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Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Bähr, C.1, Wittenberg, K.2, Distl, O.1

1Institut für Tierzucht und Vererbungsforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover

2Besamungsstation Hündersen der Rinder-Union West eG

BÄHR, C., WITTENBERG, K., DISTL, O.(2003): Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Dtsch. tierärztl. Wschr.

Zusammenfassung

Ein weibliches Zwillingskalb der Rasse Deutsche Holstein wurde mit Polydaktylie in Form einer dritten medial angelegten Zehe an beiden Vordergliedmaßen und an einer Hintergliedmaße geboren. Der männliche Zwillingspartner und vier weitere mütterliche Nachkommen wiesen keine Missbildungen der Gliedmaßen auf. Das von Polydaktylie betroffene Kalb konnte anhand seines Pedigrees auf gemeinsame Vorfahren zurückgeführt werden. Der Inzuchtkoeffizient betrug 1,312 %. Da für ähnliche Fälle von monogenen oder digenen Erbgängen ausgegangen wird, könnte dem vorliegenden Fall auch eine genetische Ursache zu Grunde liegen.

Schlüsselwörter: Rind - Polydaktylie – Gliedmaßenmissbildung

BÄHR, C., WITTENBERG, K., DISTL, O.(2003): Polydactyly in a German Holstein calf

Dtsch. tierärztl. Wschr.

Summary

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

ancestors. The coefficient of inbreeding in this family was 1,312 %. Because a monogenic or digenic gene expression was suspected in similar cases, it is most probable that the polydactyly is inherited in the present case.

Key words: Cattle – Polydactyly - Malformation of limbs

Einleitung und Literaturübersicht

Polydaktylie ist durch das Vorhandensein überzähliger Zehen gekennzeichnet. Sie führt bei den meisten Tieren zu Lahmheiten unterschiedlichen Grades. Die Polydaktylie beim Rind ist bereits von mehreren Autoren in unterschiedlichen Formen und bei mehreren Rassen beschrieben worden. Einige Autoren unterscheiden zwischen atavistischer und teratologischer Polydaktylie (NEFF 1937, MAROLT 1967, ILJAS 1967, BORHOVEN 1968). Als Unterscheidungsmerkmal wird die Lokalisation der überzähligen Zehe herangezogen. Befindet sich die überzählige Zehe an einer Stelle, an der sie sich im Laufe der Phylogenese bei den Urahnen reduziert hat, dann spricht man von einem Atavismus (NEFF, 1937). Beim Rind sind bei physiologischer Entwicklung die Zehenstrahlen 3 und 4 vollkommen ausgebildet. Die Strahlen 2 und 5, an denen sich die Afterklauen befinden, sind phylogenetisch reduziert und weisen nur noch zwei Phalangen auf. LEIPOLD et al. (1971) sehen diese Unterscheidung als veraltet an und weisen auf eine Überschneidung der Begriffe hin, da ein Atavismus in Form einer Polydaktylie sowohl hereditär als auch teratogen bedingt sein kann. Es werden verschiedene Formen der Polydaktylie unterschieden. So teilten JOHNSON et al. (1982) die Polydaktylie in 7 verschiedene Typen ein:

Typ 1: Bilaterale Polydaktylie an den Vorderextremitäten mit zusätzlichen Metakarpalknochen und Phalangen medial. Dies ist die häufigste Form beim Rind.

Typ 2: Unilaterale Form der Polydaktylie an einer Vorder- oder Hinterextremität mit überzähligen Metakarpal- oder Metatarsalknochen und Phalangen.

Typ 3: Alle 4 Extremitäten weisen medial zusätzliche Zehen auf.

Typ 4: Bilaterale Verdopplung der Zehe mit Dimelie (doppelter Ausbildung) der Vorder- oder Hinterextremitäten. Seltene Form.

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Typ 5: Polysyndaktylie: Kombination von Poly- und Syndaktylie, wobei die distalen Gliedmaßenanteile des zweiten und dritten Zehenstrahles von einem Hornschuh eingeschlossen werden.

Typ 6: Bilateral unvollständige Ausbildung der zweiten Metakarpalknochen.

Typ 7: Polydaktylie in Verbindung mit einem Missbildungskomplex.

JOHNSON et al. (1982) vermuteten bei den Typen 1 bis 6 eine genetische Ursache und beim Typ 7 eher eine umweltbedingte Ursache.

