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Sozialraumorientierte Soziale Arbeit setzt sich wie bereits erwähnt, aus unterschiedlichen Konzepten der Sozialen Arbeit zusammen. Die Kombination aus einzelnen Konzepten führt dazu, dass sozialraumorientierte Soziale Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen agiert und in unterschiedlichen Dimensionen arbeitet. In einem sozialraumorientierten Verständnis nach Budde et al. liegen Handlungsmöglichkeiten sowohl auf der methodischen als auch auf der organisatorischen Ebene. Zudem zeichnet sich die sozialraumorientierte Soziale Arbeit durch eine fallbezogene Dimension und eine fallunspezifische Dimension aus.

Verknüpft man das Mehrebenenhandeln mit dem dimensionsübergreifenden Agieren, so erhält man ein Schema, das die vielschichtigen Handlungsmöglichkeiten sozialraumorientierter Sozialer Arbeit gut erfasst.

Abbildung 3: Sozialraumorientierung nach Budde et al. (Budde et al. 2006: 28).

70 Schaut man sich die Zeilen der Abbildung an, kann man den Unterschied zwischen Arbeitsform und Steuerungskonzept erkennen. In den Spalten kommt das Zusammenspiel von Person und Umwelt zum Vorschein. Die Zellen der Abbildung sind zweigeteilt, wobei der obere Teil „[...] das Raumkonzept an den Schnittpunkten der Ordnungskategorien [...]“ (Budde et al.

2006: 28) beschreibt, der untere Teil die darauf bezogenen Handlungsmöglichkeiten der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit thematisiert. Der Bezug zwischen den Ebenen und das Zusammenspiel der Dimensionen zeichnen die sozialraumorientierte Soziale Arbeit aus und führen zu vier Handlungsmöglichkeiten: Das Arbeiten mit Stärken von Adressat*innen, fallunspezifische Ressourcenmobilisierung, Flexibilisierung von Organisationen und stadtteilbezogene Steuerung (vgl. ebd.: 28).

Sozialraumorientierung heißt mit Stärken arbeiten

Sozialraumorientierte Soziale Arbeit bedient sich am Werkzeug des Stärkemodells.

Menschliches Verhalten wird grundsätzlich als Lösungsversuch verstanden und hinter diesem verstecken sich positive Motivationen. „Wir sehen viel leichter Probleme als die darin liegenden Chancen, eher Begrenzungen als den dadurch markierten Besitz, mehr die Krankheit als die Gesundheit [...]“ (Früchtel et al. 2007: 51). Der Mensch hat sich den Defizitblickwinkel angeeignet und zur Normaleinstellung des Alltagsverstandes gemacht. Dem gegenüber steht das Stärkemodell, das Schwächen auch immer als Stärken sieht. Wichtig ist der Rahmen, in welchem Verhalten beschrieben und interpretiert wird. „Es geht darum, die im Verhalten von Menschen liegenden Motivationen und Kompetenzen zu entdecken und diese entweder als Bewegungsenergie oder als Material für Lösungen zu nutzen“ (Budde et al. 2006: 30). In der fallbezogenen Dimension bedeutet dies, Schwächen aus neuen Perspektiven zu betrachten und in (bisher) ungenützte Ressourcen zu wandeln.

„Unsere lebensweltliche Programmierung auf Wahrnehmung und Bearbeitung von Schwierigkeiten lässt uns Leute in schwierigen Situationen eher als hilfsbedürftig erscheinen, denn als sich Helfende. Die Stärkeansicht ist uns nicht in die Wiege gelegt, weil wir als gelernte und eingefleischte Problemlöser Situationen vorrangig als zu lösende interpretieren. Um darin Chancen sehen zu können, sind dagegen oft Extra-Anstrengungen erforderlich“ (Früchtel et al. 2007: 52).

