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6.1 Flucht und Kampf

Auf Bedrohungen, so Myschker und Stein, reagiert unser Gehirn mit Signalen, die zu psychischen oder physischen Handlungen führen (2018, S. 455). Je nach Einschätzung der Gefahr wird dann entweder Flucht oder Kampf ausgelöst (Flight-or-Fight-Syndrom) (ebd.). Das Ich hat die Aufgabe, bei Gefahr rechtzeitig Gegenmassnahmen einzuleiten (Myschker & Stein, 2018, S. 456). Allerdings gibt es auch Gefahren, die als nicht zu bewältigen eingeschätzt werden. Darauf reagiert unser Gehirn beispielsweise mit Verdrängung oder Projektion (ebd.). Befindet sich ein sozial ängstliches Kind in einer sozialen Situation, kann es diese als bedrohlich empfinden.

In einem solchen Moment arbeitet sein Gehirn in hohem Tempo, um zu entscheiden, welche Signale an den Körper gesendet werden (ebd.). Allerdings geht es um viel mehr als die Entscheidung zu Flucht oder Kampf. Angst zeigt sich nebst dem Verhalten eines Kindes auch auf der kognitiven Ebene (ebd.).

Diese Flucht oder Kampf Entscheidung wird in einem bestimmten Teil des menschlichen Gehirns getroffen, die von Rotthaus folgend beschrieben wird:

Dieser Bereich sorgt für die Sicherheit und das Überleben des Menschen. Dabei handelt es sich um das Angstzentrum, welches auch Amygdala genannt wird. Dieses Angstzentrum kooperiert mit dem nahegelegenen Bereich, Hippocampus, der für die Erinnerung zuständig ist. Wird nun eine bestimmte Situation wahrgenommen, geschieht eine blitzschnelle Abgleichung seitens des Angstzentrums mit dem Hippocampus. Dabei wird entschieden, ob es sich um einen bereits bekannten Reiz handelt oder um etwas völlig Unbekanntes oder Gefährliches. Ist Letzteres der Fall, wird im Bruchteil einer Sekunde eine Notfallreaktion ausgelöst und der Körper auf Flucht oder Kampf vorbereitet. Meistens wird der Reiz zur vorderen Hirnregion, dem präfrontalen Kortex, weitergeleitet, der die Aufgabe hat, eine ruhigere Beurteilung durchzuführen. Auch hier wird die Situation als bekannt oder unbekannt, gefährlich oder ungefährlich eingeschätzt. Wird die Situation als ungefährlich eingestuft, sendet die Hirnregion ein Signal an das Angstzentrum, damit Beruhigung eintritt. Ist die Situation nicht lebensbedrohlich, aber möglicherweise gefährlich, wird ein gewisses Mass an Angst aufrechterhalten, um den Menschen zu vorsichtigem Verhalten zu veranlassen. Der präfrontale Kortex ist die Hirnregion, die am spätesten ausreift. Dies geschieht oft erst im jungen Erwachsenenalter, was die oft heftigen Gefühlsschwankungen im Jugendalter erklärt (2020, S. 24f.).

Obwohl viele Kinder und auch Erwachsene unter starker Angst leiden, ist Angst das wichtigste Gefühl aller Lebewesen (ebd.). Es veranlasst uns dazu, gefährliche Dinge mit grosser Aufmerksamkeit zu tun und bewahrt uns davor, ein Verhalten zu zeigen, das lebensgefährlich ist (ebd.). Manchmal wird die Angst allerdings zu gross und normale und ungefährliche Verhaltensweisen werden beeinträchtigt (ebd.)

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6.2 Das kognitive Modell

Wird die Angst allerdings zu stark, hält sie das Kind zurück und verhindert Entwicklungen (Friedrich & Friebel, 2011, S. 11). Besonders bei der Sozialen Phobie kann diese Entwicklungshemmung zu gewissen kognitiven Prozessen führen. In einem ersten Schritt geht es um Prozesse, die ausgelöst werden, wenn sich eine Person mit Sozialer Phobie in eine gefürchtete soziale Situation begibt (Clark & Ehlers, 2002, S. 1579).

