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Der Mail¨ander Codicetto

” Bilderfindung“ und der Mail¨ander Codicetto

2.1.3 Der Mail¨ander Codicetto

Die bisher untersuchten Beispiele serieller Frauendarstellungen der Zeit um 1500 sind somit im wesentlichen von zwei Prinzipien bestimmt: In ihrer Produktion sind sie bedingt durch den m¨annlichen Blick auf das weibliche Geschlecht als systematisierbares allegorisches Abbild der Natur und erotisches Movens der Kreation, in ihrer Rezeption jedoch als halbautonome Kunst-produkte, die die funktionalen Beschr ¨ankungen ihrer jeweiligen Gattung ¨uberschreiten. Diese Gesichtspunkte sind Voraussetzungen f ¨ur eine analytische Betrachtung des wichtigsten erhal-tenen Dokuments dieser Gattung, des Kodex Trivulziano Nr. 2159 der Mail ¨ander Biblioteca Trivulziana von etwa 1518344.

Der Band umfaßt 30 nicht numerierte Bl ¨atter, eine Dedikation auf Folio 1 und Schlußverse Abb. 52a-c auf dem letzten Blatt. Dazwischen findet sich eine Folge von 28 Rundbildnissen, beginnend

mit einem Profilportr ¨at Franz’ I. von Frankreich mit einer rahmenden Inschrift FRANCISCVS REX FRANCORVM und umgeben von sechs weiblichen Figuren als Tugendallegorien (es fehltspes). Es folgen Portr ¨ats von sieben Witwen, die als Tugenden bezeichnet werden, und von 20 weiteren Damen der mail ¨andischen Aristokratie. S ¨amtliche Inschriften sind in

latei-342Vgl. Dok. B.6.

343Vgl. Abschnitt 2.2.3.

344Vgl. Giulio Porro, Catalogo dei Codici Manoscritti della Trivulziana [Biblioteca Storica Italiana, Bd. 2], Turin: Bocca 1884, S. 316f.; Francesco Malaguzzi Valeri, La corte di Ludovico il Moro, Bd. 1: La vita privata e l’arte a Milano nella seconda met`a del Quattrocento, Mailand: Hoepli 1913, S. 496; BINAGHIOLIVARI1979, S. 95-113; Giulia Bologna, Tutte le dame del re. Ritratti di dame milanesi per Francesco I re di Francia, Mailand: Comune di Milano / Biblioteca Trivulziana 1989; Raffaele Casciaro, in: Angela Dillon Bussi, Giovanni M. Piazza (Hrsg.), Biblioteca Trivulziana del Comune di Milano, Fiesole: Nardini 1995, S. 221.

nischer Sprache und in humanistischen Majuskeln abgefaßt. Die Damen sind oberhalb ihres Bildnisses mit ihren Namen bezeichnet, unterhalb findet sich ein Motto mit Bezug auf den franz ¨osischen K ¨onig. Von den b ¨ustenartigen Damenbildnissen sind 16 im Profil, elf in Frontal-bis Dreiviertelansicht wiedergegeben. Im Gegensatz zum Bild des K ¨onigs besitzen s¨amtliche Damenbildnisse einen Deckel, der bei den Witwen mit der inschriftlichen Bezeichnung der ih-nen jeweils zugeordneten Tugend versehen ist. Obwohl man bereits den Namen der Dame und ihr Motto nach dem Aufschlagen der Seite lesen kann, wird man erst in einem zweiten Schritt ihres Bildnisses ansichtig. Darin wird ein Bezug zur zeitgen ¨ossischen, weit verbreiteten Praxis der Abdeckung des Bildnisses f ¨ur einen spezifischen funktionalen Kontext ersichtlich345. Das Fehlen einer solchen Abdeckung bei dem Portr ¨at von Franz I. kann bereits auf eine geschlechts-spezifische Unterscheidung hindeuten, eine solche Interpretation ist aber auf dem momentanen Kenntnisstand noch nicht zu verifizieren: Das Album wurde f ¨ur den K ¨onig angefertigt, so daß er als der prim¨are Betrachter anzusprechen ist. Somit konnte sich Franz I. gleich nach dem Aufschlagen des Buches betrachten, sich aber den dargestellten Frauen erst in einem zweiten Schritt n¨ahern.