Die Besonderheit des Stärkemodells liegt darin, Gegebenheiten aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und so kommt man schnell zu dem Schluss, dass Stärken immer auch Schwächen sind und Schwächen immer auch Stärken. Bereits Nietzsche lenkte 1990 die Aufmerksamkeit auf den/die Betrachter*in, der/die entscheidet, was gut und was schlecht ist (vgl. Nietzsche 1990: 455). „Der Betrachter sieht, was er sehen will beziehungsweise sehen kann, und bestimmt damit die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis“ (Früchtel et al. 2007:

53). Das Stärkemodell lädt dazu ein, Verhalten und Eigenschaften aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und Chancen und Möglichkeiten zu erkennen. In einem sozialräumlichen Verständnis nach Budde et al. werden die Stärken eines Menschen durch dessen Kontext bestimmt (vgl. Budde et al. 2006: 30).

Fallunspezifische Ressourcenmobilisierung

Neben der Stärkung des Individuums, stellt die fallunspezifische Arbeit einen großen Teil der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit dar. Wie bereits erwähnt muss sozialraumorientierte Soziale Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen agieren. Neben individuellen Empowermentansätzen müssen auch anderweitig Ressourcen mobilisiert werden. Dies kann

71 von Projekten mit benachbarten Banken, Schulen oder öffentlichen Einrichtungen, über Kooperationen mit wichtigen Vereinen und Initiativen bis hin zu funktionierenden Beziehungen zu politischen Entscheidungsträger*innen reichen. Sozialraumorientiertes Arbeiten bedeutet aktiv zu sein auf der Mikro-, Meso- und Makroebene „[...] und verlangt von den Profis ein Agieren im Stadtteil, in Organisationen, in Verwaltung, in der Fachbasis, in Kommunalpolitik, in Wirtschaft, in den Medien und intermediär zwischen diesen Ebenen“ (Budde et al. 2006:

33). Fallunspezifisches Arbeiten kann durch ein niederschwelliges Angebot präventiv wirken und Probleme schon frühzeitig behandeln und gar nicht erst zum Fall werden lassen.

Gleichzeitig wird ein integrierender Ansatz verfolgt, wenn durch Ressourcenmobilisierung, beispielsweise in der Nachbarschaft, neue Möglichkeiten entstehen. Das vernetzen von Bewohner*innengruppen kann dazu führen, dass Menschen Gemeinsamkeiten entdecken und

„[...] kommunalpolitische Themen besetzen und ihre Forderungen nach Einfluss, Umverteilung, faire Behandlung, guten LehrerInnen, Ausstattung mit adäquater Infrastruktur durchsetzen“ (ebd.: 34).

Sozialraumorientierung braucht flexible Organisationen

Um möglichst alle Ressourcen des sozialen Raums ausschöpfen zu können, braucht es Organisationen, die flexible und individuelle Angebote bereitstellen können. Vorgefertigte Lösungsansätze scheinen wenig sinnvoll in einer Risikogesellschaft, in der sich soziale Problemlagen immer mehr individualisieren. Ein sozialraumorientierter Ansatz begünstigt Organisationen, die in jedem Einzelfall unterschiedliche Ressourcen mobilisieren, integrieren und substituieren muss. Um mit individuellen Lösungsstrategien arbeiten zu können, muss jeder Fall als eine Art Lern- und Umgestaltungsprozess für Organisationen gesehen werden.

Der in vielen Organisationen vorherrschende Gedanke, dass sich der/die Klient*in an die Organisation anpassen muss, muss überdacht werden. Vielmehr geht es darum, individuell abgestimmte Lösungswege für Klient*innen zu finden und mit maßgeschneiderter Unterstützung, eine nachhaltige Hilfsmaßnahme anbieten zu können (vgl. Budde et al. 2006:

37f). Durch die Flexibilisierung von Organisationen, ändert sich auch der Blickwinkel auf soziale Problemstellungen. Es werden nicht mehr standardisierte und einzelne Hilfeformen vorgehalten, denen dann die Klient*innen zugewiesen werden, vielmehr müssen Organisationen ein ausgeprägtes Lern- und Wandlungspotential mit sich bringen, um ein passendes Betreuungsangebot für jede und jeden Klient*in anbieten zu können (vgl. Früchtel et al. 2007: 125).