Die Polydaktylie wurde in der Literatur häufig als erblich beschrieben. Verschiedene Erbgänge wurden vermutet: polygene, autosomal dominante, autosomal rezessive und X-chromosomal rezessive. ROBERTS (1921) beschrieb die Polydaktylie bei einer Kuhfamilie der Rasse Holsteins als autosomal monogen dominant vererbt, wobei in dieser Familie Mutter, Großmutter und drei Söhne betroffen waren. Bis auf ein Tier zeigten alle anderen Tiere mit Polydaktylie jeweils 3 Zehen an allen 4 Extremitäten. Die Ausnahme bildete ein Sohn, der ebenfalls 3 Zehen an den Vordergliedmaßen aufwies und an einer Hintergliedmaße jedoch vier sowie an der anderen Hintergliedmaße 5 Zehen. Auch LAUVERGNE (1962) beschrieb die Polydaktylie in der Nachkommenschaft eines Bullen der Rasse Normänner, wo die betroffenen Tiere ebenfalls eine dritte Zehe an der medialen Seite aller Gliedmaßen zeigten. Als Ursache wurde ein dominanter Erbgang mit unvollständiger Penetranz vermutet. MATHER (1987) dagegen beschrieb mehrere Fälle von Polydaktylie in einer Friesian-Herde. Die 22 Nachkommen mit Verdopplungen der Zehen stammten von einem Hereford-Bullen, der keine Polydaktylie aufwies. Auch alle 69 Kühe der Rasse Holstein Friesian aus dieser Herde wiesen keine Missbildungen der Gliedmaßen auf. Bei den betroffenen Nachkommen war meist an einer oder beiden Vordergliedmaßen medial eine zusätzliche Zehe angelegt. Der Autor vermutete hier einen monogen autosomal rezessiven Erbgang. OJO et al. (1975) fanden bei einem Holstein-Friesian-Kalb mit Polydaktylie keine Hinweise auf Chromosomenanomalien.

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

MORILL (1945) beobachtete Polydaktylie in Form einer zusätzlichen Zehe an beiden Vordergliedmaßen in einer Hereford-Herde. Zwei Kühe mit physiologischer Ausbildung der Gliedmaßen, Mutter und Tochter, hatten bei Anpaarung an jeweils einen anderen Bullen, je einen männlichen Nachkommen mit Polydaktylie. Da die Mutter noch zusätzlich eine Tochter mit phänotypisch normal ausgebildeter Gliedmaße hatte, vermutete der Autor einen rezessiven X-chromosomalen Erbgang.

JOHNSON et al. (1981) nahmen Anpaarungsversuche, teilweise mit Hilfe von Embryotransfer, in einer Simmentaler Herde vor, in der vier weibliche Tiere eine Polydaktylie in Form einer dritten medialen Zehe aufwiesen, und vermuteten aufgrund der Ergebnisse einen polygenen Erbgang mit einem dominanten Gen auf einem Locus und homozygot rezessiven Genen auf einem anderen Locus.

Material und Methoden

In einer Milchviehherde wurde ein von Polydaktylie betroffenes Kalb der Rasse Deutsche Holsteins, Farbrichtung schwarzbunt, und dessen verwandte Tiere klinisch untersucht. Anhand des Pedigrees des betroffenen Tieres konnten Inzuchtkoeffizient und Verwandtschaftskoeffizient der Familienmitglieder berechnet werden.

Ergebnisse

Anamnese und klinische Untersuchung

Auf einem Milchviehbetrieb wurde am 15.4.1999 ein weibliches Zwillingskalb der Rasse Deutsche Holsteins mit einer Gliedmaßenmissbildung geboren. Es zeigte medial an beiden Vordergliedmaßen und an der rechten Hintergliedmaße eine zusätzliche voll ausgebildete Klaue anstelle der sonst rudimentären Afterklauen (Abb. 1). Das Kalb wies eine verhältnismäßig kleine Vulva auf, was bei einem männlichen Zwillingspartner auf eine Zwickenbildung hinweist. Weitere Anomalien hatte das vitale Tier nicht. Der männliche Zwillingspartner besaß keine offensichtlichen Anomalien. Die 4 älteren mütterlichen Halbgeschwister zeigten keine angeborenen Anomalien der Gliedmaßen.

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Auswertung des Pedigrees

Das Kalb stammt von dem US-amerikanischen Besamungsbullen JAZZMAN ab.

Vater der Mutter ist der kanadische Besamungsbulle LINCOLN. Für die Mutter und den Vater des Kalbes wurden zwei gemeinsame Ahnen ermittelt (Abb. 2). Das betroffene Kalb weist einen Inzuchtkoeffizienten F = 1,312 % auf, wobei die Bullen ELEVATION und ASTRONAUT je einen Beitrag von 44,65 % zur Inzucht F leisten.

Der Vater des Kalbes und der mütterliche Vater weisen einen Verwandtschaftskoeffizienten von 5,25 % auf.

Weitere Fälle sind weder in der Nachkommenschaft der genannten Bullen noch in der Verwandtschaft der Mutter bekannt. Die vier weiteren Kälber der Mutter, die von anderen Besamungsbullen abstammten, sowie der männliche Zwillingspartner waren nicht von Gliedmaßenanomalien betroffen.