Wer war der Auftraggeber des Codicetto? Wurde der Kodex von einem oder mehreren Mail¨ander B ¨urgern als Geschenk f ¨ur Franz I. von Frankreich in Auftrag gegeben, der 1515 die Stadt wieder f ¨ur Frankreich erobert hatte, oder hat der franz ¨osische K ¨onig – inzwischen einer eigenen Tradition entsprechend – das Frauenalbum selbst bestellt? Die Dedikation gibt dar ¨uber keine Auskunft: Der Maler, Giovanni Ambrogio Noceto, widmet das Buch dem franz ¨osischen K¨onig346. Seine Person bleibt allerdings in der Kunstgeschichte obskur; weder ist seine Vita bekannt, noch k ¨onnen ihm weitere Werke zugeschrieben werden347. Die Widmung und der insgesamt panegyrische Ton der Texte lassen aber kaum die Annahme zu, Franz I. habe sich mit einem solchen Auftrag selbst beschenkt. Allenfalls eine indirekte Beeinflussung ist denk-bar. Somit bleibt der Maler Noceto, mutmaßlicher Mail ¨ander und Vertreter der Mail ¨ander B¨urgerschaft, als Urheber des Codicetto ¨ubrig. Daß das Projekt einer solchen Sammlung von Miniaturbildnissen zumeist junger Aristokratinnen nicht ohne die Mitarbeit zumindest des franzosenfreundlichen Teils der st ¨adtischen Aristokratie durchgef ¨uhrt werden konnte, ist vorauszusetzen. Wenn aber ein solches Projekt von Italienern zur Repr ¨asentation ihrer Stadt gegen ¨uber einem neuen Herrscher benutzt wird, dann ergeben sich daraus auch Konsequenzen f¨ur die Gattung

”Frauenalbum“.

Bei der Sammlung von Frauenbildnissen der Biblioteca Trivulziana handelt es sich also um ein diplomatisches Geschenk, das von den Einwohnern eines gerade eroberten Landes-teils dem neuen Souver ¨an ¨uberreicht wurde. Dies hat zur Voraussetzung, daß ein solches Al-bum von den Italienern als geeignetes Medium und als eigene Gattung erkannt wurde, woraus sich wiederum schließen l ¨aßt, daß die vorherige Anfertigung solcher Alben mit den Portr ¨ats italienischer Frauen durch die franz ¨osischen Invasoren einen bleibenden Eindruck in Italien hinterlassen hat, der sich zu einer

”Traditionsbildung“, zu einemimagedes Franzosen und sei-nes Bildnisgebrauchs, verfestigen konnte. Ein etwa w ¨ahrend der Kampagne von 1515/16 von einem franz ¨osischen Aristokraten geschriebener Brief unterstreicht dies:

345Vgl. Angelica D¨ulberg, Privatportr¨ats. Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin:

Gebr. Mann 1990.

346Dedikation, einzelne Motti der Damen und der Schlußtext sind im Anhang unter Dok. B.9 wiedergegeben.

347Vgl. BOLOGNA1989, S. 15.

Illma. Madonna mia observandma.

Volendo presto tornare in Francia, et desideroso grandemente portarli cose degne et pi`u excellenti che excogitare si possa, per paragonare tutte le donne et retracti l`ı portati da tutto lo universo mondo; vista la presentia de V. Ill. Signoria, mi nacque una subita imaginatione con grandissima allegreza de supplicare a Quella, per obtenere lo intento mio, si degni non per amor o mio merito, n`e per servitio che li possa fare, ma per sua incomprehensibilissima humanit`a et benignit`a prestare al Dipintore el tempo di possere fare Quella el disegno et retracto.