Sozialraumorientierung heißt raumbezogene Steuerung

Neben der Flexibilisierung von Organisationen muss eine raumbezogene Steuerung umgesetzt werden, um nachhaltige und effiziente Lösungswege zu finden. Die heutige Situation spiegelt oftmals noch ein Bild wider, in dem unterschiedliche Problemstellungen und Lebensräume zu einer Vielzahl an Zuständigkeiten führen. Aktuell gibt es Fälle, in denen ein halbes Dutzend an Fachkräften für dieselbe Familie zuständig ist. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit verfolgt das Prinzip der raumbezogenen Steuerung. Mehr Struktur und Vernetzung sollen zu effizienterer Hilfeleistung führen und gleichzeitig Kosten schmälern.

Raumbezogene Steuerung ist jedoch nicht als Zwangsmaßnahme neoliberaler Sozialpolitik zu verstehen, sondern soll mehr Ordnung bieten und Unterstützung bedarfsgerechter und flexibler gestalten (vgl. Budde et al. 2006: 40f).

72 4.2. Das Aarhus-Projekt

In Dänemark wird seit vielen Jahren ein sozialraumorientierter Ansatz verfolgt, um die Problematik rund um die islamistische Radikalisierung zu bekämpfen. Mit dem Aarhus-Projekt wurde in der dänischen Stadt Aarhus ein Konzept entwickelt, welches einerseits Präventionsarbeit leistet, um Menschen vor einer islamistischen Radikalisierung zu schützen und andererseits Deradikalisierungsmaßnahmen anbietet, um ehemalige Djihadisten wieder in die dänische Gesellschaft zu reintegrieren. Hintergrund des Projekts stellt die Thematik rund um den islamistischen Terrorismus dar, dem in den Jahren 2004 und 2005 mehrere Menschen in Europa zum Opfer fielen. Auf Grund dessen startete die Stadt Aarhus in Zusammenarbeit mit der „East Jutland Police15“ ein Pilotprojekt, das der Problematik seit dem Jahr 2007 erfolgreich vorbeugt. Aufbauend auf der bisherigen Kooperation zwischen Stadt und Polizei im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung wurde ein Konzept entwickelt, welches nicht nur den Austausch von Informationen zwischen den beiden Institutionen erleichtert, sondern zudem folgende Maßnahmen umgesetzt hat:

• Das Infohaus dient als zentraler Ort, um Bedenken der Bevölkerung aufzugreifen und nimmt Planungs- und Koordinierungsfunktion der Radikalisierungsprävention ein.

• Professionelle Beratung von Expert*innen zum Themengebiet Radikalisierung für Betroffene.

• Das Informieren der Öffentlichkeit zum Thema Radikalisierung.

• Spezialisiertes „Mentoring“ wird eingesetzt, um Prävention und Intervention planen und umsetzen zu können.

• Beratungs- und Ausstiegsprogramme werden für Menschen angeboten, die den Plan haben in den „heiligen Krieg“ zu ziehen bzw. aus diesem zurückkehren.

• Das Einbinden lokaler Gemeinschaften und Akteur*innen, die Kontakt zu gefährdeten Personengruppen und Einzelpersonen haben.

• Beratungsangebot und Vernetzungshilfen von betroffenen Familienmitgliedern.

• Dialogbasierte Workshops an Grund- und Mittelschulen zum Thema Radikalisierung.

Das Aarhus-Projekt bezieht sich in der Präventionsarbeit auf die bereits erwähnte Dreiteilung des Präventionsangebots. Ziel ist es, für unterschiedliche Personengruppen ein differenziertes und angepasstes Angebot zu schaffen. Es wird zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Präventionsebene unterschieden, um wirkungsvolle Präventionsarbeit leisten zu können.

“For instance, in the case of Islamic radicalisation, the second level addresses those individuals planning to travel to Syria or Iraq, while the third one concerns those who have already returned from these conflict areas. Each group has a specific intervention” (EFUS 2016: 4).

