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3.3. Methodenwahl und -begründung

3.4.1. Das narrative Interview

3.4.1.1. Entwicklung des narrativen Interviews

Ende der 1970er-Jahre, entwickelte der deutsche Soziologe Fritz Schütz, das narrative Interview als eine neue Form der qualitativen Sozialforschung. Die Entwicklung des narrativen Interviews ist wiederum geprägt von vielen unterschiedlichen Einflüssen. Das narrative Interview ist geprägt von unterschiedlichen amerikanischen Ansätzen der Soziologie, „[...]

darunter die phänomenologische orientierte Soziologie nach Alfred Schütz, den aus der Chicago School und der Rezeption des Sozialphilosophen Georg Herbert Mead hervorgegangenen Symbolischen Interaktionismus, die Ethnomethodologie, die Konversationsanalyse sowie die Grounded Theory von Anselm Strauss und Barney Glaser“

(Küsters 2009: 18).

Grundlegende Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen Ansätze ist die Annahme, dass soziale Wirklichkeit erst durch kommunikative Interaktion hergestellt wird. Es wird davon ausgegangen, dass soziale Wirklichkeit nur besteht, wenn Handeln zwischen Gesellschaftsmitgliedern stattfindet. Soziale Wirklichkeit wird somit als Prozessgeschehen verstanden, die sich in jeder Interaktionssituation aktualisiert und aufs Neue ausgehandelt werden muss. Laut Schütze wird die soziale Wirklichkeit als ein „on-going-social-process“

gesehen, bei der kommunikative Interaktion sinnverstehend untersucht werden muss.

Besonders bei der Untersuchung von kommunikativer Interaktion können neue Regeln und Kernelemente bedeutend sein. Konstanten und Routinen in der sprachlichen Verständigung können unter soziologischem Blickwinkel von großer Bedeutung sein. Schütze betont, dass es ihm bei der Analyse von sprachlichen Interaktionen weniger um den Inhalt und somit das

„Was“ geht, vielmehr muss das „Wie“ analysiert werden. Wichtig sind, „[...] die in ihnen wirksamen Mechanismen der gegenseitigen Bezugnahme, der Inhaltskonstitution und Verweisung auf die gemeinsam geteilte soziale Wirklichkeit [...]“ (Küsters 2009: 18). Die

40 Kernfrage bilden die Zusammenhänge dieser drei Elemente, nämlich wie hängen das Handeln bzw. die das Handeln anleitende Orientierungsstrukturen der Gesellschaftsmitglieder, die sprachliche Interaktion und die hergestellte soziale Wirklichkeit miteinander zusammen. Unter methodologischer Perspektive lässt sich dies weiterdenken und führt zur Frage, welcher Zusammenhang zwischen tatsächlicher Handlung und der Äußerung des/r Befragten besteht.

„Die soziologische Analyse der Gesellschaft, die ja im Medium Sprache stattfindet und sich mit sprachlichen Interaktionen oder deren Materialisierungen in Texten befasst, gehorcht denselben basalen Verstehens- und Verständigungsregeln, wie sie die Gesellschaftsmitglieder in ihren alltäglichen Interaktionen anwenden. Die Wissenschaft muss diese Mechanismen auch deshalb kennen, um sie (und sich) objektivieren zu können und zu einem „methodisch kontrollierten Fremdverstehen“ zu gelangen“ (Küsters 2009: 19).

Diese theoretischen Grundannahmen können laut Flick als Fundament der qualitativen empirischen Sozialforschung verstanden werden und führen zu den drei grundlegenden Zielen qualitativer Forschung:

1. Die Erfassung subjektiver Sichtweisen,

2. die Erforschung der interaktiven Herstellung sozialer Wirklichkeit und

3. die Identifikation der kulturellen Rahmungen sozialer Wirklichkeiten (vgl. Flick 1996:

28ff).

