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Kettenreaktionen im 19. Jahrhundert

Im Dokument FORSCHUNGEN ZUR BALTISCHEN GESCHICHTE (Seite 91-94)

So war es eine Tatsache, dass sich die Bevölkerung der russischen Ost-seeprovinzen und Lettgallens zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegenseitig kaum kannte.72 Die traditionellen Eliten in Kurland und Livland waren deutschsprachig, in Lettgallen polnischsprachig. Ein Verlust der kulturel-len Identität in Westen bedeutete Germanisierung, in Lettgalkulturel-len – Polo-nisierung. Livland und Kurland besaßen im Russländischen Reich eine privilegierte Stellung mit einer beträchtlichen Selbstverwaltung des deut-schen Adels, Lettgallen war seit dem frühen 17. Jahrhundert eine entfernte Provinz Polen-Litauens und inzwischen Teil einer unauff älligen Provinz des Russländischen Reiches. Die Letten der Ostseeprovinzen waren zum größten Teil Lutheraner mit einer kritischen Haltung gegenüber der von deutschen Pastoren dominierten Kirche. Das religiöse Leben in Lettgal-len war durchweg von der römisch-katholischen Kirche geprägt, zwischen Klerus und Gemeinden bestanden enge Beziehungen.73 Durch diese im Prozess unterschiedlicher Konfessionalisierung bewirkten Unterschiede kam es im Weiteren zu jeweils unterschiedlichen Kettenreaktionen, die die westlichen und östlichen Landesteile des heutigen Lettland noch wei-ter auseinanderbrachten.

Während die Leibeigenschaft in Livland und Kurland auf Betreiben der Ritterschaften bereits 1817 bzw. 1819 aufgehoben worden war und seit-dem an der Agrarfrage gearbeitet wurde, galt die Leibeigenschaft für die

69 Benz, Katholiken in Lettgallen (wie Anm. 29), S. 449; Soms, Entstehung (wie Anm. 5), S. 162.

70 Vanags, Literatur (wie Anm. 66), S. 282f.

71 Vgl. Karte 1: Sprachgebiete in den baltischen Landes im 16. und 17. Jahrhundert, in: Die baltischen Lande im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Teil 1 (wie Anm. 41), S. 13.

72 Andrejs Plakans: Regional Identity in Latvia: Th e Case of Latgale, in:

Forgotten Pages in Baltic History. Diversity and Inclusion, hrsg. von Martyn Housden und David J. Smith, Amsterdam und New York 2011 (On the Boundary of Two Words: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics, 30), S. 49-70, hier S. 54: „On the other hand, the fates seemed to have conspired to render these populations largerly unrecognizable to each other“.

73 Ebenda.

Landbevölkerung Lettgallens bis zur allgemeinen russischen Bauernbe-freiung von 1861. Während dadurch in den westlichen Gebieten deutlich eher „Voraussetzungen für die Entstehung einer wirtschaftlich lebensfä-higen lettischen Bauernschicht“ und damit in der Folgegeneration für die Entstehung eines lettischen Bürgertums und einer lettischen Intelligenz-schicht gegeben waren, erfolgte die Bauernbefreiung in Lettgallen nach

„russischem Muster“ mit erheblichen Hemmnissen für die weitere Ent-wicklung auf dem Dorf .74

Unter dem Eindruck der polnischen Aufstände setzte die russischen Regierung 1865 für Lettgallen ebenso wie für die damaligen litauischen Gouvernements ein Druckverbot von Büchern in lateinischer Schrift durch, das auch für Lettgallen galt und bis 1904 Bestand hatte;75 aufgrund ihrer mit der ritterschaftlichen Selbstverwaltung verbundenen evangelischen Konfession bestand ein solches Verbot für die russischen Ostseeprovinzen und damit für die dort lebenden Letten nicht. Dieses Verbot bewirkte bei der Bevölkerung Lettgallens, welche die Druckerzeugnisse in kyrillischen und gotischen Buchstaben ebenso wie Schriften im „baltischen Lettisch“

ablehnte und dann eher zu polnischen Publikationen griff , entgegen der Absicht der russischen Regierung eine zusätzliche Polonisierung.76 Wäh-rend sich dadurch in den 1880er Jahren in den russischen Gouvernements Livland und Kurland eine diff erenzierte weltliche Literatur in lettischer Sprache entfaltete, bestand in Lettgallen bis zum Beginn des 20. Jahrhun-derts der Lesestoff in lettgallischer Sprache vor allem aus illegal verbreite-ten religiösen Schrifverbreite-ten und Kalendern. An der Wende zum 20. Jahrhun-dert hatten die westlichen Letten bereits ein materiell und personell gut ausgestattetes Netzwerk aufgebaut, das sich gegen die deutsche Vorherr-schaft richtete. In Lettgallen war um diese Zeit an ähnliche Organisati-onen außerhalb der Kirche nicht einmal zu denken.77

Vor diesem Hintergrund erfolgte das „nationale Erwachen“ in den Ost-seeprovinzen und in Lettgallen nicht gleichzeitig.78 Während sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der lettischen Bevölkerung von Kurland und Livland in kultureller und politischer Hinsicht bei allen Gegensätzen eine gemeinsame lettische Haltung herauszubilden begann,

74  Benz, Katholiken in Lettgallen (wie Anm. 29), S. 447f.; Harry T. Willetts:

Die russische Agrarfrage nach der Bauernreform, in: Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, hrsg. von Dietrich Geyer, Köln 1975, S. 168-187, hier S. 173ff .; Gert von Pistohlkors: Die Ostseeprovinzen unter russischer Herrschaft (1710/95–1914), in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder, hrsg. von Dems., Berlin 1994, S. 265-450, hier S. 357f.

