• Keine Ergebnisse gefunden

Nicht nur die Ursachen für eine Radikalisierung, sondern auch der Verlauf dieser muss von Einzelfall zu Einzelfall betrachtet werden. Es gibt kein Muster, das eine klare Struktur für den Ablauf einer Radikalisierung vorgibt. Radikalisierung ist individuell und verläuft immer different.

Die Dauer ist variabel und kann über einen längeren oder auch einen kürzeren Zeitraum anhalten. Der Prozess kann phasenweise unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder fortgesetzt werden. Ursprung von Ideologisierung und späterer Radikalisierung ist laut ufug, dem Träger der freien Jugendhilfe in Deutschland, meist die Suche nach Anerkennung oder Zugehörigkeit (vgl. Ufuq 2015: 30).

Dennoch gibt es Elemente und Ähnlichkeiten, die in unterschiedlichen Radikalisierungsprozessen beobachtet werden können (vgl. Neumann 2013: 7). Menschen, die sich von gesellschaftlichen Verhältnissen abwenden und sich ungerecht behandelt fühlen, sehnen sich oft nach Identität und Zugehörigkeit. Radikale Gruppierungen bieten dieses Zugehörigkeitsgefühl und geben vielen Menschen die Möglichkeit einer neuen Identität. Das Individuum will seine Unzufriedenheit äußern und zeigen. Das Annehmen neuer Ideologien ist oftmals eine Form von Protest und Provokation. Der Protest soll den gesellschaftlichen Ausschluss und den persönlichen Frust ausdrücken. Ursachen dieser Exklusion sollen beim Namen genannt werden und so sehen Toprak und Weitzel die Desintegration als einen Ursprung islamistischer Radikalisierung. Der letztendliche Neubeginn und die Konvertierung bilden ein weiteres Element im Verlauf einer islamistischen Radikalisierung (vgl. Kaddor 2015: 60).

14 2.1.3.1. Identität und Zugehörigkeit

Besonders im jugendlichen Alter sind viele Menschen auf der Suche nach Orientierung und Freundschaften. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ist wichtig für den Menschen und ihr wird eine zentrale Bedeutung zugesprochen. Der Peer-Group oder dem Freundeskreis wird vor allem eine besondere Rolle in Bezug auf Sozialisations- und Bildungsprozesse zugeschrieben, da es innerhalb dieser Gruppe in den meisten Fällen Gemeinsamkeiten bezüglich Wahrnehmungen, Bewertungen und Deutungen gibt. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe schafft auch emotionalen Rückhalt, der es ermöglicht, Distanz zu Institutionen aufzubauen (vgl. Toprak, Weitzel 2017, zit. n. Scherr 2010: 82). Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund tritt das Verlangen nach Zugehörigkeit und der Prozess der Gruppenbildung ebenso auf und dabei kommt neben der gesellschaftlichen Umorientierung eine kulturelle hinzu. Persönliche Erfahrungen wie Diskriminierung tragen dazu bei, dass die eigene Situation im Spannungsfeld zwischen mehrheitsgesellschaftlichen Verhältnissen und eigenem kulturellen Erbe, er- und gelebt wird. Oftmals fehlen Ressourcen, die eigene Identität zu entwickeln und Zukunftsorientierung angemessen entfalten zu können. Menschen, die sich in dieser Phase der Orientierungslosigkeit befinden und sich nach Zugehörigkeit und Identität sehnen, sind besonders gefährdet, sich radikale Ideologien anzueignen. Der Salafismus stellt eine Gemeinschaft dar, in der jedes neue Mitglied freundlich aufgenommen wird und schon zu Beginn das Gefühl der Zugehörigkeit erlebt (vgl. Kaddor 2015: 61f).

