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3.1 Entwicklungsbezogene Angst oder eine Angststörung?

Vorerst soll definiert werden, ob es sich beim Kind um eine berechtigte entwicklungsbezogene Angst oder um eine Angststörung handelt. Bestimmte Ängste, wie die Angst vor der Dunkelheit oder vor Monstern oder die Furcht vor Donner, sind in einer bestimmten Zeit der Kindesentwicklung völlig normal und typisch (Rotthaus, 2020, S. 11). Diese Ängste verschwinden meistens, wenn das Kind einen neuen Entwicklungsschritt macht (ebd.). Hält eine Angst allerdings über längere Zeit an und tritt in sehr hohem Maße auf, kann von einer Angststörung gesprochen werden (ebd.).

Hinzu kommt der Faktor, dass das Kind Aufgaben, die es in seinem Alter zugesprochen bekommt, aufgrund der Angststörung nicht mit den vorhandenen Mechanismen zu bewältigen vermag (Rotthaus, 2020, S. 11). Der Kontakt zu anderen Kindern und somit die Freundschaften werden gehindert, der Kindergarten oder die Schule wird verweigert und es existiert die Angst, allein aus dem Haus zu gehen (ebd.).

Somatoforme Symptome, also physische Beschwerden, die trotz medizinischer Untersuchungen durch Ärzte negative Ergebnisse ergeben und körperlich nicht begründbar sind, können auch vorkommen und somit neben den oben aufgelisteten Zeichen Hinweise für eine Angststörung sein (DIMDI4, 2012, Abschnitt 37 (F45)).

3.2 Problematik

Des Weiteren muss angemerkt werden, dass eine Problematik der Definition der Sozialen Angst besteht. Im Gegensatz zu beispielsweise einer Spezifischen Phobie, welche als «ausgeprägte Angst vor bestimmten Objekten (z.B.5 Spritzen), Situationen (z.B. Dunkelheit) oder Tieren (z.B. Hunden)» (Rotthaus, 2020, S. 13f.) definiert wird und das angstmachende Problem relativ schnell bestimmt werden kann, ist es bei der Sozialen Angst etwas komplexer. Diese kann von Fall zu Fall anders wahrgenommen werden und muss nicht immer im gleichen oder ähnlichen Kontext auftreten. Anders ausgedrückt: Wenn sich ein Kind vor einem grossen Hund fürchtet, dann tut es das immer. Bei der Sozialen Angst ist es allerdings schwieriger zu bestimmen und vorauszuahnen, ob und wie stark ein Kind in einer sozialen Grenzsituation unter Angstanfällen leidet und was das für soziale Situationen sind. Diesbezüglich ist es auch für Autorinnen und Autoren schwieriger, die Sozialen Angst abzugrenzen, was wiederum zu unterschiedlichen und deshalb sich abweichenden Definitionen führt (vgl.

nachfolgende Definitionen). Es werden fünf Bedeutungsbeschreibungen dargelegt:

3.3 Rotthaus

Rotthaus beschreibt die Soziale Angst als etwas, das fast alle Kinder erleben (2020, S. 15). Mit zunehmendem Alter entwickeln Kinder die Fähigkeit, Situationen aus der Perspektive ihrer Mitmenschen zu betrachten (ebd.). Die Angst vor sozialer Beurteilung kommt auf. Selbstzweifel und Sorgen darüber, was die anderen von einem denken könnten und wie man auf andere wirkt, sind Episoden Sozialer Angst (ebd.).

Sie sind Teil der normalen kindlichen Entwicklung, in welchem Kinder durch diese

4 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information

5 Abkürzung für «zum Beispiel»

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«Auseinandersetzungen schrittweise eine eigene Identität» und Unabhängigkeit von den Eltern bilden (ebd.).