75  Benz, Katholiken in Lettgallen (wie Anm. 29), S. 449f.; entsprechend Soms, Ivanovs, Historical Peculiarities (wie Anm. 2), S. 16; vgl. bereits 1864 für die Gouvernements Vitebsk und Mogilev: http://lt.wikipedia.org/wiki/Spaudos_

draudimas#/media/File:Edict_of_Muravyov_in_1864.jpg (letzter Zugriff 26.1.2016).

76 Benz, Katholiken in Lettgallen (wie Anm. 29), S. 451.

77 Plakans, Regional Identity (wie Anm. 72), S. 55.

78 Ebenda, S. 52.

waren bis dahin in der Bevölkerung Lettgallens kaum gesamtlettische Vorstellungen aufgekommen. An der Diskussion um die nationale Frage und die Zukunft des lettischen Volkes war die Bevölkerung Lettgallens kaum beteiligt.79

In den lettischsprachigen Publikationen Livlands und Kurlands wurde die lettgallische Sprache als „Dialekt“ des Lettischen angesehen, in den nationalen Vorstellungen der lettischen Aktivisten der westlichen Provin-zen sollte der „lettgallische Zweig“ des lettischen Volkes in alle Diskussi-onen über die künftige staatliche Gestaltung Lettlands einbezogen wer-den, wobei man auf ein „nationales Erwachen“ und das Erkennen einer gemeinsamen Identität der Lettgaller mit dem gesamten lettischen „Volk“

hoff te.80 Demgegenüber wuchs in Lettgallen zwar die Zahl derer, die eine Einheit mit den Letten in Kurland und Livland befürworteten, mit denen sie sich als ein Volk fühlten. Noch um das Jahr 1900 standen viele jedoch in deutlicher Distanz zu den Letten in den Ostseeprovinzen und forderten eine gesonderte lettgallische Autonomie innerhalb eines refor-mierten Russländischen Reichs.81 Für die Letten in Liv- und Kurland war die Muttersprache der wichtigste Indikator ihrer nationalen Identität, in Lettgallen war der römische Katholizismus Grundlage für die Vorstel-lung einer größeren Gemeinschaft.82 Auf die Frage nach der Nationalität wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Lettgallen häufi g geant-wortet: „Ich bin Katholik“.83

Trotz alledem stimmte der Erste Lettgallische Kongress in Rositten – eine Versammlung von 238 Delegierten diverser lettgallischer Organisa-tionen – im März 1917 mehrheitlich für eine staatliche Vereinigung des Landes mit dem westlichen Lettland, unterstrich aber gleichzeitig den Wunsch nach einer vor allem in sprachlicher Hinsicht weitgehenden Auto-nomie.84 Zwar verstärkte die folgende Gründung des lettischen Staates auch in Lettgallen die Möglichkeit, sich mit einem gesamten lettischen Volk zu identifi zieren.85 Doch konnte auch der neue Staat nicht die indi-viduelle und kollektive Identifi kation aller in ihm lebenden Lettischspra-chigen auf sich vereinigen.86 In Lettgallen blieb das verbreitete Gefühl, mit der eigenen Identität und Sprache von der Regierung in Riga zu wenig beachtet zu werden.87

79 Ebenda, S. 51.

80 Ebenda, S. 52.

81 Ebenda, S. 53, 55f.

82 Ebenda, S. 56.

83 Benz, Katholiken in Lettgallen (wie Anm. 29), S. 443.

84  Plakans, Regional Identity (wie Anm. 72), S. 57; vgl. Benz, Katholiken in Lettgallen (wie Anm. 29), S. 459f.

85 Plakans, Regional Identity (wie Anm. 72), S. 56.

86 Ebenda, S. 56f.

87 Ebenda, S. 50.

Fazit

Die regionalen Unterschiede, die heute noch zwischen Lettgallen und dem westlichen Lettland hervortreten, sind damit – rückblickend betrachtet – zu einem ganz wesentlichen Teil auf den gegenläufi gen Gang der Kon-fessionalisierung und deren Folgen im 19. Jahrhundert zurückzuführen.

Bei der Grenzziehung im 17. Jahrhundert handelte es sich von keiner der beteiligten Seiten um eine Wiederherstellung älterer ethnischer Gren-zen. Eine Kontinuität der mittelalterlichen „Lettgaller“ zu der heutigen Bevölkerung Lettgallens besteht allein dem Namen nach, der um 1900 in Rückgriff auf frühere Jahrhunderte der lettischen Bevölkerung der damals zum Gouvernement Vitebsk gehörenden Kreise gegeben wurde. Ethnisch erscheinen die mittelalterlichen Träger dieses Namens als Vorfahren der heutigen Lettgaller ebenso wie der westlichen Letten, wobei ein sprach-licher und identitätsstiftender Ausgleich in den jeweiligen heutigen Lan-desteilen Lettlands erst seit dem 17. Jahrhundert erfolgte. Es war die von der jeweiligen adligen Schicht getragene unterschiedliche Konfessionali-sierung, die – wie an anderen Stellen Europas – auch im Gebiet des heu-tigen Lettland die damalige Gesellschaft „an den Wurzeln“ umgestaltete.

Gegenüber diesem fundamentalen Einschnitt ist die Kontinuität einzel-ner aus früheren Jahrhunderten herrührender Elemente in Folklore oder Mythologie zwar weiterhin zu verfolgen88 und durchaus von Interesse. Ihre Identität stiftende Relevanz kann gegenüber den durch die Konfessiona-lisierung bedingten Veränderungen aber nur verblassen.

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