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Nutzung des Freiraums auf der Ebene der Brigaden

Im Dokument FORSCHUNGEN ZUR BALTISCHEN GESCHICHTE (Seite 153-158)

Die studentischen Baubrigaden genossen eine sehr große Popularität in der gesamten Sowjetunion, ebenso in der Estnischen SSR. Der zahlenmäßige Höhepunkt wurde auch hier, wie auf Unionsebene, in der ersten Hälfte der 1980er Jahre erreicht.36 Nebst den praktischen Gründen, wie dem Sammeln von Arbeitserfahrung, dem Verdienst oder den Reisemöglichkeiten, heben vor allem die estnischen Studierenden den Aspekt der Freiheit hervor. Für die einfachen Reihenmitglieder in den studentischen Baubrigaden war der Einfl uss von Institutionen, wie dem Zentralkomitee des Komsomol oder der VSSO kaum spürbar. Einerseits übte der EÜE-Zentralstab eine Art administrative Puff errolle aus. Andererseits befand sich der Zentralstab selbst im „fernen“ Tallinn.37 Diese Umstände trugen vermutlich dazu bei, dass der Alltag in den Baubrigaden in der Estnischen SSR in vielen Fäl-len stark von den erzieherisch-ideologischen Erwartungen und Vorgaben abweichen konnte. Im Folgenden seien einige Beispiele angeführt, wie die Studierenden in einer Baubrigade gegenseitiges Vertrauen aufbauen und den entstandenen Freiraum nutzen konnten.

Alar Sepp, ein ehemaliges EÜE-Mitglied und heute praktizierender Arzt, betont, er sei dem EÜE beigetreten, weil diese Organisation unter

34 EKM-ERA, CD-0241, Eero Lattu, 1998, 14.

35 Vgl. Port, Die rätselhafte Stabilität (wie Anm. 3).

36 Pruuli, EÜE jälg (wie Anm. 5), S. 62.

37 EKM-ERA, CD-0241, Eero Lattu 1998, 14; Tiit Pruuli: Interview mit Ind-rek Ilomets, 5.10.2012 (in Privatbesitz von Pruuli).

allen Arbeitsbereichen des Komsomol die am wenigsten politisierte gewe-sen sei.38 Das System der studentischen Baubrigaden bildete in Estland eine Eigenwelt, welches für den Außenbetrachter den Schein einer streng sozialistisch geregelten Jugendorganisation machte. Dass es sich bei dem EÜE jedoch im Gegenteil um das Angebot eines Freiraums handelte, kommt in den Aussagen von Zeitzeugen explizit zum Ausdruck. Das Gefühl der Freiheit, welches die Brigaden boten, wird in der folgenden Schilderung von Andres Ader, einem langjährigen EÜE-Mitglied und heutigem Künstler, deutlich:

„Die zwei Monate [des EÜE-Arbeitssommers; A.U.] haben die rest-lichen zehn Monate wettgemacht. Das war die Freiheit, die Unabhän-gigkeit (…), weil in der Realität in den Brigaden, wenn du das wirklich wolltest, dann hast du ein solches Leben gelebt, wie du es dir selber gewünscht hast. Für Jahre schien es die beste Möglichkeit, den Som-mer zu verbringen.“ 39

Ein prägnantes Beispiel für die Bildung einer EÜE-Eigenwelt stellten in Estland die sogenannten Stilbrigaden dar. Es handelte sich um Briga-den, die ihren Arbeitssommer einem bestimmten Th ema beziehungsweise

„Stil“ widmeten. Einen besonders ausgeprägten „Stil“, eine Art Perfor-mancekonzept, hatte die Brigade Persostrat (1981), welche sich dem Th ema Fliegen und Kommunismus widmete und sich als eine Art Parodie auf die sowjetische Technikgeschichte verstand. Der Name Persostrat (rus.

Abkürzung für pervyj sovetskij stratostat = erster sowjetischer Stratosphä-renballon) war einem Buch mit alten, besonders „revolutionären“ Vorna-men aus der Stalin-Zeit entnomVorna-men. Wie die VornaVorna-men „Barrikada“ oder

