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Fallbericht - Bilaterale Anotie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Missbildungen im Kopfbereich bei Deutschen Holsteinkälbern

9. Fallbericht - Bilaterale Anotie bei einem Deutschen Holsteinkalb

BÄHR, C., DISTL, O.

Institut für Tierzucht und Vererbungsforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover

BÄHR, C., DISTL, O. (2003): Fallbericht - Bilaterale Anotie bei einem Deutschen Holsteinkalb.

Dtsch. tierärztl. Wschr.

Zusammenfassung

Bei einem weiblichen Kalb der Rasse Deutsche Holsteins, Farbrichtung schwarzbunt, wurde eine sehr seltene kongenitale Anomalie in Form einer bilateralen Anotie im Zusammenhang mit eingeschränktem Sehvermögen festgestellt. Die klinische Untersuchung zeigte keine weiteren Anomalien. Die Untersuchung auf eine BVDV-Infektion verlief negativ. Das Pedigree des Kalbes zeigte keine weiteren betroffenen Tiere.

Schlüsselwörter: Kongenitale Anomalie, Kalb, Deutsche Holsteins, Anotie.

BÄHR, C., DISTL, O. (2003): Case report - Bilateral anotia in a German Holstein calf.

Dtsch. tierärztl. Wschr.

Summary

In a female black and white coloured German Holstein calf bilateral anotia and impaired vision was observed. This congenital anomaly is very seldomly seen in cattle. The clinical examination revealed no further anomalies. The test on a BVDV infection was negative. No other affected calves could be detected by examining the relatives.

Key words: Congenital anomaly, calf, German Holsteins, anotia.

9. Bilaterale Anotie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Kongenitale Anomalien des Ohres können das äußere, das Mittel- und das Innenohr betreffen. Die Veränderungen des äußeren Ohres sind meist durch eine mangelhafte Anlage oder Entwicklung des Ohrknorpels und des knöchernen Gehörganges gekennzeichnet. Dazu zählen die Anotie (Fehlen der Ohrmuschel), die Mikrotie (Verkleinerung der Ohrmuschel), die Polyotie (mehrere Ohrmuscheln), die Synotie (Verschmelzung der Ohrmuscheln ventral am Übergang vom Kopf zum Hals mit unvollständig oder nicht ausgebildetem Unterkiefer) und die Ohrkerben (Einkerbungen der Ohrmuschelränder bis zur vollständigen Verstümmelung der Ohren) (DAHME 1999).

Das Auftreten von Ohrkerben beidseits an den Ohren wurde bereits bei verschiedenen Rinderrassen beschrieben. YAMANE (1915) berichtete von Ayrshire-Rindern in Japan mit gekerbten Ohren. LUSH (1922) beschrieb einen Jersey-Bullen mit Ohrkerben. MCDONALD (1957) fand bei Ayrshire-Rindern in Neuseeland ebenfalls Ohrkerben. SCHEIDER et al. (1994) beschrieben beidseitig symmetrisch ausgebildete Ohrkerben bei Highland Cattle in Bayern. Die Autoren teilten die Ohrkerben in drei Grade ein, wobei Ohrkerben 1. Grades bereits deutliche Einziehungen aufwiesen, bei Grad 2 zeigten sich tiefere Kerben und bei Grad 3 traten bereits Stummelohren auf. Das Hörvermögen wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Die Analyse der Pedigrees ließ eine unvollständig dominante Vererbung als sehr wahrscheinlich erscheinen.

Bei Schaf und Ziege wurde sowohl ein beidseitiges Fehlen als auch eine beidseitige Verkürzung der Ohrmuscheln von verschiedenen Autoren (WRIEDT-KVAM 1914;

WRIEDT 1919; 1925; RITZMAN 1916; WASSIN 1928; LUSH 1930; SCHUMANN 1956) beschrieben. Dieser kongenitale Defekt wurde mit einem intermediären Erbgang erklärt, wobei ein Gen im heterozygoten Zustand eine Verkürzung der Ohrmuscheln auf etwa die Hälfte bewirkt, während im homozygoten Zustand die Ohrmuscheln nahezu fehlen. Das innere Ohr ist dabei völlig normal ausgebildet.

9. Bilaterale Anotie bei einem Deutschen Holsteinkalb

(1930) fand ohrmuschellose Karakulschafe und KÄB (1934) beschrieb eine kurzohrige Frankenziege. FISCHER u. ATMADILAGA (1955) untersuchten die Ohrform bei Fettschwanzschafen in Indonesien. Jedoch konnten sie eine Beeinträchtigung des Hörvermögens auch bei beidseitigem Fehlen der Ohrmuscheln nicht bestätigen. In der Humanmedizin fanden HARRIS et al. (1996) bei der Untersuchung von 172 Kindern mit Anotie oder Mikrotie eine deutliche Rassenverteilung, was auf eine genetische Komponente hindeuten könnte. Weiterhin fiel auf, dass ein höheres Risiko für Nachkommen von Frauen ab der 4.