Wie bei den Begrifflichkeiten festgehalten, nennt Rotthaus die länger anhaltende und stärker ausgeprägte Soziale Angst Schüchternheit (2020, S. 15). Schüchterne Kinder reagieren oft gehemmt im Kontakt mit fremden Personen (ebd.). Den Kontakt mit Gleichaltrigen trauen sich schüchterne Kinder oft wenig zu und erinnert in ihrem Verhalten den als sozialphobisch bezeichneten Kindern (ebd.). Im Unterschied zu den Letzteren sind schüchterne Kinder in der Regel bereit, zu überprüfen, wie das Treffen mit Gleichaltrigen verläuft und ob diese ihnen doch noch freundlich gesinnt sein können (ebd.). Wenn Kinder eine «dauerhafte, unangemessene Furcht vor sozialen Situationen oder Leistungssituationen zeigen», beschreibt Rotthaus diese letzte Stufe der Sozialen Angst als Soziale Phobie (ebd.)

3.4 Stangier und Fydrich

Das Kontinuitätsmodell von Stangier und Fydrich verdeutlicht, dass Soziale Angst nicht leicht abzugrenzen, sondern eher so zu verstehen ist, dass sie verschiedene Bereiche umfasst (2002, S. 23). Im Normalbereich befinden sich die Schüchternheit und subklinische Soziale Ängste, während die Soziale Phobie als diagnostische Krankheit eingeordnet wird (ebd.). Diese Grafik entspricht somit der Definition von Büch et al.

(2015, S.1) und wird von Rotthaus (2020, S. 15) ebenfalls so interpretiert.

In der Grafik sind im Bereich der Sozialen Phobie die drei Unterkategorien nichtgeneralisiert, generalisiert und Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung zu finden.

Mit nichtgeneralisierter Sozialer Phobie ist gemeint, dass die Betroffenen Angst vor einer spezifischen sozialen Situation haben (z.B. Angst davor, im Büro vor Arbeitskollegen zu schwitzen) (2002, S. 11). Die generalisierte Soziale Phobie bezeichnet die Angst, in unterschiedlichen sozialen Situationen bewertet zu werden (2002, S. 12). Die Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung, so Stangier und Fydrich, weist zwar nach den Diagnosekriterien von DSM-IV viele Gemeinsamkeiten mit der Sozialen Phobie auf, wird aber davon abgegrenzt, da Persönlichkeitsstörungen viel mehr Situationen, also nicht ausschliesslich soziale, betreffen und die Akzentuierung auf dem negativen Selbstwertgefühl liegt (2002, S. 21).

Abbildung 1 Kontinuitätsmodell der Sozialen Phobie/Angststörung (Stangier und Fydrich, 2002, S. 23)

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3.5 Neurologen und Psychiater im Netz

Neurologen und Psychiater im Netz6 legen die Soziale Phobie folgend dar:

«Die Soziale Angststörung ist eine psychische Erkrankung, die zu den phobischen Störungen zählt. Dabei handelt sich um eine „Situationsangst“, die sich auf Handlungen bezieht, in denen sich Betroffene einer kritischen Betrachtung durch andere ausgesetzt sehen. Die Angst beschränkt sich nicht allein auf Prüfungssituationen oder Vorträge, sondern dehnt sich weitreichend auf alltägliche Situationen mit Mitmenschen wie gesellschaftliche Anlässe, Meetings, gemeinsame Essen oder sonstige Gruppensituationen aus. Ein sicheres Anzeichen für eine soziale Phobie ist, wenn Personen Tätigkeiten alleine angstfrei ausführen können, in Gegenwart anderer dabei aber Angst erleben.» (2017, o.S.)

Sowohl Rotthaus (2020, S. 15) als auch Neurologen und Psychiater im Netz (2017, o.S.) erwähnen die Angst vor sozialen Situationen sowie die Angst vor Leistungssituationen, wobei Rotthaus in seinem Buch die Prüfungsangst von der Sozialen Phobie trennt und diese als alleinstehende Angststörung definiert (2020, S.

22).

3.6 ICD-107

Im ICD-10 ist die Soziale Phobie als die «Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, die zu Vermeidung sozialer Situationen führt» definiert. Niedriges Selbstwertgefühl sowie die Angst vor Kritik sind mit der Sozialen Phobie zusammengehörig. Körperliche Beschwerden wie «Erröten, Händezittern, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen» können auftreten (DIMDI, 2012, Abschnitt 3 (F40.1)).