Gemeinsame Hauptintention qualitativer Sozialforschung ist das Beschreiben von Lebenswelten. Ganz gleich, welche Perspektive eingenommen wird, muss das Beschreiben von „innen heraus“ stattfinden. Lebenswelten müssen aus der Perspektive der Individuen beschrieben werden. Die qualitative Sozialforschung orientiert sich hierbei an zwei Prinzipien:

Das Prinzip der Offenheit, bei dem zuerst eine Strukturierung durch die beforschten Subjekte erhoben und analysiert werden muss, bevor eine theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch Wissenschaftler*innen erfolgt. Das Prinzip der Kommunikation, bei dem es von besonderer Bedeutung ist, dass eine Erhebung bedeutungsstrukturierender Daten nur mit Hilfe einer Kommunikationsbeziehung zum Forschungsobjekt erfolgen kann. Das Prinzip der Kommunikation orientiert sich an den Kommunikationsregeln des Beforschten und nicht an denen der Wissenschaft.

Eine besondere Herausforderung bei der Auswertung qualitativer Daten besteht darin, dass die untersuchte soziale Wirklichkeit, immer in Subjektperspektive geschildert ist. Mangelnde Einbindung der/s Untersuchenden in die Interaktionsprozesse sowie interpretative und interaktive Prozesse stellen eine besondere Schwierigkeit dar.

Fritz Schütze entwickelte die Methode des narrativen Interviews als Reaktion auf die Kritik der bisherigen qualitativen Sozialforschung. Im Gegensatz zur standardisierten Befragung und Leitfadeninterviews bietet das narrative Interview ein neue Form der qualitativen Sozialforschung, bei der „[...] es in der Regel um Erlebnisse mit sozialwissenschaftlich interessierenden lebensgeschichtlichen, alltäglichen, situativen und/oder kollektiv-historischen Ereignisabläufen“ (Glinka 2009: 9), geht. Der/die Befragte sind in diese Erlebnisse verwickelt und werden als Expert*innen ihrer Lebenswelt gesehen. Der Vorteil des narrativen Interviews

41 ist die Möglichkeit der vollständigen Entfaltung der subjektiven Perspektive. Zudem können Themen, die mit Schuld und Scham belastet sind besser erforscht werden. Beim narrativen Interview wird der/m Befragten überlassen, wie weit das Forschungsthema ausgeschmückt wird. Gleichzeitig können „heikle“ Informationen durch Befragung in Erfahrung gebracht werden. Die Erzählung des/r Befragten stellt ein Wiedererleben der Situation dar und soll dazu führen, dass Erinnerungen möglichst umfassend und genau im Interview reproduziert werden (vgl. Küsters 2009: 18ff). Die Erfassung der subjektiven Wirklichkeit durch das narrative Interview beschreibt Schütze wie folgt:

„Das autobiographische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt möglich ist [...]. Das Ergebnis ist ein Erzähltext, der den sozialen Prozess der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich [...] darstellt und expliziert“ (Bernart, Krapp 2005: 37f).

3.4.1.2. Merkmale des narrativen Interviews

Wie schon im vorherigen Kapitel erwähnt, soll das narrativ Interview sozialwissenschaftlich interessierende lebensgeschichtliche und situative Ereignisabläufe erfassen. Wichtig ist, dass diese Ereignisse in Form einer „Stehgreiferzählung“ wiedergegeben werden (vgl. Küsters 2009: 24f). Die „Stehgreiferzählung“ setzt Folgendes voraus: Der/die Befragte hatte vor der Erzählung nicht die Möglichkeit, sich systematisch vorzubereiten und konnte sich keine beabsichtigte Erzählthematik vornehmen; Es war nicht möglich die Formulierungen der Erzählung vor dem Interview zu verschriftlichen oder zu kalkulieren; Die Erzählung muss in der Gesprächssituation neu ausgestaltet werden und darf nicht geplant oder eingeübt sein (vgl. Glinka 2009: 9).

Küsters zufolge ist die „Stehgreiferzählung“ durch unterschiedliche Elemente gekennzeichnet.

Sie spricht von vier „kognitiven Figuren“, die die Struktur der „Stehgreiferzählung“ bestimmen:

Erzählträger*in, Erzählkette, Situation und thematische Gestaltung.

1. Erzählträger*in: Ist Protagonist*in der Erzählung. Aus dieser Perspektive wird erzählt. Sie sind nahezu ident mit Ereignis- bzw. Handlungsträger. Sobald andere Ereignis- oder Handlungsträger eingeführt werden, lässt dies Auskunft über den Handelns- oder Erleidensmodus erschließen. Auch beim Zurücktreten dieser können Rückschlüsse bezüglich der Handlungsbeteiligung gezogen werden.