Die Primäre Ebene dient der Bewusstseinsbildung der Bevölkerung und unterbindet durch Aufklärung ein radikales Angebot. Hierfür werden drei Maßnahmen angeboten:

• Workshops zur Bewusstseinsbildung der Bevölkerung

• Präsentationen die die Bewusstseinsbildung zur Thematik fördern

• Seminare von und für Expert*innen

15 Kann mit der österreichischen Bundespolizei verglichen werden.

73 Auf der sekundären Ebene wird mit bereits betroffenen Menschen und Angehörigen gearbeitet, die sich im fortgeschrittenen Radikalisierungsstadium befinden. Für diese Personengruppen werden ebenfalls drei Maßnahmen angeboten:

• Familienvernetzung

• Einschätzung und Risikobewertung

• Mentor*innenprogramme

Die tertiäre Ebene versucht bereits radikalisierte Menschen zu reintegrieren und schafft ein Angebot, um wieder Anschluss in der Gesellschaft zu finden. Hierfür werden zwei Maßnahmen angeboten:

• Aussteiger*innenprogramme

• Professionelle Mentoring- und Coachingprogramme

Abbildung 4: Das Aarhus-Projekt Präventionsebenen (Hassan 2015)

Die wichtigste Funktion im Aarhus-Projekt nimmt das Infohaus ein, welches aus einem interdisziplinären Team besteht. Neben Vertreter*innen der Polizei ist ein

multiprofessionelles Team der Stadtgemeinde beschäftigt. Dieses pflegt enge Kooperation zu anderen Institutionen und sozialen Einrichtungen.

„The Aarhus Model works in close cooperation with the anti- and de-radicalization research project at the Department of Psychology and Behavioural Sciences, as well as with experts in the fields of politics, sociology, psychology, acculturation and religion, at Aarhus University.

Furthermore, the Aarhus Model team works with the social services, several ministries, and PET (the Danish Security and Intelligence Service). Furthermore, the project is based on close collaboration with similar approaches in Denmark and Europe as well as the European network RAN (Radicalization Awareness Network)“ (Panorama 2015: 3).

74 Sobald ein Verdachtsfall gemeldet wird, wird der Fall untersucht und die weitere Prävention und Intervention koordiniert. Wird der Fall als Gefährdung für die Sicherheit eingestuft, wird dies direkt den dänischen Sicherheitsbehörden gemeldet und der Fall abgegeben. „Cases may also be referred back to the Info House by national security agencies after assessment”

(EFUS 2016: 3). Besteht keine Sicherheitsgefährdung, wird der Fall von der Polizei und Gemeinde weiterbearbeitet. Das Team der Gemeinde kann dann in Zusammenarbeit mit sozialen Einrichtungen weitere Schritte setzen. Es können Beratung und Unterstützung, sowie Gruppenaktivitäten und Mentor*inneninterventionen angeboten werden. „This can mean anything from a specially trained mentor to a football coach or a teacher who already knows the individual, depending on a concrete assessment in each case” (ebd.: 3). Die Einschätzung des Infohauses entscheidet, wer in den Prozess miteingebunden werden kann.

Das Aarhus-Projekt zeichnet sich durch erfolgreiches Vernetzen von Vertrauenspersonen und Institutionen aus, die der/m Betroffenen helfen, sich vor Radikalisierung zu schützen bzw. wieder einen Weg in die Gesellschaft zu finden. Befasst man sich mit letzterer Zielgruppe, so gilt dasselbe Prozedere. Das Infohaus gibt eine Einschätzung ab und setzt dann individuell passende Maßnahmen.

“Individuals may be required to take part in debriefing sessions, psychological therapy, medical assistance, individual mentoring or tailored exit programmes depending on the

results of the risk assessment and screening for possible trauma and radicalization” (ebd.: 3).