2.1.3.2. Protest und Provokation

Wer sich die Geschichte von Protestbewegungen anschaut dem/der fällt auf, dass die meisten Protestbewegungen stattfanden, um bestehende gesellschaftliche Verhältnisse aufzubrechen und neue (meist liberale) Forderungen durchzusetzen. So kann man beispielsweise die Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine Protestbewegung sehen, die 1918 das Wahlrecht für Frauen erringen konnte. Die Forderung nach sexueller Freiheit war in der 1968er-Studentenbewegung ein zentrales Thema. Durch Protest konnten konservative gesellschaftliche Verhältnisse liberalisiert und enttabuisiert werden (vgl. Wien Geschichte Wiki 2018).

Der Salafismus kann als ein Phänomen wahrgenommen werden, das nicht ausreichend viele Menschen bewegt und deswegen nicht als soziale Protestbewegung gesehen werden kann.

Innerhalb der Subkultur jedoch hat der Salafismus das Potential, eine Protestbewegung sein zu können. Der Salafismus stellt eine Bewegung gegen Kommerz und Konsum dar. Er provoziert mit der Ablehnung aller modernen Errungenschaften und versucht den Islam aus dem 7. und 8. Jahrhundert in eine moderne, zivilisierte Gesellschaft zu übertragen. Besonders in westlichen Ländern funktioniert der Salafismus als Provokation besonders gut, da er sich gegen zwei wesentliche Errungenschaften westlicher Gesellschaften stellt: Aufklärung und Zivilisation sowie Geschlechterbilder.

Wie bereits beschrieben, versuchen Salafist*innen den Islam aus dem 7. und 8. Jahrhundert in die heutige Zeit zu übertragen. Die enge und strenge Auslegung des Islam stellt nicht nur eine Provokation für die Mehrheitsgesellschaft in westlichen Ländern dar, sondern provoziert auch moderne und progressive Muslim*innen weltweit, da sie von Salafist*innen nicht als

„wahre Muslim*innen“ anerkannt werden. Andersdenkende werden von Salafist*innen nicht wertgeschätzt und verachtet. Ihr äußerliches Erscheinungsbild mit langen Gewändern und

15 langem Haar ähnelt dem der Ur-Anhänger*innen des Islam und wird von vielen auch im öffentlichen Raum als Provokation wahrgenommen. Die stereotypen Geschlechterrollen scheinen sowohl in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft als auch unter vielen modernen Muslim*innen als (fast) abgeschafft. Gesellschaftliche Errungenschaften, die dazu geführt haben, dass Frauen mehr Rechte haben und ein selbstbestimmtes Leben führen können werden von Salafist*innen jedoch nicht anerkannt. Dass vor allem junge Mädchen und Frauen überholte, veraltete Geschlechterrollen wieder einnehmen und attraktiv finden, stellt für viele moderne und progressive Frauen eine besondere Provokation dar (vgl. Toprak, Weitzel 2017:

53ff).

2.1.3.3. Desintegration

Viele Studien zu Diskriminierung und Benachteiligung legen dar, dass vor allem junge Menschen mit Migrationshintergrund von ebendieser betroffen sind (vgl. Toprak, Weitzel 2017, zit. n. El-Mafaalani 2017: 78ff). Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund werden oft als Gruppe stigmatisiert und als homogen wahrgenommen. Häufig fehlt ein klares Zugehörigkeitsgehfühl zu einer der verwurzelten Kulturen. Dies kann zu einem Identitätsdilemma führen, indem Menschen in keiner der verankerten Kulturen Anerkennung erfahren.

„Als Konsequenz daraus kann ein Assimilierungsdruck entstehen, welcher einerseits die Normen, Werte und kulturellen Orientierungen der Elterngeneration in den Hintergrund rückt und auf der anderen Seite nicht die Anerkennung als in der Mehrheitsgesellschaft angekommen garantiert. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus kann Bildung einer negativen Identität kommen:

Minderwertigkeitsgefühle werden zu einem negativen Selbstbild verinnerlicht und abweichendes Verhalten wird zur Lösungsstrategie eines bewussten und unbewussten Identitätskonflikts“

(Toprak, Weitzel 2017: 55).

