lefebvre sieht den Raum als gesellschaftliche Wirklichkeit und betont damit, dass Raum als Ergebnis konkreter (materieller)

33 Produktionsprozesse gesehen werden muss. Diese Prozesse müssen laut Lefebvre im Kontext historischer Produktionsverhältnisse analysiert werden. „‘Raum‘ wird produziert, und es gilt, diesen produktiven Prozess zu erfassen“ (Schmid 2010: 204).

„Eine erste Annäherung ergibt folgende Herleitung: Lefebvre identifiziert einerseits einen

‚physischen Raum‘, der sich durch seine Materialität auszeichnet. Wie [...] gezeigt hat, ist dieser Raum allerdings kein (materielles) Objekt, kein Raum ‚an sich‘ – eine solche Vorstellung würde einem naiven Materialismus entsprechen, den Lefebvre explizit ablehnt. Dem steht anderseits ein

‚mentaler Raum‘ gegenüber, ein durch die Theorie bestimmter Raum, der nur in der Vorstellung existiert. Doch wer sich allein auf diesen ‚Raum‘ bezieht, verfällt im Verständnis von Lefebvre einem reinen Idealismus. Der Dualität dieser beiden ‚Räume‘ stellt er deshalb einen gleichzeitig materiellen wie dialektischen Begriff entgegen: den ‚sozialen Raum‘, der sich im weitesten Sinne auf die gesellschaftliche Praxis bezieht" (ebd.: 209).

Mit dieser These stellt sich Lefebvre gegen die bisherige vorherrschende Vorstellung über den Raum. „Es gibt kein Raum vor der Praxis, der Raum an sich, als universelle Kategorie, existiert nicht“ (ebd.: 204). Lefebvre ist einer der ersten Wissenschaftler*innen, die davon ausgehen, dass Raum nicht als Gegebenheit der „Natur“ oder „Kultur“ gesehen werden kann, sondern er vertritt den Standpunkt, dass Raum als historisches Produkt gesehen werden muss (vgl.

Hamedinger 1997: 192ff). Aus diesen Überlegungen leitet sich Lefebvres zentrale Ausgangsthese ab – der soziale Raum ist ein soziales Produkt. Weiters sieht Lefebvre die Produktion immer als einen gesellschaftlichen bzw. kollektiven Prozess (vgl. Schmid 2010:

204). Man kann also festhalten, dass Raum als Produktionsprozess gesehen werden kann, der aus gesellschaftlichen bzw. kollektiven Praktiken gebildet wird. Führt man diesen Gedanken weiter, so kommt ziemlich schnell die Frage auf, wer genau Raum produziert.

„Es geht darum, den sozialen Raum zu beschreiben, der von einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte ‚ausgefüllt‘ oder okkupiert wird. Wenn davon ausgegangen werden kann, daß jede Gesellschaft ihren eigenen Raum kreiert (als Design oder Form) und produziert (als Inhalt oder Materialität), dann hängt diese soziale Ausgestaltung des Raumes vom jeweiligen Produktionsmodus und den Produktionsverhältnissen, sowie von den sozialen Reproduktionsverhältnissen, die die soziale, ethische Fundierung der Produktion darstellen, ab“ (Hamedinger 1997: 180).

Die Produktion von Raum muss im historischen Kontext und als ein langer geschichtlicher Prozess gesehen werden, in dem Strukturen und Machtverhältnisse entstanden sind.

Bestimmte Plätze und Orte wurden im Laufe der Geschichte religiös oder politisch konnotiert, um Machtverhältnisse zu entwickeln und zu etablieren. Auf Grund der Tatsache, dass das menschliche Dasein schon immer räumlich war und ist, muss festgehalten werden, dass Raum eine Vorbedingung und ein Resultat sozialer Strukturen ist (vgl. ebd.: 180f).