Et non volendo usare prosumptione, ma da vero gentilhomo et de V. Ill. S. fedele Servitore, supplico quella si degni essere contenta con la solita sua gentilezza non denegar mi questa gratia, concedendo el tempo al prefato dipintore. [...] Di V. Ill. S.

humilis servitor della fontanlediere.348

Nur auf dieser Basis ist die Entstehung des Mail ¨anderCodicettozu verstehen: Die Bild-nisalben, die die Franzosen vermutlich Blatt f ¨ur Blatt auf ihrem Weg durch Italien erg ¨anzten oder die aufgrund eines konkreten Anlasses durch den Auftrag eines Benutzers entstanden, sind hier zu einer Gattung verdichtet. DerCodicettokonnte also auf einer normativen Basis ohne konkretes Interesse eines einzelnen Benutzers erstellt werden. Diese Sammlung weibli-cher Bildnisse (wenn auch in Buchform) entstand autonom von ihren urspr ¨unglichen Funkti-onszusammenh ¨angen und wurde von einer neuen, politischen Funktion ¨uberformt: Aus einer einfachen Nachfrage wurde ein vorgefertigtes Angebot.

Die politische Funktion des Kodex hatte zwangsl ¨aufig auch Folgen f ¨ur die Auswahl der dargestellten Frauen. Bei den nicht erhaltenen Vorg ¨angern desCodicettoist die Identit ¨at der Dargestellten anonym geblieben, ihr Beruf wird aber meist als Kurtisanen angegeben. Dies war f¨ur ein offizielles Geschenk, das zudem die Tugend des Beschenkten zum Ausdruck bringen sollte, undenkbar. Im Mail ¨anderCodicettosind daher wohl zumeist junge Frauen aus aristo-kratischen Familien der Stadt dargestellt, die gegen ¨uber der franz ¨osischen Herrschaft positiv eingestellt waren, was sich allerdings nicht in allen F ¨allen verifizieren l¨aßt. Es ergibt sich eine gewisse gattungsm¨aßige ¨Ubereinstimmung mit Bildnisvitenb ¨uchern der Renaissance349. Die sieben Witwen sind ¨alter und matronenhaft sowie durch Kleidung und Schleier deutlich von den ¨ubrigen Frauen unterschieden. Soweit sich biographische Daten ¨uberliefert haben350, sind die anderen Dargestellten meist verheiratet, eine ist nach einer gescheiterten Eheanbahnung Nonne geworden; von gut der H ¨alfte der Frauen sind keine Angaben bekannt. Da Ippolita Bentivoglio (fol. 11r) nicht in Nonnentracht, also noch vor ihrem Eintritt ins Kloster darge-stellt ist, k¨onnten sich unter den nur durch den Codicettozu identifizierenden Dargestellten weitere unverheiratete Frauen befinden. Das durchschnittliche Heiratsalter und die Tatsache,

348[Anrede] Ich werde bald nach Frankreich zur¨uckkehren und bin sehr daran interessiert, dorthin kostbare Dinge mit-zunehmen, und das Beste, was mir in den Sinn kommen konnte, um alle Frauen und Portr¨ats, die dort aus der ganzen Welt zusammengekommen sind, zu vergleichen, war zu meiner gr¨oßten Freude die Idee, die ich in dem Moment hatte, als ich Euch sah, n¨amlich Euch, um mein Ziel zu erreichen, inst¨andig zu bitten, sich dazu herabzuw¨urdigen - nicht aus Liebe, noch zu meinem Verdienst oder zu dem Zweck, mir einen Dienst zu erweisen, sondern aus der Ihnen eigenen unvergleichlichen Menschlichkeit und G¨ute – und dem Maler die Zeit f¨ur eine Zeichnung und ein Portr¨at von Euch zu gew¨ahren. Nicht aus Anmaßung, aber als wahrer Edelmann und Euer treuer Diener, bitte ich Euch, sich mit der Ihnen gewohnten Liebensw¨urdigkeit damit einverstanden zu geben, mir nicht diese Gnade zu verweigern und dem be-auftragten Maler die Zeit zu gew¨ahren. [...] Euer unterw¨urfiger Diener Della Fontanlediere. – Zit. n. Giovanni Gaye, Carteggio inedito d’artisti dei secoli XIV, XV, XVI, Bd. 2: 1500-1557, Florenz: Molini 1840, S. 144f.; ¨Ubersetzung d.Verf.