2. Erzählkette: Beschreibt das erzählte Prozessgeschehen, zergliedert in einzelne Phasen.

Die Erzählkette kann Hinweise zur Wahrnehmung des Beteiligten in Bezug auf Verlauf und Zusammenhang des geschilderten Geschehens geben. Bei unüberschaubarem und kompliziertem Vorgang können auch Nebenketten oder Kettenrisse entstehen.

3. Situation: Können Höhepunkte in der Erzählung sein. Besonders hohe Dichte an Kernpunkten des Prozesses kann für Situationen stehen. Werden oft durch direktes Zitat beschrieben, da sich der/die Erzähler*in besonders gut an die Situation erinnern kann.

Sind meist in einer Erzählkette gut erkennbar, da sie in der Erzählung durch Rahmenschaltelemente (z.b. „und dann“) hervorgehoben werden.

42 4. Thematische Gesamtgestalt: Beschreibt die Gesamtthematik des Erzählten und geht auf ihre Entwicklung aus der Sicht des Interviewten ein. Die thematische Gesamtgestalt typisiert die Geschichte und verleiht ihr eine Moral. In vielen Fällen wird sie zu Beginn und am Ende explizit formuliert (vgl. Küsters 2009: 26).

Handelndes oder erleidendes Erleben eines Prozessgeschehens wird durch die innere Wahrnehmung eines Prozesses im Beteiligten in Form der vier „kognitiven Figuren“

repräsentiert. Man spricht hier von Erfahrungs- oder Erlebnisaufschichtung. Laut Schütze kann davon ausgegangen werden,

„[...] dass man es bei der Erzählung von selbst erlebten Geschichten mit demjenigen Schema der Sachverhaltsdarstellung zu tun hat, das der Reproduktion der kognitiven Aufbereitung des erlebten Ereignisablaufs am nächsten kommt. Die Struktur der Erfahrung – so die These – reproduziert sich in der Struktur der Erzählung, während andere Formen der Sachverhaltsdarstellung – wie das Beschreiben oder das Argumentieren – in größerer Distanz zu dieser Erfahrung steht“ (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2014: 80).

Zudem darf ein aufmerksame/r Zuhörer*in nicht fehlen, welche/r den Inhalt des Erzählten noch nicht kennt. Dieser/m wird die Geschichte erzählt und auf Grund seiner Unkenntnis wird die Erzählweise entsprechend abgestimmt. Die vier kognitiven Figuren erzeugen

„Strukturierungszwänge“, damit die Erzählung konsistent erscheint. Bei der Erzählung werden Steuerungsmechanismen verwendet, die Schütze Zugzwänge des Erzählens nennt. Hierzu zählen: der Detaillierungszwang, der Gestaltschließungszwang und der Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang.

• Detaillierungszwang: Abfolge der Ereignisse muss eingehalten werden

• Gestaltschließungszwang: Kognitive Strukturen die erzählt werden, müssen auch geschlossen werden. Aufbau und Abschluss müssen vorhanden sein um kognitive Strukturen abzuschließen

• Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang: Aussagen und Situationen müssen ständig in Bezug zur Gesamtaussage gesetzt und gewichtet bewertet werden (vgl.

Kallmeyer 1977, zit. In Küsters 2009: 28).

3.4.1.3. Ablauf des narrativen Interviews

Das narrative Interview findet in der Regel in unterschiedlichen Phasen statt. Bevor die einzelnen Phasen beginnen, findet zunächst natürlich die Begegnung mit der/m Interviewpartner*in statt. Dies ist nach einer (meist) telefonischen Absprache der erste Kontakt zwischen Interviewer*in und Interviewpartner*in. Der Ablauf narrativer Interviews teilt sich in folgende Phasen:

Vorgespräch: Dem Vorgespräch wird im Ablauf eines narrativen Interviews, eine wichtige Rolle zugeschrieben. Im Vorgespräch geht es, nach dem ersten Kontakt, darum, eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Der/die Interviewer*in sollte eine Situation schaffen, in der sich der/die Interviewpartner*in ohne Misstrauen auf die Interviewsituation einlassen kann. Ein weiterer wichtiger Teil dieser Phase ist die Selbstpräsentation und die Präsentation des Forschungsvorhabens. Dieses sollte kurz erklärt werden jedoch die Schaffung einer Stehgreiferzählung nicht beeinträchtigen. Weitere wichtige Bestandteile des Vorgesprächs

43 sind die Zusicherung der Anonymität und die Bitte um eine Tonbandaufnahme (vgl. Küsters 2009: 55).