Dabei gibt es folgende drei Kategorien, die zu dieser Einschätzung der Situation führen (Clark & Ehlers, 2002, S. 158):

- Übertrieben hohe Standards für das soziale Auftreten: «Ich muss immer etwas Interessantes zu sagen haben».

- Konditionale Überzeugungen über die Konsequenzen des eigenen Verhaltens: «Wenn ich still bin, werden die Leute denken, dass ich langweilig bin».

- Unkonditionale negative Überzeugungen über sich selbst: «Ich bin langweilig/dumm».

Solche Annahmen führen dazu, dass Personen mit Sozialer Phobie ihr Scheitern im Erreichen des Zieles, einen guten Eindruck zu hinterlassen, erwarten (ebd.).

Betroffene Personen beginnen uneindeutige Reaktionen anderer als negative Bewertung zu interpretieren (ebd.). Dies führt zur Auslösung verschiedener Teufelskreise, die die Angst aufrechterhalten (ebd. Wenn Menschen mit einer sozialen Angststörung glauben, dass eine negative Bewertung von anderen Personen droht, verlagern sie ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst (ebd.). Sie beobachten ihre Handlungen und Gedanken sehr detailliert und gewinnen dadurch Informationen über ihr Wirken auf andere Personen (ebd.). Diese selbstfokussierte Aufmerksamkeit führt die Betroffenen in ein geschlossenes System, in dem sie keinerlei Reaktion anderer Menschen mehr wahrnehmen können (ebd.). Clark und Ehler beschreiben, dass zu diesem negativen Eindruck der eigenen Person auch Verzerrungen der Wirklichkeit hinzukommen (ebd.). Ein Beispiel: Wenn sozial ängstliche Personen sich zittrig fühlten, haben sie das Gefühl, dass andere ihre Hände massiv zittern sehen würden (ebd.). In Wirklichkeit ist das Zittern jedoch kaum bemerkbar oder sogar gar nicht sichtbar. Diese falschen Vorstellungsbilder sind keine realistischen Repräsentationen ihrer Erscheinung, sondern eine Visualisierung ihrer Ängste (ebd.).

9 Beitrag aus dem Sammelband Stangier, U. & Fydrich, T. (Hrsg.). (2002). Soziale Phobie und Soziale Angststörung: Psychologische Grundlagen, Diagnostik und Therapie. Göttingen: Hogrefe.

16 Wie in der Abbildung (Clark & Wells, 1995, zit. in Stangier & Fydrich, 2002, S. 159) zu erkennen ist, bildet sich ein Teufelskreis. Die soziale Situation aktiviert die kognitiven Schemata, bei denen die Situation als gefährlich oder ungefährlich eingestuft wird. Die vermeintliche Bedrohung führt zum Sicherheitsverhalten und zur Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Selbst. Zudem erscheinen körperliche und kognitive Symptome wie Zittern oder Erröten (Clark & Ehlers, 2002, S. 158). Durch das Einsetzen des Sicherheitsverhaltens, erfolgt eine falsche Schlussfolgerung der Situation, wodurch sich bei zukünftigen Situationen eine falsche Einschätzung ergibt (vgl. Abbildung 3, Clark & Wells, 1995, zit. in Stangier & Fydrich, 2002, S. 159). Für Personen mit einer Sozialen Angststörung ist es extrem schwierig alleine aus diesem Teufelskreis herauszukommen (vgl. Abbildung 3).

6.3 Sicherheitsverhalten

Clark und Ehlers beschreiben, dass sich betroffene Personen selbst nach längerer Konfrontation mit stark angstauslösenden Reizen nicht davon überzeugen können, dass eine Katastrophe nicht eintreten wird (Clark & Ehlers, 2002, S. 160). Dieses Phänomen hängt mit dem sogenannten Sicherheitsverhalten zusammen (Salkovskis, 1991/1996, o.S., zit. in Clark & Ehlers, 2002, S. 160). Dieses Sicherheitsverhalten wird eingesetzt, um eine Katastrophe zu verhindern oder sie möglichst minimal zu halten (ebd.). Anstatt darauf zu schliessen, dass eine Situation vielleicht doch nicht so gefährlich ist, wie sie scheint, führen sozial ängstliche Personen das Nicht-Eintreten der Katastrophe auf ihr Sicherheitsverhalten zurück (ebd.). Das Sicherheitsverhalten kann auf unterschiedliche Weise angewandt werden. Jemand der beispielsweise Angst davor hat, in einem Gespräch langweilig oder dumm zu erscheinen, setzt die