349Vgl. Abschnitt 3.1.1.

350Biographische Angaben, soweit bekannt, bei: BINAGHIOLIVARI1979, S. 102-111; BOLOGNA1989, S. 46-101.

daß auch Ippolita Bentivoglio f ¨ur die Ehe versprochen war, lassen aber den Schluß zu, daß es sich insgesamt um jungverm ¨ahlte Frauen handelte.

Die Auswahl der Frauen im Kodex gibt demnach die traditionelle Organisation weiblicher Lebensphasen bis zu einem gewissen Grad wieder. Ein explizites Verhaltensmodell ist mit den Kardinaltugenden prim ¨ar den Witwen zugeordnet, aber auch die Motti der ¨ubrigen Damen ent-halten in die Panegyrik eingeschlossene Aufforderungen an Franz I. zu korrektem Verent-halten.

Somit ist derCodicetto nicht nur Spiegel der sozialen und moralischen Ordnung Mailands, sondern auch ein Appell an den franz ¨osischen K ¨onig, diese zu respektieren. Franz I. hatte Mailand 1515 in der Schlacht von Marignano nach einem dreij ¨ahrigen Intermezzo durch die Sforza wieder unter franz ¨osische Herrschaft gebracht. Die Situation war entsprechend unsi-cher. Sein Vorg ¨anger Ludwig XII. hatte 1500 nach der gescheiterten R ¨uckkehr von Ludovico

”il Moro“ Strafmaßnahmen gegen die Stadt verh ¨angt351. Auch unter Franz I. wurden solche Maßnahmen gegen Anh ¨anger der Sforza vorgenommen352. Vor diesem Hintergrund wird die politische Funktion des Kodex plausibel: Die Frauen repr ¨asentieren ein geordnetes und von den Tugenden gelenktes Gemeinwesen, das eine ebenso geordnete und gerechte Regierung durch seinen Landesherren erwarten kann. Die Gleichsetzung der sieben Witwenportr ¨ats mit Tugendallegorien ¨ubersetzt eine soziale Ordnung in ein ethisches Symbolsystem353. Die we-niger als die M¨anner in die tagespolitischen Geschehnisse involvierten Frauen eignen sich aus diesem Grund f ¨ur eine ideale allegorische Repr ¨asentation des Gemeinwesens in besonderem Maße – auch dies eine Funktion vongenderund einer der Gr ¨unde f ¨ur den Konnex von weibli-chem Geschlecht und Allegorie.

Bei der Repr¨asentation der 20 jungen Frauen, die auf die Darstellung der Witwen folgen, entwickelt Noceto allerdings Strategien, die die Grenzen traditioneller Zuordnungen zu den klassischen Phasen eines weiblichen Lebenslaufs – Jungfrau, Ehegattin und Witwe – auf der Text- wie auf der Darstellungsebene durchbrechen: Zuerst muß darauf hingewiesen werden, daß der Maler in seiner Vorrede diese Frauen nicht entsprechend ihrem sozialen und Familien-stand bezeichnet, sondern von einer sch ¨onen Schar –pulchra cohors– Nymphen spricht. Sich selbst bezeichnet er alsinventor nimpharum, der die Bildnisse dem K ¨onig zueignet, damit die-ser sie immer bei sich tragen k ¨onne354. Mit der Bezeichnung