Erzählstimulus: Der Erzählstimulus beginnt in jedem Fall mit einer erzählgenerierenden Frage an den/die Interviewpartner*in. Dieser Stimulus oder auch „Erzählaufforderung“ zielt auf eine Erzählung eines temporär abgegrenzten Prozessgeschehens (vgl. Glinka 2009: 10ff).

Aushandlungsphase und Ratifizierung des Stimulus: Es kann vorkommen, dass der/die Interviewpartner*in nach dem Erzählstimulus sofort anfängt zu erzählen, den Ablauf des narrativen Interviews verstanden hat und einhält. In den meisten Fällen gibt es jedoch Zweifel, Unsicherheiten und Missverständnisse seitens der Interviewpartner*innen. In der Aushandlungsphase können noch mehrere Redner*innenwechsel vorkommen um Unsicherheiten zu klären bzw. die Erzählfrage zu wiederholen. Wichtig ist allerdings, dass die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit des Erzählens bei den Interviewpartner*innen vorhanden sind. Ein Vorgespräch ist hilfreich um diese Situationen schon im Vorhinein zu vermeiden und das Forschungsvorhaben explizit zu erläutern (vgl. Küsters 2009: 56f).

Haupterzählung: Oftmals benutzen Interviewpartner*innen das Werkzeug der

„Erzählpräambel“ bevor sie mit der eigentlichen Geschichte beginnen. Der/die Erzähler*in typisiert und bewertet in der „Erzählpräambel“ seine/ihre folgende Geschichte in der Gesamtheit. Hierbei kommt eine der vier kognitiven Figuren des Stehgreiferzählens zum Vorschein, nämlich die „thematische Gesamtheit“. Ein Beispiel für eine solche Präambel wäre ein Beginn mit: „Ich hatte kein leichtes Leben“. Die Erzählung wird von den Interviewpartner*innen frei gestaltet und sollte unter keinen Umständen unterbrochen werden.

Das Arbeiten mit Mimik, Nicken oder auch ein bestärkendes „Hm-Sagen“ sind während der Haupterzählung sehr zu empfehlen. Zudem kann in passenden Passagen der Blickkontakt gehalten werden. Während der Haupterzählung kann es häufiger zu längeren Erzählpausen kommen. Diese sollten ausgehalten werden. Lediglich bei sehr langen Pausen kann eine kurze Frage wie „wie ging es dann weiter?“ oder „was passierte in weiterer Folge?“ verwendet werden um die Erzählung wieder anzuregen. Der/die Interviewer*in sollte aufmerksam auf Lücken, thematische und formale Brüche, Erzählstümpfe etc. achten und sich diese auch notieren. In der Phase des immanenten Nachfragens kann auf diese Unklarheiten nochmal eingegangen werden. Sollten Interviewpartner*innen sich einem ratifizierten Thema abwenden und es ist absehbar, dass keine Rückkehr zum eigentlich Thema geschieht, so kann der Erzählfluss unterbrochen werden. Dies gilt auch für Fälle, bei denen ein Vorwissen vorausgesetzt wird, welches nicht vorhanden ist (vgl. Glinka 2009: 12ff).

Koda: In den meisten Fällen wird die Erzählung mit einer Koda beendet und die Rederolle wird der/m Interviewer*in zurückgespielt. Ein häufiger Schlusssatz ist beispielsweise „ja, da bin ich jetzt“ oder „Und jetzt ist jetzt“. Der/die Interviewer*in muss nicht sofort die Rederolle annehmen und los reden. Eine längere Pause oder ein Moment des Innehaltens ist oftmals angebracht und kann von der/dem Interviewer*in eingesetzt werden (vgl. Küsters 2009: 60f).

Immanente Nachfragephase: Nach dem Koda und dem Ende der Erzählung folgt das „Danke-Sagen“ für die Erzählung. Ist dies geschehen, so folgt eine Nachfragephase, die sich vor allem auf notierte Lücken, thematische und formale Brücken oder sonstige Auffälligkeiten bezieht.

