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Partizipative Entscheidungsfindung in der psychiatrischen Akutbehandlung

Im Dokument „Gute Arbeit“ (Seite 109-114)

Das Unterrichtsdesign

21. Partizipative Entscheidungsfindung in der psychiatrischen Akutbehandlung

Birgit Hahn, Daniela Brandtner & Jacqueline Rixe

Hintergrund und Problemstellung

Partizipation als Teilhabe, Mitwirkung oder Mitbestimmung wird im Rahmen von Gesundheitsförderung als wesentlicher Beitrag definiert [1] und wurde schon durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Ottawa – Charta von 1986 international verankert [2]. Im Gegensatz zum Pathogenesemodell des traditionellen Behandlungsansatzes, welcher eher durch ein defizitorien-tiertes Krankheitsmodell gekennzeichnet ist, findet in der Genesungs- und Gesundheitsförderung ein Perspektivenwechsel in Richtung Ressourcen statt [3], wie er im Salutogeneseansatz verfolgt wird [4]. Dieser Ansatz bildet die Grundlage für Konzepte wie Recovery und Selbstbefähigung im Sinne von Empowerment [5, 6] und beinhaltet die Grundhaltung einer aktiven Partizi-pation.

Der ressourcengerichtete Behandlungsansatz bedarf zur Konkretion und Implementierung unterschiedlicher Ebenen. Auf gesundheitspolitischer Ebene ist die Forderung nach Patientenbeteiligung und Gesundheitsförde-rung an unterschiedlichen Stellen der Gesetzgebung als auch in Behand-lungsempfehlungen verankert [z.B. 2, 8, 9]. Auf der Ebene der psychiatri-schen Versorgung wird die Forderung nach Einbezug und Partizipation der Betroffenen inzwischen vielseitig formuliert, ist jedoch insbesondere im Bereich der Akutpsychiatrie bisher nicht flächendeckend zu finden [7]. Dies wird vorwiegend durch die betroffenen Nutzer psychiatrischer Hilfesysteme und deren Angehörige, aber auch von Seiten der in psychiatrischen Versor-gungskontexten Tätigen immer wieder angemahnt und eine Veränderung angeregt.

In der Fachliteratur werden Konzepte wie die Partizipative Entscheidungs-findung (PE) bzw. Shared Decision Making (SDM) und deren Anwendung auf praxisnahe Interventionen in der Akutpsychiatrie erörtert. Auch auf der

Ebene der praktischen Umsetzung können vielfältige partizipative Interven-tionen wie z.B. Offene Tür, Open Dialogue oder Peerberatung identifiziert werden, die in Modellprojekten stattfinden, jedoch nicht auf breiter Basis umgesetzt werden [10, 11].

Zielsetzung und Fragestellung

Partizipation von Betroffenen findet im Bereich akutstationärer psychiatri-scher Versorgung bislang nicht flächendeckend statt. Daher werden folgen-de Fragestellungen untersucht:

− Welche Modelle / Formen von Partizipation der Betroffenen/ Nutzer werden in der Fachliteratur diskutiert?

− Welche Interventionen der PE oder SDM sind in der Akutpsychiatrie zu finden und wie findet deren Umsetzung statt?

− Wie wirkt sich der Einsatz von PE bzw. SDM in der psychiatrischen Akut-behandlung aus?

Methode und Material

Um die Zielsetzung zu verfolgen und die Fragestellungen zu beantworten, wurde eine orientierende Literaturrecherche durchgeführt.

Ergebnisse

In Bezug auf die genannten Fragestellungen können anhand der Fachlitera-tur zunächst theoretische Konzepte wie bspw. PE und SDM als auch subjekt-bezogene Haltungen von Partizipation ausgemacht und beschrieben werden [z.B. 7, 10, 14].

Als Argument gegen die Anwendung von PE und SDM wird u.a. eine einge-schränkte Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen v.a. in akuten Krankheits-phasen genannt. So werden Betroffene z.T. als nicht partizipationsfähig durch die Behandler eingeschätzt. Eine Feststellung der Einwilligungsfähig-keit bzw. -unfähigEinwilligungsfähig-keit kann sich danach unterschiedlich auf die Ausprägung von Partizipation in der psychiatrischen Akutbehandlung auswirken Aber

auch die individuellen Präferenzen oder Erwartungen der Nutzer des Hilfe-systems und Vorbehalte oder Unkenntnis auf Seiten der Behandler wirken sich auf eine aktiv gestaltete Partizipation in der Akutpsychiatrie aus [11].

In diesem Spannungsfeld können psychiatrisch Pflegende durch ihren be-sonderen Beziehungsauftrag einen umfassenden Beitrag zur Umsetzung einer PE leisten. Darüber hinaus findet sich der Hinweis, dass sich PE bzw.

SDM positiv auf eine höhere Nutzerzufriedenheit, stärkere therapeutische Beziehungen oder bessere Behandlungsergebnisse auswirken kann [11, 12].

Auf den unterschiedlichen Ebenen lassen sich verschiedenartige praxisnahe Interventionen in der psychiatrischen Akutbehandlung identifizieren [u.a.

11, 12, 13]:

− Interventionen auf der Systemebene: u.a. Ausbildung der Experten aus Erfahrung (EX-IN), Arbeit von Beschwerdestellen, Trialog, …

− Interventionen in akutpsychiatrischen Settings: u.a. offene Türen, Recovery-Gruppen, Open Dialogue und andere systemische Therapiean-sätze, Einsatz von Safewards-Interventionen, Genesungsbegleitern, ...