”Nymphen“ erzeugt der Verfasser eine antikisch- ¨uberzeitliche Aura, die die Dargestellten ihrer sozialen Bindungen enthebt und in gewissen Sinn einem freiem Spiel von Begehren und Verf ¨ugbarkeit zug ¨anglich macht, das freilich durch die Appellation der beigef ¨ugten Motti an das korrekte Verhalten des k ¨onigli-chen Betrachters wieder in geordnete Bahnen zur ¨uckgef ¨uhrt wird355. Eine wichtige Funktion kommt in diesem Zusammenhang den bereits erw ¨ahnten, gesonderten Abdeckungen der Da-menportr ¨ats im Buch zu, die den Bildnissen die Eigenschaft von

”Privatportr¨ats“ anlagert356.

351Vgl. SCHELLER1985, S. 11-14.

352So gegen die Familie der Eleonora Visconti, fol. 9r des Kodex. Die Verbannung der Familie wurde allerdings 1517 aufgehoben. Vgl. BOLOGNA1989, S. 58. – Die Aufnahme Eleonoras in den Kodex kann somit als Dokument des Parteiwechsels verstanden werden.

353Zur Funktion der (weiblichen) Tugendallegorie in der pers¨onlichen politischen Ikonographie von Franz I. vgl.: Anne-Marie Lecoq, Franc¸ois Ierimaginaire. Symbolique et politique `a l’aube de la Renaissance franc¸aise, Paris: Macula 1987, S. 69-117, 144-148. Besonders dieentr´eein Lyon von 1515 zeigt die Verkettung einer Folge von weiblichen Fi-guren als Tugendallegorien mit dem Namen Franz’ I. (vgl.: Wolfenb¨uttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Extr. 86.4.;

s. ebd., S. 144-148).

354Vgl. Dok. B.9, fol. 1v.

355Zur Liebesideologie am franz¨osischen Hof unter Franz I. vgl. LECOQ1987, S. 361-391.

356Der Begriff

Privatportr¨at“, den D ¨ULBERG1990 f¨ur eine ganze Gruppe auf verschiedene Arten und zu

verschiede-Daraus resultiert eine reduzierte, nicht f ¨ur jeden bestimmte Sichtbarkeit, die dem K ¨onig die Verf ¨ugungsgewalt ¨uber das Betrachten der Bildnisse zueignet, was ihm entsprechend der tra-ditionellen Funktionen solcher

”verdeckter“ Portr ¨ats eigentlich verwehrt sein sollte357. Ein weiterer Faktor, der zu einer ambivalenten Entwertung des sozialen Bindungsgef ¨uges beitr¨agt, ist der Darstellungsmodus. Noceto entstammt ohne Zweifel dem k ¨unstlerischen Um-feld der Lombardei. Seine Bildnistypen in Profil und Dreiviertelansicht sind leonardesk, die Aquarelltechnik wird zu einer differenzierten Ausf ¨uhrung von Gesichtsstrukturen und Kom-plexion genutzt, soweit es das Miniaturformat zul ¨aßt. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt f ¨ur die Wiedergabe derpulchra cohorsist die detailgenaue Erfassung der Mode, der verschiedenen Kleider, Schmuckst ¨ucke sowie der immer unterschiedlich und kostbar gearbeiteten Stoffe und Haarnetze (capigliara), die denCodicettozu einer wichtigen Quelle der Mail ¨ander Mode um und nach 1500 machen358. In diesem Sinn kombinieren die Portr ¨ats des Kodex den leonar-desken Portr¨atstil der Lombardei mit dem seriellen Abbildungsinteresse der

”franz ¨osischen“

Frauenalben.