„Konstitucija“ zeichnete sich Persostrat durch einen besonders pathetisch-revolutionären Klang aus.40 Die Verpackung schützte in diesem Fall die Mitglieder der Brigade davor, als politisch Andersdenkende abgestempelt und damit Disziplinarmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Für die estni-sche Jugend der 1980er Jahre und die Bevölkerung in der Estniestni-schen SSR war die Ironie bei der Verwendung dieser Namen off ensichtlich. Die Bri-gadeleiter von Persostrat kleideten sich in sowjetische Armeemäntel und trugen lederne Fliegermützen. In den Liedern der Brigade wurde das Th ema Fliegen, wo immer möglich, integriert.41 Allerdings waren nicht alle Stilbrigaden so explizit in ihrem Auftreten. Oft versuchten sie mittels kleiner Details, wie etwa Wortspielen und Zweideutigkeiten in der

Bri-38 Alar Sepp: ENSV – TRÜ – EÜE. Eesti Üliõpilaste Ehitusmalev, oma ajastu laps [ESSR – TRÜ– EÜE. Die Estnischen Studentischen Baubrigaden, ein Kind der da-maligen Zeit], in: Tartu Ülikooli Ajaloo Küsimusi 30 (1998), S. 134-140, hier S. 134.

39 EKM-ERA, CD-0241, Andres Ader, 1998, 1.

40 Zudem hat der Name Persostrat, abgekürzt Perso, auf Estnisch einen leicht un-gehobelten Unterton.

41 Lauri Vahtre: Meenutusi kadunud maailmast ehk keskkoolist, ülikoolist, mat-kadest, väljakaevamistest ja muust aastail 1975–1984 [Erinnerungen an eine verggene Welt: die Schulzeit, Universitätsjahre, Wanderungen, Ausgrabungen und an-deres während der Jahre 1975–1984], Tallinn 1999, S. 149-153.

gadesymbolik, eine eigene Gruppenidentität zu schaff en. Im Gegensatz dazu war die offi zielle VSSO-Symbolik unter den Baubrigaden der Est-nischen SSR wenig beliebt.42

Zur Entstehung und Reproduktion des Freiraums trugen die im Laufe der Jahre hervorgebrachten EÜE-Traditionen bei, welche sich stark an den damals verbotenen bürgerlichen Studentenverbindungen orientierten.

Diese Traditionen wurden meistens im Verborgenen, abseits von größeren Menschenversammlungen reaktiviert. Dabei stand das Gemeinschaftser-lebnis im Vordergrund, denn es verstärkte das gegenseitige Vertrauen in der Gruppe. Eine der diesbezüglich wichtigsten Traditionen war die Taufe der neuen Mitglieder, der „Füchse“ (rebaseks löömine). Sie hat in Estland ihren historischen Ursprung in den Gymnasien und Universitäten vor 1940.

Es handelte sich dabei um ein Begrüßungs- und Aufnahmeritual, das in den Baubrigaden während der ersten Arbeitswoche erfolgte. Es bestand meistens aus drei Teilen: einem Eid auf die Organisation, verschiedenen ungewöhnlichen Aufgaben und, nach bestandener Prüfung, einer Feier.

Die neuen Mitglieder der Brigade Iru (1971) z.B., die in einer Gefl ügelfa-brik bei Tallinn arbeiteten, mussten den folgenden Eid ablegen:

„Ich, Irukas, trete über die Schwelle des Iru-Palastes und knie vor unseren Fraktionsmitgliedern und schwöre, alle mir aufgetragen großen und kleinen Aufgaben ohne Widerspruch zu erfüllen; die Piss-bude zu reinigen, zu säubern, zu kratzen und zu putzen; mich selbstlos um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Hüh-ner der Gefl ügelfabrik zu kümmern. Ich schwöre, niemals die Tage, die ich in Iru verbracht habe, zu vergessen und unsere Freundschaft zu verraten. Falls ich, Irukas, das machen sollte, soll der Fluch der Hähne auf mich kommen und die Erde unter meinen Beinen zerplatzen und der Gestank der Flügelfabrik auf mich kommen.“ 43

Einerseits betont der Eid die neue Identität, das Irukas-Sein, die beim Eintritt in die Brigade übertragen wird. Andererseits betont er aber auch die Besonderheit der Gemeinschaft, indem er auf die wertvollen neuen Freundschaftsbande und die anstehenden gemeinsamen Erlebnisse ver-weist. Mit Verweis auf den potentiellen Verrat an den Freunden wird das Neumitglied zudem zur Verschwiegenheit aufgefordert.