Wichtig ist wiederrum, dass auch das Nachfragen erzählgenerierend stattfindet. Ziel ist es, Lücken zu schließen und bereits nicht vollständig Erzähltes abzuschließen. Fragewörter sollten in dieser Phase vermieden werden, da sie eher zu einer Argumentation statt zur Erzählung führen (vgl. ebd.: 60f).

Exmanente Nachfragephase: In dieser Nachfragephase besteht, aus der Sicht des Interviewers bzw. der Interviewer*in die Möglichkeit, selbst Themen einzubringen. Der/die

44 Interviewpartner*in kann auch gebeten werden, Beschreibungen oder Argumentationen von Situationen zu machen. Die exmanente Nachfragephase kann bis zu einem Leitfadeninterview ausgeweitet werden (vgl. Glinka 2009: 15ff).

Erhebung soziodemographischer Daten: Dies sollte nach der Nachfragephase stattfinden, da es in allen anderen Fällen den Erzählfluss stören bzw. reduzieren könnte. Die Verwendung einer Checkliste ist dabei ratsam.

Nachgespräch: Nach dem Erheben soziodemographischer Daten wird die Tonbandaufnahme abgeschalten und es empfiehlt sich, neuerlich zu danken. Im Anschluss kann ein weiteres Gespräch stattfinden. Dieses kann vom Small-Talk bis hin zur weiteren Vertiefung der behandelten Thematik reichen.

Interviewer*innenprotokoll: Der/die Interviewer*in kann mit Hilfe des Protokolls alle Auffälligkeiten, Eindrücke, und Vorgänge festhalten. Bewegungen und Gestikulation des/r Interviewpartner*in können ebenfalls notiert werden. Zudem können erste Überlegungen und Ideen schon auf dem Protokoll formuliert werden (vgl. Küsters 2009: 54ff).

3.4.1.4. Beschreibung des Interviewpartners und -situation

Der Kontakt zu Pedro konnte über den zuständigen Sozialarbeiter Fabian Reicher aufgebaut werden. Wie in Kapitel 3.5.1.1. Beschreibung der Interviewpartner*in und -situation genauer beschrieben, kennen sich der Interviewer und Fabian Reicher bereits. Fabian Reicher berichtet auf Anfrage des Verfassers dieser Masterarbeit von einem Klienten, der mehrere Jahre in der salafistisch-djihadistischen Szene aktiv war und bereit für ein Interview sei. Nachdem mehrere telefonische Vorgespräche stattfanden, fand das Interview schließlich am 7. Juni 2018 in einem Park in der Nähe des Kaiserwassers im 22. Wiener Gemeindebezirk statt. Der Interviewer war vor dem Gespräch nur im Besitz von Eckdaten und kannte weder Namen noch genauere biographische Informationen. Vor Ort trafen sich Fabian Reicher, der Interviewpartner wie auch der Interviewer. Es gab ein kurzes Vorgespräch und es wurde ein erster persönlicher Kontakt hergestellt. Der Interviewer erfuhr nun auch weitere biographische Informationen wie Name und Alter. Zur genaueren Beschreibung des Interviewpartners wurde eine Biographie von Pedro verfasst, die im Kapitel 3.4.2.1. Biographie Pedro vorgestellt wird.

Das Treffen erstreckte sich über einen Zeitraum von ca. 2,5 Stunden und fand in sehr angenehmer Atmosphäre statt. Obwohl sich Interviewer und Interviewpartner zum ersten Mal persönlich kennenlernten, konnte schnell eine Beziehung aufgebaut werden, die von Offenheit, Humor und Vertrauen geprägt war. Mit Zustimmung des Interviewpartners konnte das Gespräch aufgezeichnet werden. Zu Beginn des Interviews erklärte der Interviewer nochmals die Thematik und lud den Interviewpartner zu einer Stehgreiferzählung von erlebten Ereignissen ein. Pedro nahm diese Einladung wohlwollend an und erzählte ausführlich und sehr offen von seinen bisherigen Erfahrungen. Im Laufe des Gesprächs kam es öfters zu Ergänzungen von Fabian Reicher, die sich auf thematische und zeitliche Kontexte beschränkten. Es floss eine weitere Perspektive und Wahrnehmung des Erlebten mit ein.