Eine der wichtigsten Quellen zur Biographie der Dargestellten ist die Novellensammlung des Matteo Bandello. Die Sammlung enth ¨alt Widmungen an drei Frauen, die auch im Co-dicettoenthalten sind, drei werden in den Erz ¨ahlungen erw ¨ahnt und f ¨ur zwei gilt beides, d.h., knapp ein Drittel der Damen desCodicettokommt auch bei Bandello vor359. Sieben der Darge-stellten geh ¨oren der Familie Sanseverino, vier der Familie Visconti an, außerdem finden sich zwei Schwestern, die geb ¨urtige Gallerani sind360, Nichten von Cecilia, der M ¨atresse Ludo-vico Sforzas, deren Portr ¨at von Leonardo oben bereits behandelt wurde. Die umfangreichsten biographischen Daten einer Dargestellten desCodicettobietet Bandello von Bianca Maria

Vis-conti: Sie wurde 1501 geboren, war demnach zum Zeitpunkt der Portr ¨ataufnahme 17 Jahre alt Abb. 52c und seit einem Jahr mit Ermes Visconti verheiratet. Nach Alter und Stand unterscheidet sie sich

kaum von den ¨ubrigen dargestellten Frauen (außer den Witwen); sie galt als besonders sch ¨on, was dann, nach den Portr ¨ats des Kodex zu urteilen, auch f ¨ur eine Reihe anderer Mitglieder der pulchra cohorsin Anspruch genommen werden kann. Ihre weitere Biographie nach der Entste-hung des Kodex ist schillernd. Nach dem Tod ihres Ehemanns kehrt sie nach sechs Jahren als reiche Witwe wieder in ihre Heimatstadt zur ¨uck, wo sie zun ¨achst den Freiraum des Witwen-standes beibeh¨alt und trotz amour ¨oser Beziehungen zu M ¨annern nicht wieder heiratet. Aus der Bindung einer zweiten Ehe fl ¨uchtet sie bald nach Pavia und f ¨uhrt dort ein Leben fort, das die moralischen Grenzen der Zeitgenossen f ¨ur das Verhalten einer Frau durchbricht. Bianca Maria hat verschiedene adelige Geliebte, bindet sich aber nicht an einen Mann f ¨ur l¨angere Zeit und fordert dann im Verlauf verschiedener Verwicklungen – nach Bandello – mehrfach einen ihrer Geliebten auf, sich eines ¨alteren Kontrahenten gewaltsam zu entledigen, was tats ¨achlich in einem Fall geschieht. Bianca Maria Visconti wird wegen Anstiftung zum Mord zum Tode

nen Zwecken der unmittelbaren Sichtbarkeit entzogener Bildnisse verwendet hat, ist nicht im heutigen Verst¨andnis von Privatheit zu verstehen; trotzdem ist durch den Entzug des Portr¨ats aus der unmittelbaren Sichtbarkeit eine Ein-schr¨ankung von ¨Offentlichkeit verbunden, die einem pers¨onlichen Gebrauch und Besitz nahekommt.

357Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Abdeckung von TiziansLa Bella, s. Abschnitt 2.4.

358Vgl. BOLOGNA1989, S. 25-28, 45.

359Dedikationstr¨agerinnen bei Bandello, deren Portr¨at imCodicettovertreten ist: Ludovica Landriani, Ippolita Vimer-cati, Giulia del Maino; Erw¨ahnungen: Margherita Sanseverino, Ippolita Bentivoglio, Bianca Maria Visconti; Dedika-tion und Erw¨ahnungen: Ippolita Scaldasole, Clara Pusterla. Vgl. ebd., S. 48, 52, 62, 68-74, 82-85.

360Vgl. ebd., S. 45, 78ff.

verurteilt und am 20. Oktober 1526 hingerichtet361.