Dieser Identitätskonflikt kann zur Abwertung der vermeintlich „Schuldigen“ führen und bezieht sich in diesen Fällen meist auf die Mehrheitsgesellschaft. Man kann jedoch nicht verallgemeinernd sagen, dass der Zulauf zu salafistischen Gruppierungen nur aus Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund besteht. Ganz im Gegenteil, auch Menschen ohne Migrationshintergrund sind auf Grund von sozialer Herkunft und anderen Faktoren immer wieder Diskriminierung ausgesetzt. Auch hier kann sich ein negatives Selbstbild entwickeln und die Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft entstehen. Auf der Suche nach Orientierung und Identität finden sich in der salafistischen Szene Gleichgesinnte (vgl. ebd.: 55f).

2.1.3.4. Neubeginn und Konvertierung

Sich von gesellschaftlichen Verhältnissen abzuwenden und neue Ideologien anzunehmen bedeutet immer auch eine Art Neuanfang, neue Denkweisen, ein neues gesellschaftliches Umfeld und neue Überzeugungen. Der Salafismus bietet die Möglichkeit eines radikalen Neustarts. Im Salafismus spielt Vergangenes keine Rolle mehr und es ist jederzeit möglich, diesen (richtigen) Weg zu gehen. In muslimischer Tradition bietet die Umma8 Platz für jeden

8 Gemeinde

16 und jede. „[...] sie [die Umma] kennt keine Herkunft, kein Geschlecht, sie ist global strukturiert und findet für jeden einen Platz und eine Rolle“ (Toprak, Weitzel 2017: 56).

Die Eintrittskarte für ein neues Leben setzt lediglich eine Konvertierung voraus. Diese kann jedoch unbürokratisch und schnell an Infoständen oder öffentlichen Veranstaltungen vollzogen werden. Eine durchschnittliche Konvertierung dauert etwa 35 Sekunden. Einzig das Nachsprechen einer Formel ist dafür notwendig. Die Konvertierung und die damit verbundene Aufnahme in die Umma negieren alle bisherigen Probleme. Herkunftsbedingte, geschlechtsspezifische, sozialstrukturelle oder gesellschaftliche Benachteiligung sind in der Gemeinde nicht mehr aktuell. Zugehörigkeit und Orientierung werden von der Gemeinde geboten und von vielen Menschen dankend angenommen. In westlichen Ländern, darunter auch Österreich, kann die salafistische Szene als eine Art Sammelbecken beschrieben werden, in dem sich „Bildungsverlierer*innen“, aber auch Menschen mit guter Schulbildung, deren Anerkennung aber ausblieb, sammeln (vgl. ebd.: 56).

„Wenn Bildungsaufsteiger durch unterschiedliche Formen sozialer Ungleichheit nicht die notwendige Anerkennung und gleichberechtigte Partizipation an Ressourcen erlangen, sind sie ebenso anfällig für salafistische Ansprache. Gute Bildung scheint nicht das Allheilmittel zu sein, wenn die politische und gesellschaftliche Anerkennung fehlt (ebd.: 56).

2.1.3.5. Radikalisierungstendenzen in Österreich

In Österreich agierte bis 2017 die salafistische „Lies!“-Kampagne, die an öffentlichen Plätzen durch Koranverteilungsaktionen Aufsehen erregte. Ziel dieser Kampagne ist nicht nur die Verteilung des Korans, sondern auch, den Islam zugänglich zu machen und durch gezielte Propaganda neue Anhänger*innen zu gewinnen. Organisationen wie die „Lies!“-Kampagne zeigen in der Öffentlichkeit ein gesetzeskonformes Verhalten und vertreten eine gesellschafts- und demokratiekonforme Haltung. Ein Rückgang dieser Koranverteilungsaktionen ist derzeit zu verzeichnen. Dennoch gibt es andere „Missionierungsgruppen“, die sich in den letzten Jahren in Österreich entwickelt haben. Besonders die „Iman“ und die „Fitrah“-Gruppen stehen der salafistischen Szene nahe und agieren momentan in Österreich. Die „Iman“-Gruppe ist in Wien vertreten, während die „Fitrah“-Gruppe in Graz heimisch ist. Beide Gruppen verbreiten ihre Propaganda zunehmend über soziale Netzwerke wie Facebook und Youtube und agieren somit auch bundesweit. Laut Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 2017 werden diese Gruppen als gesellschafts- und sicherheitspolitisch bedenklich eingestuft, da sie „[...]

spaltende Tendenzen in der österreichischen Gesellschaft insgesamt und innerhalb der muslimischen im Besonderen fördern“ (BVT 2017: 45). Weiters werden diese Arten von Aktivitäten laut Verfassungsschutz als potentielles Einstiegsmodell für Radikalisierung gesehen (vgl. ebd.: 45).