Schwangerschaft bestand.

Material und Methoden

Der Untersuchung liegt ein Fall von bilateraler Anotie eines weiblichen Kalbes der Rasse Deutsche Holsteins, Farbrichtung schwarzbunt, zugrunde. Das Tier wurde am 3.2.2001 geboren. Es wurde eine klinische Untersuchung des Kalbes sowie virologische Untersuchungen auf BVD-Virus-Antigen anhand von Blutproben des betroffenen Tieres, seines Halbgeschwisters und vier weiteren klinisch unauffälligen Jungtieren desselben Bestandes vorgenommen. Weiterhin konnten die Abstammungsdaten erhoben werden, um mögliche gemeinsame Ahnen zu ermitteln.

Ergebnisse Anamnese

Dem Landwirt fielen gleich nach der Geburt des weiblichen Kalbes „Ronja“ die beidseits fehlenden Ohrmuscheln und einige Tage später das herabgesetzte Sehvermögen auf. Die Trächtigkeit der Mutter war ohne besondere Vorkommnisse verlaufen, allerdings hatte erst die 6. Besamung zur Konzeption geführt. Ein derartiger Fall war nach den Angaben des Landwirts auf diesem Betrieb bisher noch nicht aufgetreten. „Ronja“ war das zweite Kalb der Deutschen Holstein Kuh „Ricky“.

Klinische Untersuchung

„Ronja“ wurde im Alter von 2 ½ Wochen klinisch untersucht. Das Kalb war munter und altersgemäß gut entwickelt. Beim Laufen wirkte es orientierungslos und stolperte

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über Gegenstände. Bilateral waren weder Ohrmuscheln noch äußere knöcherne Gehörgänge angelegt. Anstelle der Ohrmuscheln fanden sich beidseits ca. 5 x 5 cm große Hautlappen ohne knorpelige Grundlage. Deshalb konnten auch keine Ohrmarken eingezogen werden. Das Hörvermögen schien stark herabgesetzt bis nicht vorhanden zu sein. Bei der Untersuchung der Augen fielen ein herabgesetzter Pupillarreflex und eine herabgesetzte Drohantwort auf. Als das Kalb im Juli 2001 plötzlich verendete, konnten keine weiteren pathologisch-anatomische Untersuchungen vorgenommen werden.

Die Untersuchung auf BVD-Virus-Antigen verlief bei dem betroffenen Kalb, seinem Halbgeschwister und bei vier weiteren klinisch unauffälligen Jungtieren negativ.

Analyse des Pedigrees

Die Mutter und das erste Kalb der Mutter zeigten normal ausgebildete Ohrmuscheln.

Im Pedigree des Kalbes konnte kein weiteres betroffenes Tier ermittelt werden. Auch auf dem Betrieb war kein weiterer Fall aufgetreten. Der Vater von „Ronja“ war ein Testbulle aus dem Geburtsjahrgang 1998. Weitere Fälle in der Nachkommenschaft dieses Testbullen waren nicht bekannt. Es traten auch keine gemeinsamen Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits auf.

Diskussion

Die bilaterale Anotie, wie sie in diesem Fall beschrieben wurde, ist mit den bereits bekannten Fällen beim Rind aus der Literatur nicht identisch. Obwohl beim Rind Ohrkerben und fehlende Ohrmuscheln auftreten können, sind die anderen Strukturen des Ohres ausgebildet. Im Unterschied dazu fehlte bei dem hier untersuchten Kalb die gesamte knorpelige Grundlage für das Ohr. Statt der Ohrmuscheln befanden sich am Ohrmuschelansatz beidseits je ein rudimentärer Hautlappen. Da Stummelohren nur bei dafür homozygoten Tieren auftreten, müssten bei den Eltern auch

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Auch die bei Schafen und Ziegen beschriebene Mikro- und Anotie ist aus denselben Gründen weder im Erscheinungsbild noch im Erbgang mit dem aktuellen Fall vergleichbar.

Jeder Embryo legt bei seiner Entwicklung im Mutterleib vier Kiemenbögen und vier Kiemenfurchen an, aus denen sich später verschiedene Körperteile entwickeln. Der äußere Gehörgang entwickelt sich aus der ersten Kiemenfurche, indem sie zu einer trichterförmigen Röhre auswächst, die aber durch Epithelwucherungen vorerst wieder verschlossen und erst zum Zeitpunkt der Geburt wieder frei wird. Die Ohrmuscheln entstehen durch die Vereinigung verschiedener Anteile des ersten und des zweiten Kiemenbogens (ROSE 1978; SCHNORR u. KRESSIN 2001). Bei dem hier vorliegenden Fall dürfte es in der Entwicklung zu einer Hemmung bestimmter Prozesse gekommen sein, wodurch sich die Ohrmuscheln und der äußere Gehörgang nicht entwickelten. Somit dürfte die bilaterale Anotie als Hemmungsmissbildung anzusprechen sein.