Die Stadt Aarhus geht seit 2007 mit vorgestelltem Konzept erfolgreich gegen islamistische Radikalisierung vor. Im Rahmen der letzten Evaluierung konnten vor allem zwei Punkte als besonders erfreulicher Gewinn verbucht werden:

• Die Zahl der Menschen, die nach Syrien oder den Irak ausreisten, um sich dort dem

„Heiligen Krieg“ anzuschließen konnte von 31 Personen (2013) auf eine Person (2015) reduziert werden. Allerdings kann die Reduktion nicht kausal in Zusammenhang mit dem Aarhus-Projekt gebracht werden, dennoch kann dies als ermutigender Erfolg betrachtet werden.

• Durch das Aarhus-Projekt konnte eine Austauschkultur zwischen Stadtgemeinde und Minderheitsgruppierungen etabliert werden (vgl. EFUS 2016: 4).

75 4.3. LIAISE – Kommunen gegen Extremismus

Zwischen September 2014 und Dezember 2017 führte das Europäische Forum für urbane Sicherheit (EFUS) das Projekt LIAISE – Kommunen gegen Extremismus, durch. Finanziell wurde das Projekt durch die Europäische Kommission gefördert und zielte darauf ab, Empfehlungen, Praxisbeispiele und Ressourcen für die Prävention von Radikalisierung und gewaltbereitem Extremismus auf lokaler Ebene zu erarbeiten. Das Projekt wurde ins Leben gerufen, um den Austausch zwischen Städten und Regionen in Europa zu fördern und gemeinsame Strategien gegen Radikalisierung und gewaltbereiten Extremismus zu entwickeln. Insgesamt beteiligten sich 33 Institutionen aus zehn europäischen Ländern.

LIAISE konzipierte präventive Methoden, die in den unterschiedlichen Städten als Pilotprojekte umgesetzt wurden, um auf lokaler Ebene gegen Extremismus anzukämpfen. Dabei verfolgt LIAISE – Kommunen gegen Extremismus neun Grundsätze, die vorab erarbeitet wurden:

• Neben der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden ist ein starker präventiver Ansatz unabdingbar.

• Kommunen wird zentrale Position in der Präventionsarbeit zugeschrieben, die auf spezifische Expertise, Bürgernähe sowie Fachwissen in Bereichen der Gewalt- und Kriminalprävention und Integration zurückgreifen kann. Lokale Akteur*innen können mobilisiert und in den Prozess integriert werden.

• Das achten der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist unabdingbar für präventive Maßnahmen. Stigmatisierung muss verhindert werden, um Diskriminierung und Ausgrenzung zu verhindern.

• Alle Formen der gewaltbereiten Radikalisierung müssen bekämpft werden, denn sie bilden stets eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und die öffentliche Sicherheit.

• Prävention muss Teil einer integrierten lokalen Sicherheitsstrategie sein.

• Die Präventionsarbeit muss alle Phasen des Radikalisierungsverlaufs bedienen und bezieht sich auf drei Ebenen: Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention.

• Zusammenarbeit zwischen lokalen Partnern soll zu Entwicklung führen.

• Mandatsträger und politische Unterstützung sind unerlässlich, um präventive Maßnahmen zu legitimieren und sichtbar zu machen.

• Die Zivilgesellschaft bekommt die Schlüsselrolle zugeschrieben und soll zur Unterstützung und Mobilisierung ermutigt werden (vgl. EFUS 2018: 4).

Auf diesen Grundsätzen aufbauend wurden im besagten Zeitraum 17 Pilotprojekte umgesetzt.

Unter Anderem fand das Projekt „Aufdrehen: Ein Videoprojekt für Mädchen“ in Augsburg statt.