Gefördert wurde das Gemeinschaftsgefühl und gegenseitiges Vertrauen auch durch die geringe Größe der Brigaden, die aus 15 bis 25 Personen bestanden, und durch deren Zusammensetzung. Entgegen der Vorschriften aus Moskau bestanden die Brigaden in der Estnischen SSR aus verschie-denen Studien- und Jahrgängen. Dabei konnten zwischen immer neuen Menschen auch neue Ansichten ausgetauscht werden. Dies führte auch dazu, dass sich im Laufe der Zeit ein großes informelles EÜE-Netzwerk

42 Airi Uuna: Gesellschaftliche Freiräume in einem autoritären System: Die Stu-dentischen Baubrigaden in der Estnischen SSR. Masterarbeit, Berlin 2014, S. 56ff .

43 Zit. nach Pruuli, EÜE jälg (wie Anm. 5), S. 110.

in der Estnischen SSR etablierte.44 Damit ähnelte diese Struktur sehr stark studentischen Verbänden oder Burschenschaften, die jedoch als Relikte der kapitalistischen Welt während der Sowjetzeit verboten waren. 45

Als Repräsentanten des Komsomol und damit der im Ideal aufgeweck-ten, aktiven sowjetischen Jugend sowie der Kommunistischen Partei, hat-ten die studentischen Baubrigaden eine Vorbildfunktion inne. Laut Vor-schrift wurden von ihnen ein korrektes äußeres Erscheinungsbild sowie ein vorbildliches Verhalten erwartet46, wie beispielsweise das so genannte

„Trockengesetz“ einzuhalten.47 Dabei handelte es sich um ein generelles Alkoholverbot, das sich über den gesamten Arbeitssommer erstreckte.

Seit den Anfangsjahren des EÜE wurde jedoch in den Brigaden immer Alkohol konsumiert. Die Journalistin und Beobachterin des EÜE, Silvia Karro, weiß zu berichten, dass im Laufe der 1970er und 1980er Jahre der Alkoholkonsum immer exzessivere Züge annahm.48 Eero Lattu zufolge stellte der Alkohol einen wichtigen Bestandteil des Lebens in den Briga-den dar. Er trug zu einem gewissen Lebensgefühl bei. Um Arbeitsunfälle zu vermeiden, achteten die Brigadeleiter darauf, dass der Alkoholkonsum außerhalb der Arbeitszeit stattfand. Lattu meint, dass die Arbeitsdisziplin in seiner Brigade trotz des Alkoholkonsums nicht besonders gelitten habe.

Einerseits sei man bei der Arbeit „mehr oder weniger nüchtern“ gewesen.

Andererseits hätten einen die Brigademitglieder schief angesehen, wenn man wegen eines Katers die Disziplin nicht aufbringen konnte, zur Arbeit zu erscheinen.49

Zu den anderen, den wohl beliebtesten Traditionen zählten die Brigade-hochzeit (malevapulm) und die symbolische Beerdigung (matused), welche letztendlich immer als Grund für eine Feier dienten.50 Bei Beerdigungen konnte und wurde prinzipiell alles Mögliche beerdigt, wie z.B. die Freiheit, der Alkohol oder der Geist der Baubrigade. Solche Beerdigungen waren aufwendige Veranstaltungen, wie Andres Ader, ein langjähriges EÜE-Mitglied und heute künstlerisch tätig, zur Beerdigung des EÜE-Geistes (maleva vaimu matused) zu berichten weiß:

44 Lauri Vahtre: Elu-olu viimasel vene ajal. Riietus ja mööbel, toit ja tarbe-riistad, sõiduvahendid, eluase ja muu [Der Alltag während der letzten russischen Zeit. Kleidung und Möbel, Essen und Haushaltsgeräte, Wohnort und anderes], Tallinn 2002, S. 89

45 Toomas Hiio: Üliõpilaskond, õppetöö korraldus, üliõpilasolme ja üliõpilaselu 1960.–1980. aastatel [Studentenschaft, Organisation der Lehre, Alltag der Stu-denten und studentisches Leben während der 1960er–1980er Jahre], in: Universi-tas Tartuensis 1632–2007, hrsg. von Dems. und Helmut Piirimäe, Tartu 2007, S. 565-583, hier S. 578.

46 Üliõpilasrühma põhikiri (wie Anm. 26), S. 16.

47 Ebenda, S. 19.

48 EKM-ERA, CD-0244, Silvia Karro, 1999, 10.

49 EKM-ERA, CD-0241, Eero Lattu, 1998, 11.

50 Pruuli, EÜE jälg (wie Anm. 5), S. 107-122.

„Es war wirklich ein Sarg. Das ging so, dass im Sarg eine Bierkiste und eine Flasche Vana Tallinn [ein starker estnischer Likör; A.U.] lagen (…). Die Männer trugen den Sarg sorgfältig. Ein spezieller EÜE-Trauermarsch wurde dafür geschrieben. Der Pastor und ein russisch-orthodoxer Priester hielten eine Messe (…). Und dann wurde er [der EÜE-Geist; A.U.] begraben und es wurde eine Trauerfeier abgehalten.