Desweiteren können Justizanstalten als Räume gesehen werden, in denen Radikalisierung stattfinden kann. Die erlebte ungerechte Behandlung und soziale Dynamiken, die in Strafvollzuganstalten9 herrschen, können zu Radikalisierung bzw. zu erhöhtem Interesse am Radikalisierungsprozess beitragen (vgl. ebd.: 45).

9 Der Sozialraum „Strafvollzug“ wird im Rahmen dieser Masterarbeit ausgeklammert.

17 Im Jahr 2017 kam es in Österreich zu mehreren Gerichtsverfahren nach § 278b StGB Teilnahme an terroristischen Vereinigungen und kriminellen Organisationen sowie § 92 StGB Quälen oder Vernachlässigung von Unmündigen. Drei Erwachsene konnten im Jahr 2017 am Straflandesgericht Graz zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. 313 Menschen aus Österreich konnten bis Jahresende 2017 als Djihad-Reisende identifiziert werden. Dennoch ist ein Rücklauf der Menschen zu verzeichnen, die nach Syrien oder in den Irak ausreisen, um sich dem Djihad anzuschließen. Dies ist auf verstärkte repressive und präventive Maßnahmen sowie die konsequente Strafverfolgung zurückzuführen (vgl. ebd.: 45ff).

Obwohl die Zahlen islamistisch extremistischer Straftaten in Österreich zurückgingen, stellt der islamistische Extremismus ein besonders hohes Sicherheitsrisiko für staatliche Behörden und die ÖVP-FPÖ geführte Regierung dar. Restriktivere Gesetze sowie schärferes Vorgehen gegen die radikale salafistische Szene führten dazu, dass die salafistische Infrastruktur in Österreich geschwächt werden konnte. Dennoch lässt sich nicht abschätzen, ob das bisherige Vorgehen österreichischer Behörden einen nachhaltigen Effekt hat, oder ob es zu einer Verlagerung der salafistischen Szene kam (vgl. BVT 2017: 12ff).

Die Zahlen des Bundesinnenministerium belegen den Bestand einer salafistischen Szene in Österreich. Trotz rückläufiger Zahlen gibt es immer noch viele Menschen, die sich einer der benannten Szene anschließen und sich radikales Gedankengut aneignen. Wie ein möglicher Radikalisierungsverlauf aussehen kann wurde bereits skizziert. Welchen Einfluss sozialräumliche Faktoren auf diesen Radikalisierungsprozess haben können, gilt es im Rahmen dieser Masterarbeit zu erforschen. Um das Forschungsvorhaben erfolgreich umzusetzen, bedarf es einer theoretischen Einbettung eines sozialräumlichen Verständnisses und einer kurzen Einführung in die sozialraumorientierte Soziale Arbeit.

18 2.2. Sozialräumliches Verständnis

Für ein sozialräumliches Verständnis bedarf es vorab einer Annäherung an die Begriffe Raum und Sozialraum. Der Begriff des Raums hat eine lange Geschichte und so haben sich schon die antiken Griechen10 mit dem räumlichen Verständnis auseinandergesetzt. Trotz einiger grundlegender Beiträge im Laufe der Jahrhunderte, beispielsweise durch Isaac Newton (17/18. Jahrhundert), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (19. Jahrhundert) oder Henri Lefebvre (20. Jahrhundert), fand eine intensive Auseinandersetzung mit Raum und Raumverständnis erst seit den 1990er-Jahren statt. Die bislang vorherrschende Raumvorstellung war die des absoluten Raums (vgl. Kessl, Reutlinger 2007: 20). Isaac Newton beschreibt den Raum als ein fixiertes Ordnungssystem, das unabhängig von den darin enthaltenen Körpern ist. Raum kann als immer gleich und unbeweglich verstanden werden, denn er existiert ohne Beziehungen zu anderen Körpern. Der absolute Raum kann als eine Art Behälter verstanden werden (vgl. ebd.: 22f). Werner Schönig kennzeichnet den absoluten Raum durch seine physikalisch-materiellen Gegebenheiten (vgl. Schönig 2008: 16).

Seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert jedoch ist immer häufiger von der relativen Raumvorstellung die Rede. Sie steht im Gegensatz zur absoluten Raumvorstellung und beschreibt die Abhängigkeit von Raum und Körper. Gottfried Wilhelm Leibnitz (1618-1648) war einer der ersten, die sich mit der relativen Raumvorstellung auseinandersetzten. Er geht davon aus, dass erst die Körper eine Raumstruktur bilden. Räume können demnach nicht unabhängig von Körpern bestehen. „Ein Raum im Sinne relativer Raumvorstellungen ist nicht absolut bestimmbar. Seine Bestimmung ist vielmehr abhängig von der Wahl des eingenommenen Blickpunktes“ (Kessl, Reutlinger 2007: 21). Die relative Raumvorstellung geht davon aus, dass man durch unterschiedliche Blickwinkel auf räumliche Körper zu unterschiedlichen Verortungen kommt. „Solche konstruktivistischen Raumvorstellungen eines nur relativ zu bestimmenden Raumes erfahren seit einigen Jahren gegenüber absoluten Raumvorstellungen stärkere Aufmerksamkeit“ (ebd.: 21).

Für eine systematische Beschreibung von Räumlichkeit ist es wichtig, dass sowohl das absolute Raumverständnis, als auch das relative Raumverständnis berücksichtigt werden. Ein absolutes Raumverständnis, das feste Rahmenbedingungen sozialer Praktiken beschreibt, muss ebenso berücksichtigt werden, wie ein relatives Raumverständnis, das Ausdruck menschlichen Handelns ist. Das Zusammenspiel dieser beiden Raumverständnisse führt zu einem relationalen Raumbegriff. Der relationale Raum beschreibt „[...] das Wechselspiel von symbolischer Wirkung materialisierter Raumordnungen und deren permanente (Re)Konstruktion als Kampf um die Vorherrschaft bestimmter Redeweisen von Raum“ (ebd.:

27).

Der Begriff des Sozialraums kann den Gedanken aufwerfen, dass eine Ergänzung des Begriffs Raum notwendig ist. Der Begriff Raum lässt nämlich darauf schließen, dass es sich (durchaus) um eine gegebene und unwiderrufliche Tatsache handelt. Im Gegensatz dazu beschreibt der Begriff des Sozialraums das Phänomen, dass Raum immer das Ergebnis menschlichen Handelns ist (vgl. ebd.: 23). Kessl und Reutlinger beziehen sich auf die raumtheoretischen Grundannahme, dass Räume keine absoluten Einheiten sind, sondern ständig (re-)

10 Ca. 7. Jahrhundert vor Christus.

19 produzierte Gewebe sozialer Praktiken. Sozialräumliches Verständnis sieht Raum als „[...] das Ergebnis menschlicher Handlungsvollzüge und zugleich wieder als deren Bedingung“ (Scherr:

2006: 161).

Betrachtet man den Raum unter einer sozialräumlichen Perspektive, so nimmt diese nicht ausschließlich Bezug auf physisch-materielle Objekte. Vielmehr rückt der vom Menschen konstituierte Raum in den Vordergrund. Eine sozialräumliche Perspektive nimmt Beziehungen, Interaktionen und soziale Verhältnisse in den Blickpunkt. Der Sozialraum beschreibt demnach den gesellschaftlichen Raum und den menschlichen Handlungsraum. Ein sozialräumliches Verständnis bezieht sich auf den von den handelnden Akteur*innen (Subjekte) konstituierten Raum und nicht nur den fixierten Ort (Objekt) (vgl. Kessl, Reutlinger 2007: 23).