Daran anknüpfend stellt der Geograph Bernd Belina fest, dass die Produktion von Räumen kein unkontrollierbarer Prozess ist. Räume können bewusst produziert werden und „[...] als Mittel von Ausbeutung, Herrschaft, Kontrolle oder Unterdrückung strategisch eingesetzt werden [...]“ (Belina 2013: 85). Gesellschaftliche Praxis führt demnach zur Produktion von Räumen. Diese Räume sind ebenfalls, wie die bestehende Gesellschaft, von Strukturen und Machtverhältnissen gekennzeichnet und eröffnen ungleiche Aneignungsmöglichkeiten für unterschiedliche Akteur*innen. Nicht gleichmäßig verteilte Aneignungsmöglichkeiten von

34 Räumen führen zu einer nicht gleichgewichtigen Verteilung von Handlungsfreiräumen und stützen ungleiche Machtverteilungen in Räumen. Während einige Menschen vollen Zugriff auf Räume haben und Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden, haben andere Menschen keinen Zugriff und keine räumlichen Handlungsmöglichkeiten. Strukturelle Benachteiligung, Diskriminierung und Rassismus lassen sich auch in geschaffenen, sozialen Räumen wiederfinden und führen dazu, dass räumliche Aneignungsprozesse nicht stattfinden können bzw. erschwert werden (vgl. Biesel 2007: 87ff).

Gleichzeitig lassen sich auch negative Zuschreibung von Menschgruppen, in Räumen wiederfinden, die räumlich reproduziert werden können. Die räumliche Reproduktion von Zuschreibung fördert sowohl Fremd- als auch Selbstzuschreibung. Raumschaffende Prozesse laufen immer Gefahr, Verallgemeinerungen und Abwertungen gegenüber bestimmten Menschengruppen zu reproduzieren und damit die räumliche Exklusion gewisser Menschen zu fördern (vgl. Kessl, Reutlinger 2007: 123f).

Wie in Kapitel 2.1.2. bereits erwähnt, sind die Ursachen einer islamistischen Radikalisierung multifaktoriell. Verschiedene soziale Problemlagen können in weiterer Folge zu Teilhabebeschränkungen, Gestaltungseinschränkungen und Exklusion aus der Mehrheitsgesellschaft führen. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff der Selbstverwirklichung eine besondere Rolle. Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft wenig Teilhabechancen und Gestaltungsmöglichkeiten haben, haben oftmals nicht die Chance sich selbst zu verwirklichen. Dieser Prozess lässt sich auch in ein sozialräumliches Denken übertragen. Menschen, die wenig Möglichkeiten haben, sich soziale Räume anzueignen, haben wenig Handlungsfreiräume und somit auch wenig sozialräumliche Gestaltungsmöglichkeiten (vgl. Deinet, Reutlinger 2004: 213ff).

„Die Chancen der sozialräumlichen Aneignung von Kindern und Jugendlichen stehen aber in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den ‚räumlichen Ordnungen der Gesellschaft‘, die in ihrer Beschaffenheit und Zugänglichkeiten sowie in ihren Begrenzungen und in Nutzungsdefinitionen gesellschaftliche Bedingungen abbilden“ (Krisch 2005: 338).

Gesellschaftliche Strukturen wie Diskriminierung tragen bei vielen Menschen dazu bei, dass sie sich der Mehrheitsgesellschaft nicht zugehörig fühlen und der Wunsch nach Selbstverwirklichung nicht erfüllt werden kann. Soziale Räume nehmen oftmals diese gesellschaftlichen Strukturen an und reproduzieren diese. Demnach kann gesagt werden, dass Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft wenig Teilhabechancen haben, auch einer Benachteiligung in Bezug auf die sozialräumliche Aneignung ausgesetzt sind.

„Die sozialräumliche Dimension der Aneignung deutet darauf hin, dass Räume nicht als architektonische Hülsen verstanden werden können, sondern in ihnen auch gesellschaftliche Definitionen eingelagert sind, die auf Kinder und Jugendliche und deren subjektive Raumbestimmung wirken“ (Krisch 2005: 338).

Menschen, die sich islamistisch radikales Gedankengut angeeignet haben oder gefährdet sind, sich solch Gedankengut anzueignen, sind oftmals auch mit erschwerten räumlichen Aneignungsprozessen konfrontiert. Geht man davon aus, dass Ursachen einer islamistischen Radikalisierung, (in vielen Fällen) strukturell bedingt und durch gesellschaftliche Exklusion befördert werden, so kann man festhalten, dass ebendiese Menschen auch in räumlichen

35 Verhältnissen weniger Aneignungs- und Teilhabechancen haben. Im folgenden empirischen Teil dieser Arbeit werden sozialräumliche Faktoren untersucht, die zu einer Radikalisierung geführt und räumliche Aneignungsprozesse erschwert haben. Abschließend wird der Einflussgrad unterschiedlicher sozialräumlicher Kategorien im islamistischen Radikalisierungsprozess bestimmt.

36 3. Empirischer Teil