Weiter findet man im ICD-10 Verzeichnis unter dem Code F93.2 die Störung mit Sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters. Diese ist gekennzeichnet durch ein Misstrauen gegenüber fremden Personen sowie der sozialen Besorgnis oder Angst «in neuen, fremden oder sozial bedrohlichen Situationen». (DIMDI, 2012, Abschnitt 20 (F93.2)).

3.7 Specht-Tomann

Specht-Tomann zeigt in ihrem Buch auf, wie schwierig die Problematik der Bedeutung und somit Definition Sozialer Angst ist:

«Manche verstehen darunter Kinder, die in Anwesenheit Fremder scheu und schüchtern reagieren, wenig reden und sich am liebsten hinter dem Rücken der Eltern oder der grossen Geschwister verstecken. Andere wiederum verstehen darunter Kinder, die in ständige Streitereien verstrickt sind, keine Freunde finden oder sich häufig ausgeschlossen fühlen.» (2007, S. 104f.)

6 Name des Informationsportals, herausgegeben von Berufsverbänden und Fachgesellschaften aus der Schweiz und aus Deutschland

7 Klassifikationssystem: ‘Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme’, 10. Revision (siehe Kapitel 4.2)

8 Die Autorin zeigt ebenfalls die grosse Bandbreite sozialer Situationen auf, in der Kinder Angst haben können (2007, S. 105):

- Beim Spielen mit anderen Kindern auf dem Spielplatz - sich Wettbewerbssituationen stellen

- neuen Gruppen beitreten

- vor anderen Personen Lieder singen oder Sprüche aufsagen - sich alleine in ein Geschäft begeben

- Fremde um Auskunft bitten - Bei Nichtverstehen nachfragen 3.8 Fazit

Weil diese Bachelorarbeit ein möglichst objektives Bild der Thematik darlegen will, wird auf die Definition des ICD-10 der Sozialen Phobie und Störung mit Sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters Bezug genommen. Nicht nur ist die Klassifikation durch ICD-10 in der Schweiz gültig, sie ist auch international verbreitet und anerkannt, was die Vergleichbarkeit von Krankheiten erleichtert.

Ausserdem wird in dieser Arbeit die nach Rotthaus stärker ausgeprägte und anhaltende Soziale Angst, also die Schüchternheit, dazu genommen (2020, S. 15). Es geht dabei um problematische Verhaltensweisen, welche sozial ängstliche und sozialphobische Kinder einschränken, sodass präventive und unterstützende Massnahmen zur Behebung der Auswirkungen nötig sind.

Das Kontinuitätsmodell der Sozialen Phobie/Angststörung von Stangier und Fydrich (2002, S. 23) dient als Leitfaden für die Abgrenzung, den Schweregrad und die Häufigkeit der Schüchternheit/Sozialen Phobie innerhalb der Sozialen Angst.

Nach ICD-10 zeigen sich die Soziale Phobie und Ängstlichkeit in der Vermeidung sozialer Situationen. Aus diesem Grund wird in dieser Bachelorarbeit nicht auf die obig erwähnten Prüfungssituationen (Neurologen und Psychiater im Netz, 2017, o.S.) eingegangen. Dies ist einerseits dadurch zu begründen, da diese nicht immer in einem sozialen Bezugsrahmen stattfinden und andererseits die Autoren dieser Arbeit unter Schul- und Prüfungsangst nur diejenigen Ängste verstehen, die sich rein auf die Bewertung durch Lehrpersonen anhand von Noten oder Skalen beziehen (Rost &

Schermer, 2010; Rotthaus, 2020). Allerdings kann es vorkommen, dass Prüfungen in einem sozialen Rahmen stattfinden (z.B. mündliche Prüfung in einem Gruppengespräch). In diesen Situationen wird die Angst vor prüfender Bewertung durch andere im Mittelpunkt stehen, sei dies durch Lehrpersonen oder Mitschüler und Mitschülerinnen, und nicht die Angst vor der Prüfung und schulischer Leistung an sich.

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