Am frühen Morgen konnte man Grabplünderer sehen, die das Grab schon ausbuddelten.“ 51

Nebst den oben beschriebenen Traditionen und studentischen Strei-chen, war das Liedgut der EÜE ein wichtiges Medium für soziale Kritik.

Der Charakter der Lieder war sehr vielfältig. Es gab Balladen, Roman-zen, Parodien und nebst Neuschöpfungen wurde auch gerne bekanntes Liedgut neu interpretiert. Für letzteres wurden auch ausländische Musik-stücke verwendet, wie Melodien von Frank Sinatra, Queen, Village People, Toto Cutugno, Th e Beatles, Leonard Cohen, ABBA oder Jimi Hendrix.

Inhaltlich handelten die Lieder von allem Möglichen, von der Liebe, dem Leben, dem KGB, den gesellschaftlichen Gegebenheiten, den aktuellen politischen Ereignissen und natürlich vom Brigadeleben selber.52 Diese Lie-der stellten einen wichtigen Bestandteil des Brigadealltags und Lie-der EÜE-Sommerfeste dar, wo die Studenten diese dann quasi öff entlich vortrugen.

Manche Lieder nahmen explizit Bezug auf das aktuelle politische Geschehen, wie z.B. das Lied der Brigade Euromais (1982). Angesichts ihrer innoffi ziellen Umbenennung in „Brigade NATO und Großbritan-nien“ überrascht es nicht, dass sich diese Th ematik auch in einem ihrer Lieder niederschlug. Zu einer sehr bekannten amerikanischen Volksme-lodie, dem „Yankee Doodle“, dichteten sie ironisch-kritische Textpassa-gen, welche die damals aktuellen politischen Entwicklungen spiegelten.

So verweisen sie in einer Passage auf die politischen Ereignisse in Polen, die Bewegung „Solidarność“ und die Ausrufung des Kriegsrechtes: „Der Junta-Mann mit goldenen Schulterstücken / randaliert in Polen“. In einem anderen Vers wird auf die Ost-West-Konfrontation angespielt: „Wenn der tollwütige russische Bär / den Ärmelkanal erreicht / dann schützt Gott England / und fesselt dem Tier das Maul“. Das Ganze wurde mit einem beschwingten Refrain unterlegt, der folgendermaßen lautet: „EÜE und

„Euromais“ / sind eine einige NATO-Familie / Reagan, Th atcher und Pinochet hätscheln sie / und sagen ihr „Hallo!“ / I love Th atcher!“.53 Diese Verse schwankten zwischen absurden und mehrdeutigen Aussagen. In ihrer

51 EKM-ERA, CD-0240, Andres Ader, 1998, 26.

52 Tiit Pruuli: Interview mit Andrus Rootsmäe, 18.1.2013 (in Privatbesitz von Pruuli). Die EÜE-Lieder waren so populär, dass heute sogar mehrere Liederbü-cher, wie das „EÜE laulik“ (siehe Anm. 53) und CDs kommerziell erhältlich sind.

53 EÜE Euromais (1982): Me vaenlased [Baubrigade Euromais (1982): Unsere Erzfeinde], in: EÜE laulik, Tallinn 1998, S. 36. – Für die Übersetzung wurde zu-sätzlich auf eine Version von Tea Vassiljeva zurückgegriff en, die erscheinen wird in Mati Laur: Der „normale Widerstand“: Spiel und Symbolik als Ausdruck der an-tisowjetischen Gesinnung unter den estnischen Studenten in den 1970er und 1980er

Gesamtheit stellten sie aber eine ironisch-kritische Auseinandersetzung mit der internationalen politischen Tagesaktualität dar.

Für die Studenten konnte dies nebst Schwierigkeiten mit der Miliz und dem KGB auch zur Exmatrikulation aus der Universität mit gravieren-den Folgen für die berufl iche Zukunft führen.54 Vor diesem Hintergrund überrascht das Risiko, das im Rahmen des Brigadealltags trotzdem ein-gegangen wurde. Es zeugt einerseits von einem beträchtlichen politischen Freiraum, der auf Brigadeebene möglich war. Andererseits verweist es auf das große Vertrauensverhältnis, das innerhalb der Brigaden und den EÜE-Mitgliedern insgesamt herrschte.

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