Abbildung 3 Modell der Prozesse, die bei sozialphobischen Menschen ausgelöst werden, wenn sie in soziale Situationen geraten (Clark & Wells, 1995, zit. in Stangier & Fydrich, 2002, S. 159)

17 Strategie ein, sich alles zu merken, was im Gespräch schon gesagt wurde (Clark &

Wells, o.J., o.S., zit. in Clark & Ehlers, 2002, S. 160). Verläuft die Unterhaltung gut, denkt die betroffene Person, dass es nur gut ging, weil sie sich alles so genau gemerkt hat (ebd.). Hätte sie die Unterhaltung nicht so genau überwacht, so denkt die Person, hätte das Gegenüber bemerkt, wie langweilig und dumm sie sei (ebd.).

Basierend auf dem kognitiven Model von Clark und Wells treffen sozial ängstliche Personen aufgrund früherer Erfahrungen eine Vielzahl von Annahmen, welche um Befürchtungen kreisen, ob und in welcher Form andere Personen die eigene Person negativ bewerten (1995, o.S., zit. in Büch et al., 2015, S. 13). Daraus resultieren folgende vier problematischen Verhaltensweisen (Clark & Wells, 1995, o.S., zit. in Büch et al., 2015, S. 13f.):

- Erhöhte Selbstaufmerksamkeit: Dabei werden Aufmerksamkeitsressourcen, die für das Problemlösen benötigt werden, auf innere Prozesse gelenkt.

- Verzerrte Bewertungen: Die eigene Person und die eigenen Gefühle werden falsch bewertet, was zu negativen Schlussfolgerungen über das eigene Handeln führt.

- Sicherheitsverhalten: Verhaltensstrategien, um die vermeintliche Katastrophe zu vermeiden oder zu verhindern, welche zur Aufrechterhaltung negativer Überzeugungen und geistiger Angstsymptome führen.

- Kognitive und körperliche Angstsymptome: Durch die automatischen Gedanken entstehen Kreisläufe, welche die Angst aufrechterhalten und negative Gedanken nicht widerlegen.

Diese ungünstigen Informationsverarbeitungsprozesse prägen sowohl die Phase vor, während als auch nach der angstauslösenden Situation (Büch et al., 2015, S. 14).

Abbildung 4 "Kognitives Modell der Sozialen Angst nach Clark & Wells (1995; S. 72)" (Büch et al., 2015, S. 14)

18 Wie schon erwähnt, werden in sozialen Situationen zuerst frühere Erfahrungen miteinbezogen (Büch et al., 2015, S. 13ff.). Anschliessend wird die Bedrohung erfasst und die Aufmerksamkeit wird auf die eigene Person gelenkt (ebd.). Die sozial ängstliche Person nimmt somit immer weniger Informationen aus dem sozialen Umfeld auf und die Bewertung der eigenen Gefühle und des eigenen Verhaltens wird verzerrt (ebd.). Daraus ergibt sich eine überdeutliche Wahrnehmung der internen (körperlichen) Symptome (ebd.). Zudem verstärken die Befürchtungen vor negativer Bewertung durch andere die körperlichen Reaktionen wie Erröten oder Schwitzen (ebd.). Eine Person mit Sozialen Angststörungen lenkt die Aufmerksamkeit auf emotional negative Reize und hat Probleme, sich von diesen wieder zu lösen (ebd.).

Dadurch ergeben sich erhebliche Urteilsverzerrungen: Neutrale und mehrdeutige Reize werden als übermässig bedrohlich erlebt und die eigenen Bewältigungsfertigkeiten werden unterschätzt (Hirsch & Clark, 2004, o.S., zit. in Büch et al., 2015, S. 15).

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