Zehn in Augsburg lebende Mädchen haben in diesem Projekt gemeinsam mit einer Medienpädagogin und einer Medienproduzentin ein Video produziert. Thematisch geht es um die Stärkung der Resilienz von Mädchen und jungen Frauen gegenüber extremistisch religiöser Diskurse. Gemeinsam wurde ein Propagandavideo des sogenannten Islamischen Staates analysiert und darin vorkommende Geschlechterrollen aufgezeigt. Im selbstproduzierten Video sprechen die Mädchen über ihre eigenen Erwartungen und Ziele im Leben und stellen sich den aufgezeigten Geschlechterrollen entgegen. Die Mädchen konnten technisches Know-How lernen und wurden ermutigt, dieses auch in Sozialen Netzwerken zu nutzen. Das produzierte Video wird heute unter anderem in Schulen vorgeführt und soll zu offenen Diskussionen zur Thematik rund um die islamistische Radikalisierung anregen (vgl.

EFUS 2018: 6).

76 5. Resümee

Die vorliegende Forschungsarbeit hat sich mit der Thematik rund um die islamistische Radikalisierung am Beispiel von Pedro auseinandergesetzt. Dabei wurden sozialräumliche Faktoren untersucht, die zu einer islamistischen Radikalisierung beitragen können. Dieses Vorhaben wurde sowohl theoretisch als auch empirisch ausreichend beantwortet und liefert einen Beitrag zur sozialraumorientierten Forschung im Zusammenhang mit Radikalisierungsprozessen. Ursprung des Forschungsvorhaben war das Interview mit Pedro, welches zu zehn sozialräumlichen Kategorien führte. Diese Kategorien können in einem sozialraumorientierten Verständnis nach Früchtel et al. als Produkt sozialer Prozesse gesehen werden und münden in unterschiedlichen Raumwahrnehmungen, je nachdem welche/r Akteur*in in der beobachtenden Funktion steht. Diese Raumwahrnehmungen des Individuums eröffnen verschiedene Handlungsebenen im sozialen Raum (vgl. Früchtel et al. 2007: 15). Im Falle eines Radikalisierungsprozesses muss grundsätzlich immer vom Individuum ausgegangen werden und die Frage gestellt werden, welche Faktoren zu einer radikalen Entwicklung beigetragen haben. Betrachtet man das Individuum im sozialen Raum, seine individuelle Raumwahrnehmung und die daraus resultierenden Handlungsebenen, gelangt man zur subjektiven Wirkzone, die sich aus dem Produkt, subjektiver Bedeutung, erfahrener sozialer Teilhabe und dem Aktionsfeld individueller Stärken und Kompetenzen, bildet.

Sozialraumorientierung nach Früchtel et al. zeichnet sich durch die eigene Person im Mittelpunkt sozialer Räume aus. Das erlebte Raumkonstrukt bezieht sich zudem auf Orte und Gegenden die momentan erlebt werden. Glaubt man Otto Bollnow, dann ist der konkrete Raum jedoch ein anderer...

„Der konkrete Raum ist [...] je nach dem Wesen, dessen Raum er ist, und je nach dem Leben, das sich in ihm vollzieht. Er verändert sich mit dem Menschen, der sich in ihm verhält, verändert sich mit der Aktualität bestimmter Einstellungen und Gerichtetheiten, die – mehr oder weniger augenblicklich – das ganze Selbst beherrschen“ (Bollnow 2004: 21).

Das Individuum trägt solche Räume mit sich. Metaphorisch gesprochen kann man sich soziale Räume wie das Haus einer Schnecke vorstellen, die dieses mit sich trägt. Die subjektive Wirkzone kann als räumliche Dimension der Lebenswelt verstanden werden, die Einfluss auf soziale Interaktions- und Teilhabechancen liefert (vgl. Früchtel et al. 2007: 16).