Eine intrauterine Infektion mit dem BVD-Virus, welches u. a. das okulozerebelläre Syndrom verursachen kann, konnte durch die virologische Untersuchung nicht bestätigt, aber auch mangels präkolostraler BVDV-Antikörperbestimmung nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. Ein hohes Alter der Mutter, wie es in der Humanmedizin auf Grund der Untersuchungen von HARRIS et al. (1996) vermutet wurde, kann hier keine Rolle spielen, da es sich hier erst um das zweite Kalb der Kuh handelte. Auch für weitere umweltbedingte Ursachen für die hier vorliegende Entwicklungsstörung der Ohrmuscheln ließen sich keine Hinweise finden. Die Symmetrie des Defektes spricht eher für eine genetische Ursache und dafür, dass ein Faktor, der die Ausbildung der Ohrmuscheln und der äußeren Gehörgänge induziert, fehlte oder nicht funktionierte. In diesem Fall wäre ein monogen autosomal rezessiver oder oligogener Erbgang denkbar.

Danksagung

Wir danken Herrn apl. Prof. Dr. Martin Kaske, Klinik für Rinder der Tierärztlichen Hochschule Hannover, herzlich für die Ermittlung des Falles.

9. Bilaterale Anotie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Literatur

DAHME, E. (1999): Ohr. In: DAHME, E., WEISS, E. (HRGS.): Grundriß der speziellen pathologischen Anatomie der Haustiere, 5. Auflage Stuttgart: Enke, 457. - FISCHER, H., ATMADILAGA, D. (1955): Untersuchungen über die Ohrform bei Fettschwanzschafen in Indonesien. Berl. Münch. Tierärztl. Wschr. 69, 115-117. - HARRIS, J., KÄLLEN, B., ROBERT, E. (1996): The epidemiology of anotia and microtia. J. Med. Genet. 33, 809-183. - KÄB, E. (1934): Erbliche Stummelohren bei der Ziege. Züchtungskunde 9, 452-453. – LUSH, J.L. (1922): An hereditary notch in the ears of Jersey cattle. J. Hered. 13, 8–13. - LUSH, J.L. (1930): Earlessness in Karakul Sheep. J. Hered. 21, 107-112. - MCDONALD, M.A. (1957): Notched ears in New Zealand dairy cattle. J. Hered., 48, 244-247. – RITZMAN, E.G. (1916):

Mendelism of short ears sheep. J. Agric. Res. 6, 20. - ROSE, B.S. (1978):

Development of the ear. Vet. Med./Small. Anim. Clin. 73, 1372-1375. - SCHEIDER, A., SCHMIDT, P., DISTL, O. (1994): Zur Vererbung von Ohrkerben beim Highland Cattle. Berl. Münch. Tierärztl. Wschr. 107, 348-352. - SCHNORR, B., KRESSIN M.

(2001): Embryologie der Haustiere, 4. Auflage, Stuttgart: Enke, 225-227. - SCHUMANN, H. (1956): Stummelohrigkeit bei der Ziege. Berl. Münch. Tierärztl.

Wschr. 69, 252-254. - WASSIN, B. (1928): Ohrlosigkeit bei Schafen und Ziegen. Z.

indukt. Abstammungs- u. Vererbungslehre 49, 95-104. - WRIEDT, C. (1919): Über die Vererbung der Ohrlänge beim Schafe. Z. indukt. Abstammungs- u.

Vererbungslehre 20, 262-263. - WRIEDT, C. (1925): Die Erblichkeitsverhältnisse der ohrlosen und kurzohrigen Schafe und die Verbreitung dieser Typen in Norwegen. Z.

indukt. Abstammungs- u. Vererbungslehre 36, 430-437. - WRIEDT-KVAM, C. (1914):

Die kurzohrige Schafrasse Norwegens. Jb. Wiss. U. prakt. Tierzucht 9, 266-267. – YAMANE, J. (1915): On the inheritance of an aural abnormality in the Ayrshire cattle.

Faculty Agri. J. 6, 166-172.

9. Bilaterale Anotie bei einem Deutschen Holsteinkalb

Vererbungsforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover, Bünteweg 17p, 30559 Hannover.

E-mail: ottmar.distl@tiho-hannover.de.

Abb.: s. Anhang Abb. 9.1 und 9.2.

Abb. 3: Pedigree des von bilateraler Anotie betroffenen Kalbes.

männliches Tier mit ausgebildeten Ohrmuscheln weibliches Tier mit ausgebildeten Ohrmuscheln betroffenes weibliches Tier