Fabian Reicher ergänzte insbesondere in der ersten Nachfragephase, als die Stehgreiferzählung bereits abgeschlossen war. Angesichts der ersten und zweiten Nachfragephase konnten gewisse Erlebnisse nochmals thematisch vertieft und detailliert nacherzählt werden.

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3.4.2. Ergebnisse narratives Interview

3.4.2.1. Biographie Pedro

Pedro wuchs als zweitältester Sohn einer afghanischen Familie im 22. Wiener Gemeindebezirk auf. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er 19 Jahre alt. Pedros Eltern stammen beide aus Afghanistan, sein Vater war einst Staatsanwalt, die Beschäftigung seiner Mutter ist nicht bekannt. Aufgrund von islamistischem Terror durch die Taliban floh die Familie vor Pedros Geburt. Pedro hat noch einen älteren Bruder und eine Schwester, deren Alter nicht bekannt ist. Pedro ist in Wien zur Welt gekommen und besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft.

Nach der Volksschule kommt Pedro auf ein Gymnasium am Rande des 22. Wiener Gemeindebezirks. Dort hat er guten Kontakt zu seinen Mitschüler*innen, die zum größten Teil aus Österreich stammen. Dennoch wird Pedro von den Eltern und teilweise den Lehrer*innen als schlechter Einfluss für die anderen Kinder wahrgenommen. „...ich war sehr jung, aber die Eltern hatten trotzdem was gegen mich. Ich war Ausländer, so ich war ein schlechtes Einfluss für die Kinder, immer“ (vgl.: Transkript Interview 1, S.16). Obwohl Pedro sehr integriert war und sich auch heute noch mit Freunden aus dem Gymnasium trifft, wechselt Pedro die Schule.

Er gibt zwar niemandem die Schuld an seinem Schulwechsel und vor allem an seiner späteren Radikalisierung, dennoch glaubt er, man hätte diesen Schulwechsel eventuell verhindern können.

„...ich hab mich mit jedem super toll verstanden, viele hatten Vorurteile gegen mich und so.

Elternrat war gegen mich, das hab ich erst alles, das hab ich schon in der Zeit erlebt aber es juckte mich nicht. Es war...erst jetzt juckt es mich, wo ich mir dachte, ich war ein Kind, ich hatte, ich hatte nicht einmal, ich war zu der Zeit besser gesagt, man konnte mich zu der Zeit eigentlich retten.

Verstehst du was ich meine? In dem man mich abhaltet davon so Schule zu wechseln und so. Die Lehrer haben mir gesagt, „Ja, wechsel die Schule, ist besser für dich.“ Anstatt zu sagen, bleib in der Schule, wir unterstützen dich, wir helfen dir, wir machen was, wir schauen, dass du besser wirst. Nein, das haben sie nicht gesagt“ (Transkript Interview 1, S.16)

Pedro wechselte die Schule und kommt auf eine Hauptschule ebenfalls im 22. Wiener Gemeindebezirk. Er lernt neue Mitschüler*innen kennen, die zum großen Teil nicht aus Österreich stammen „Ich komm rein, klar Schule, Türken, Kurden, Afghanen, alles Mögliche, Serben, komplett anders,...“ (vgl. Transkript Interview 1, S.17). Auch hier kann er sich wieder gut integrieren. Durch seine Mitschüler*innen, kommt Pedro zum ersten Mal in Kontakt mit Marihuana. Zigaretten gehören ab nun zum Alltag.

Pedro betreibt viel Sport zu dieser Zeit und geht regelmäßig in den Boxverein. Auch hier kommt er mit neuen Menschen in Kontakt und lernt zudem über Freunde von Mitschüler*innen neue Freunde kennen. Die vierte Klasse auf der Hauptschule fällt Pedro nicht mehr so leicht und er muss sie wiederholen. Pedro ist jetzt der älteste Schüler auf der Schule und hat sich mittlerweile einen „Namen“ gemacht. Respekt spielt eine wichtige Rolle in der Zeit auf der Hauptschule. Seine zusätzlichen Boxerfahrungen helfen ihm ebenfalls seine Rolle als

„Gangsta“ einzunehmen.

46 Zu dieser Zeit verbringt Pedro viel Zeit mit „Landsmännern“, gemeint sind andere aus

46 Zu dieser Zeit verbringt Pedro viel Zeit mit „Landsmännern“, gemeint sind andere aus