Martina Löw beschreibt den Raum „[...] von Menschen gemacht und folglich auch nicht ohne seinen sozialen Kontext denkbar. Raum lässt sich definieren als relationale (An)Ordnung von Menschen und sozialen Gütern“ (Früchtel et al. 2010, zit. n. Löw 2001: 224).

Denkt man über Raum und Sozialraum nach, so muss man zwischen zwei Aspekten unterscheiden, zwischen den physikalisch-materiellen Gegebenheiten einer gegenständlichen Welt und der Konstruktion von gesellschaftlich relevanten Räumen, bzw. Sozialräumen, die durch menschliches Handeln und Sinnzuschreibungen entstehen. In einer gegenständlichen Welt werden Raum und Körper in drei Dimensionen beschrieben. „Da nun der Mensch wie auch die körperhaften Dinge eine Ausdehnung haben, ‚stellen räumliche Konstellationen eine Basisdimension menschlichen Lebens im allgemeinen [sic!] sowie der gesellschaftlichen Zusammenlebens im besonderen [sic!] dar.‘ Der Mensch bewegt sich körperlich in der gegenständlichen Welt“ (Schönig 2008: 16).

Die Konstruktion von gesellschaftlich relevanten Räumen, bzw. Sozialräumen, kann als Produkt sozialer Prozesse gesehen werden, die durch Sinnzuschreibungen entstehen. Ihre Existenz ist nicht bedingungslos gegeben, sondern wird von Menschen geschaffen und ist an sie gebunden. Der gegenständliche Räum kann durch messbare Einheiten definiert werden.

Er kann also physikalisch beschrieben werden. Kommen Sinnzuschreibungen hinzu, so werden physikalische Einheiten interpretiert. Entfernung und Nähe werden als Fremde und Vertrautheit wahrgenommen. Der Sozialraum beinhaltet also Grenzen und Durchlässe (vgl.

ebd.: 16).

In der Wissenschaft wird der Sozialraum oftmals als eine Ressource gesehen, die neue Handlungsmöglichkeiten offenhält. Der Sozialraum bietet Chancen und Gelegenheiten zur Veränderung, die bisher nicht vollständig genutzt werden (vgl. Biesel 2007: 80). Um den Sozialraum wirklich als Möglichkeitsraum (besonders für die Soziale Arbeit) mit neuen Ressourcen zu sehen, müssen auch die Schattenseiten des Sozialraums benannt und reflektiert werden. Die Auseinandersetzung mit konstituierten Räumen und dem menschlichen und gesellschaftlichen Handlungsraum muss zu kritischen Fragen führen. Wer konstituiert wirklich den Raum? Welcher Teil der Gesellschaft hat Einfluss auf Raum und welche Menschen haben keine Handlungsmöglichkeiten?

Fakt ist, dass auch Räume von Machtverhältnissen, sozialer Ungleichheit, unzureichenden Ressourcenausstattungen und Teilhabebeschränkungen geprägt sind. Ein sozialräumliches Verständnis, dass Raum konstituiert wird, bedeutet nicht, dass Raum gerecht geschaffen wird.

20 Machtverhältnisse im Schaffungsprozess von Sozialraum können zu genannter Ungleichheit und Teilhabebeschränkungen führen (vgl. ebd.: 80).

Erwähnte, unzureichende Teilhabebeschränkungen können drastische Auswirkungen auf den individuellen Entwicklungsprozess haben. Auf Grund dessen, untersucht diese Masterarbeit den Zusammenhang zwischen sozialräumlichen Chancen und Möglichkeiten von Menschen und einem islamistischen Radikalisierungsprozess. Dabei sollen sowohl gesellschaftliche als auch sozialarbeiterische Handlungsebenen entwickelt werden, um Räume fairer für alle Menschen gestalten zu können und gesellschaftlichen Phänomenen mit einem sozialraumorientierten Ansatz entgegenzuwirken.