Das Beispiel Pedro gibt Einblicke, wie solche Räume konkret aussehen können, die Menschen mit sich tragen. Ein zerrüttetes Familienkonstrukt beispielsweise kann Auswirkungen auf Interaktions- und Teilhabechancen haben. Diese (beschränkten) Chancen können sich dann auch im schulischen oder religiösen Kontext wiederspiegeln. Koppelt man diese sozialen Räume mit der subjektiven Wirkungszone, so können individuelle Handlungsebenen entwickelt werden. Je nach subjektiver Bedeutung, erfahrener sozialer Teilhabe und individueller Stärken und Kompetenzen können dann Interaktionsräume geschaffen bzw. eben nicht geschaffen werden. Diese fehlenden Interaktionsräume können Menschen aus der Gesellschaft exkludieren, sie in die Perspektivlosigkeit schleudern und empfänglich für einfach Antworten machen. Ebenso können ausgeprägte Interaktionsräume beispielsweise in den einschlägigen Gebetsräumen dazu führen, dass ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht, Menschen respektvollen Umgang erfahren und ihr soziales „Standing“ steigt. Pedros Lebensgeschichte hat gezeigt, dass die Verbindung aus begrenzten Teilhabechancen in der

77 Mehrheitsgesellschaft, der Familie und der Schule, gekoppelt an viele Interaktionsräume im Freundeskreis, einschlägigen Gebetsräumen und Freizeitbeschäftigung dazu geführt haben, dass Pedro sowohl Ausgrenzung als auch Zugehörigkeit erfahren hat.

Sozialräumliche Faktoren wie beispielsweise die Familiensituation oder die Schulsituation haben dazu beigetragen, dass wenig gesellschaftliche Teilhabechancen akquiriert werden konnten. Diese verminderten Teilhabechancen wirkten sich in vielen sozialen Räumen bedingt aus und führten zu Perspektivlosigkeit. Auf der Suche nach Zugehörigkeit, findet Pedro soziale Räume, in denen er sich profilieren kann und Gemeinschaft erfährt.

Um das Individuum zu schützen und Aktionsräume zu schaffen, versucht ein sozialraumorientierter Ansatz Netzwerke zu entwickeln. Nachbarschaften, Organisationen, Verwandtschaften können wichtige soziale Geflechte sein, in denen Vernetzungen stattfinden und zu neuen Möglichkeiten führen können. Der Zusammenschluss von Menschen eröffnet Aneignungsmöglichkeiten und kann aus einzelnen Parteien wirkungsvolle Gruppen machen (ebd.: 16f). Desweiteren greift sozialraumorientierte Soziale Arbeit an der Lebenswelt ihrer Klient*innen ein. Wie bereits erwähnt, kann die subjektive Wirkungszone des Individuums als räumliche Dimension der Lebenswelt gesehen werden. Im Umgang mit Klient*innen muss diese subjektive Wirkungszone gestärkt werden (vgl. Schönig 2008: 27f). Individuen müssen mit all ihrem bisher Erlebten, ihren Erfahrungen, Stärken, Ressourcen, Lebensstil, Lebenslage und Vernetzungen gesehen werden. Das Individuum muss befähigt werden sich Aneignungsmöglichkeiten zu verschaffen und als Expert*in seiner Lebenswelt gesehen

Um das Individuum zu schützen und Aktionsräume zu schaffen, versucht ein sozialraumorientierter Ansatz Netzwerke zu entwickeln. Nachbarschaften, Organisationen, Verwandtschaften können wichtige soziale Geflechte sein, in denen Vernetzungen stattfinden und zu neuen Möglichkeiten führen können. Der Zusammenschluss von Menschen eröffnet Aneignungsmöglichkeiten und kann aus einzelnen Parteien wirkungsvolle Gruppen machen (ebd.: 16f). Desweiteren greift sozialraumorientierte Soziale Arbeit an der Lebenswelt ihrer Klient*innen ein. Wie bereits erwähnt, kann die subjektive Wirkungszone des Individuums als räumliche Dimension der Lebenswelt gesehen werden. Im Umgang mit Klient*innen muss diese subjektive Wirkungszone gestärkt werden (vgl. Schönig 2008: 27f). Individuen müssen mit all ihrem bisher Erlebten, ihren Erfahrungen, Stärken, Ressourcen, Lebensstil, Lebenslage und Vernetzungen gesehen werden. Das Individuum muss befähigt werden sich Aneignungsmöglichkeiten zu verschaffen und als Expert*in seiner Lebenswelt gesehen