− Instrumente der Krisenvorsorge: u.a. Behandlungsvereinbarungen, Kri-senpass, psychiatrische Patientenverfügungen, …

− persönliche Werthaltungen auf Seiten der unterschiedlichen Akteure wie bspw. paternalistische vs. autonomieorientierte Haltung [14], …

Diskussion

Angesichts der zentralen Herausforderung in psychiatrischen Akutsettings, eine Entstigmatisierung der Betroffenen zu fördern, erscheint PE bzw. SDM durch alle Berufsgruppen im psychiatrischen Tätigkeitsfeld indiziert. Auch vor dem Hintergrund der häufig langfristigen Krankheitsverläufe und -bewältigungsprozesse bei psychischen Erkrankungen ist die Stärkung per-sönlicher Ressourcen, Selbstbefähigung und ein Einbezug der Betroffenen in Behandlungsentscheidungen unbedingt erforderlich. Die besondere Gruppe psychisch akuterkrankter Menschen, die nach dem fähigkeitsbasierten Mo-dell der Einwilligungsfähigkeit als nicht einwilligungsfähig einzustufen ist,

erfordert besondere zeitliche und personelle Ressourcen, um Behandlung unter partizipativen Gesichtspunkten zu gewährleisten [11].

Die Forderung, PE bzw. SDM auch in der akutpsychiatrischen Behandlung zu implementieren, ist nicht zu überhören und sollte nicht ignoriert werden.

Um einen Veränderungsprozess auf breiter Basis zu ermöglichen, wird der Einbezug weitergehender Therapien wie z.B. systemische oder psychothera-peutische Angebote, Kommunikationstrainings für psychiatrisch Tätige als auch Fort- und Weiterbildungsangebote unter Einbezug der Nutzer empfoh-len [9, 11].

Schlussfolgerung

Vor dem Hintergrund, dass partizipative Behandlungsansätze wesentlich zu einer höheren Nutzerzufriedenheit als auch zu besseren Behandlungsergeb-nissen führen können, ist deren Beitrag deutlich herauszustellen. Schon deshalb ist Partizipation in der psychiatrischen Behandlung auf allen Ebenen und durch alle Berufsgruppen anzustreben. Dennoch ist weitere Forschung notwendig, um die besonderen Erfordernisse partizipativer Behandlungsge-staltung in akutpsychiatrischen Settings konkreter zu differenzieren und sowohl aus Sicht der Nutzer als auch aus Sicht der Professionellen besser zu verdeutlichen.

Literatur

1. Horch, K., Hintzpeter, B., Ryl, L. & Dierks, M.L. (2012). Ausgewählte Aspekte einer Bürger- und Patientenorientierung in Deutschland – Die Beurteilung aus der Sicht der Nutzer. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Ge-sundheitsschutz 5 (55): 739 – 745.

2. Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa (1986). Ottawa – Charta zur Ge-sundheitsförderung. Online – zuletzt abgerufen 07.07.2018.

http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter _G.pdf

3. Berger, H. (2003). Gesundheitsförderung – ein neuer Weg in der Psychiatrie.

Psychiat Praxis, 30(1): 14 – 20.

4. Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit.

Tübingen: dgvt – Verlag.

5. Chamberlin, J. (1997). A Working Definition of Empowerment. Psychiatric Rehabi-litation Journal. 20 (4): 43 – 46.

6. Knuf, A., Osterfeld, M. & Seibert. U. (2007). Selbstbefähigung fördern – Em-powerment und psychiatrische Arbeit. Bonn: Psychiatrie – Verlag.

7. Reichhart, T., Kissling, W., Scheuring, E. & Hamann, J. (2008). Patientenbeteili-gung in der Psychiatrie – Eine kritische Bestandsaufnahme. Psychiat Prax 35: 111 – 121.

8. Borbé, R. (2011). Die UN-Behindertenrechtskonvention: Feste Größe in einem psychiatriepolitischen Schlingerkurs. Psychiat Prax, 38, 215 – 217.

9. Falkai, P. (2013). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. S3 Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Deutsche Ge-sellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg.). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.

10.Hamann, J. et al. (2005). Partizipative Entscheidungsfindung. Implikationen des Modells des „Shared Decision Making“ für Psychiatrie und Neurologie. Nerven-arzt, 77: 1071 – 1078.

11.Heres, S. & Hamann, J. (2017). „Shared decision-making“ in der Akutpsychiatrie.

Widerspruch oder Herausforderung? Nervenarzt, 88: 995 – 1002.

12.Asani, F. & Eißmann, I. (2009). Die Rolle der Pflege in der Psychiatrie bei der parti-zipativen Entscheidungsfindung. Psych Pflege, 15: 143 – 146.

13.Lang, U. (2013). Innovative Psychiatrie mit offenen Türen: Deeskalation und Partizipation in der Akutpsychiatrie. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.

14.Prestin, E. (2016). Einflussnahme in der psychiatrischen Versorgung: Wünsche aus Betroffenen-Perspektive. Psychiatrrische Pflege, 1(1), 9-12.

22. Konkrete Interventionen zur Förderung von Partizipation

Im Dokument „Gute Arbeit“ (Seite 109-114)