Diskussion

In dem hier vorgestellten Fall handelte es sich um eine in der Literatur als häufigste Form der Polydaktylie beschriebene Verdopplung der Zehen. Es lag eine bilaterale Polydaktylie an den Vordergliedmaßen und eine unilaterale Polydaktylie an der rechten Hintergliedmaße vor. Diese Anomalie kann sicherlich als Atavismus eingestuft werden, da offensichtlich die überzähligen Zehen am 2. Zehenstrahl ausgebildet sind und sich somit an einer phylogenetisch rückgebildeten Stelle befinden. Die Definition als Atavismus gibt keinen Hinweis auf die Ursache der Anomalie. Der Atavismus kann sowohl erblich als auch umweltbedingt sein.

Durchaus denkbar ist, dass bestimmte Signalfaktoren, die an der Ausbildung der distalen Extremität beteiligt sind und zu einer Unterdrückung der Entwicklung des 3.

Zehenstrahls führen, durch endogene oder exogene Einflüsse inaktiviert wurden.

Aussagen über eine Erblichkeit sind, wenn nur ein betroffenes Tier vorliegt, schwierig zu machen. Jedoch ist bei bilateral symmetrisch angelegten Anomalien der

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Oligogone und polygene Einflüsse können nicht ausgeschlossen werden. Es wurde bereits in der Literatur über ähnliche Fälle von Polydaktylie bei Holstein-Kälbern berichtet. MATHER (1987) vermutete bei Holstein Friesian x Hereford Nachkommen für eine Polydaktylie in Form einer zusätzlichen medial angelegten Zehe an den Vordergliedmaßen einen monogen autosomal rezessiven Erbgang. Eine monogen autosomal dominante Vererbung, wie ROBERTS (1921) sie vermutete, kann für den hier vorgestellten Fall nicht zutreffen, da sonst noch weitere Tiere betroffen sein müssten. In den verschiedenen Familien können durchaus, auch in Hinblick auf den großen zeitlichen Abstand zwischen den Berichten, verschiedene Erbgänge existieren.

Die verhältnismäßig kleine Vulva, die auf eine Zwickenbildung hinweist, war in Hinblick auf den männlichen Zwillingspartner nicht ungewöhnlich und stand höchstwahrscheinlich in keinem Zusammenhang mit der Missbildung.

Literatur

BORHOVEN, C. (1968): Syn-Polydaktylie beim Rind. Schweiz. Arch. Tierheilk.;110:

532-535. - JOHNSON, J. L., LEIPOLD, H. W., GUFFY, M. M., DENNIS, S. M., SCHALLES, R. R., MUELLER, M. S. (1982): Characterization of Bovine Polydactyly.

Bovine Pract.; 3: 7-14. - JOHNSON, J. L., LEIPOLD, H. W., SCHALLES, R. R.

GUFFY, M. M., PEEPLES, J. G., CASTLEBERRY, R. S,. SCHNEIDER, H. J. (1981):

Hereditary Polydactyly in Simmental Cattle. J. Hered.; 72: 205-208. - KAUS, W.

(1968): Syn-Poly-Daktylie bei einem Ochsen. Dtsch. Tieraerztl. Wochenschr.; 75:

120. - LAUVERGNE, J .J. (1962): Polydactyly in cattle. Ann. Zootech.; 11: 151-156. - LEIPOLD, H. W., DENNIS, S. M., HUSTON, K. (1972): Polydactyly in cattle. Cornell Vet.; 62: 337-345. - MATHER, D. B. (1987): Polydactyly in calves. Vet. Rec.; 120:

487. - MAROLT, J., ILIJAS, B. (1967): Beitrag zur Polydaktylie beim Rind. Dtsch.

Tieraerztl. Wochenschr.; 74: 19719-19718. - MORRILL, E. L. (1945): A new sex-linked defect in cattle. J. Hered.; 36: 81-82. - NEFF, E. (1937): Sieben Fälle von Hyperdaktylie beim Rind. Diss. med. vet. Zürich. - OJO, S.A., LEIPOLD, H. W., SAPERSTEIN, G., GUFFY, M. M. (1975): Polydaktyly in a Holstein-Friesian calf.

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Giessener Beitr. Erbpath. Zuchthyg.; 6: 80-88. - ROBERTS, F. (1921): Polydactylism in cattle. J. Hered.; 12: 84-86.

Korrespondenzadresse:

Corinna Bähr, Prof. Dr. Ottmar Distl

Institut für Tierzucht und Vererbungsforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover

Bünteweg 17p D-30559 Hannover

E-Mail: ottmar.distl@tiho-hannover.de

Dr. Karl Wittenberg

Besamungsstation Hündersen der Rinder-Union West eG Liemer Str. 30

D-32108 Bad Salzuflen

3. Polydaktylie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Abb. 1: Pedigree des von Polydaktylie betroffenen Tieres

weiblich männlich

Geschlecht unbekannt weiblicher Merkmalsträger

Weitere Abb.: s. Anhang Abb. 3.2.