Die Vita der Bianca Maria Visconti ist sicherlich nicht auf die Lebensl ¨aufe der ¨ubrigen Dar-gestellten zu ¨ubertragen, aber in gewissen Sinn doch paradigmatisch. Sie bezeichnet ein neues Feld von M ¨oglichkeiten selbstbestimmter weiblicher Lebensf ¨uhrung außerhalb des vorgese-henen Weges von Ehestand und Witwenschaft. In Bandellos Novelle wie in der Wirklichkeit wurde dieses Abweichen mit dem Tode bestraft. Nach dem Handlungsablauf der Novelle war dies in einer nahezu notorischen Herausforderung des Schicksals und durch best ¨andige Regel-verst ¨oße durch Bianca Maria Visconti begr ¨undet, was nur schwierig zu verifizieren ist, aber in der m¨annlichen Logik Bandellos die nat ¨urliche Konsequenz ihrer Lebensf ¨uhrung außerhalb der Konvention ist. Zum Entstehungszeitpunkt desCodicettoaber war Bianca Maria Visconti nur eine in einer Reihe von Darstellungen jungverm ¨ahlter Frauen, deren standeserh ¨ohende Ehe mit einem Patrizier allerdings schon damals auf der außergew ¨ohnlichen k ¨orperlichen Sch ¨onheit der jungen Frau beruhte.

Der Kodex ist somit nicht als Dokument einerchronique scandaleuseangelegt. Die Auswahl ist bestimmt von der Stellung und dem Einfluß der Dargestellten in der Mail ¨ander Gesellschaft und Kultur, ihrer Beherrschung h ¨ofischer F¨ahigkeiten und Kulturtechniken wie Konversation, Kenntnisse in den K ¨unsten, Kleidung und Schmuck362, ferner der politischen Ausrichtung ihrer Familien sowie, nicht zuletzt, ihrer k ¨orperlichen Sch ¨onheit363. Dabei m ¨ussen nicht s¨amt-liche Gesichtspunkte in gleichem Maße erf ¨ullt sein, da die Bildnisse und das diesen jeweils zu-zuordnende biographische Material Schwerpunkte erkennen lassen. Schwieriger ist ein Urteil dar ¨uber, ob relational zur mail ¨andischen Gesellschaft der Anteil der bei Bandello genannten adeligen Frauen im Frauenalbum Franz I. ¨uberdurchschnittlich hoch ist. In diesem Fall w ¨are der Kodex der Biblioteca Trivulziana auch ein Fokus der beginnenden Frauenemanzipation in Mailand, und zwar im Sinne der Erschließung neuer Spielr ¨aume im ¨offentlichen Leben der Stadt.

Der Mail¨ander Codicettoist also das Produkt einer komplexen politischen, sozialen und kunsthistorischen Situation. In seiner Struktur vereinigt der Kodex verschiedene, zum Teil sich eigentlich gegenseitig ausschließende ¨Uberlieferungsstr ¨ange: In losem formalem Zusammen-hang mit Bildnisvitenb ¨uchern stehend, liefert das Album das Bild einer geordneten, stabilen und in ihren Rechten und Gesetzen zu erhaltenden Gesellschaft, allegorisiert durch ihre weib-lichen Mitglieder und symbolisiert durch die nat ¨urliche Abfolge von deren Lebensphasen. Die Wurzeln einer solchen Bildnissammlung und ihr eigentlicher Entstehungsgrund liegen aber in einer anderen, j ¨ungeren Tradition. Mit dem sicherlich nur ungen ¨ugenden Begriff

” Frau-enalbum“ wurden hier Bildnisb ¨ucher mit den Portr ¨ats italienischer Frauen aus verschiedenen

361Eine mehr ins Detail gehende Zusammenfassung der Angaben Bandellos findet sich in: ebd., S. 82-85.

362Lange Konversationen mit Ludwig XII. von Frankreich sind von Margherita Sanseverino ¨uberliefert (fol. 4r), deren perfekte Beherrschung der franz¨osischen Sprache ebenfalls bekannt ist; Eleonora Rusca wandte sich bei Problemen mit ihrem Haar an den Erfindungsreichtum von Isabella d’Este (fol. 8r); Clemenza Panigarola war vermutlich verwandt mit der Organisatorin eines spirituellen Zirkels im Mail¨ander Kloster Santa Marta (fol 20r); Ippolita Sanseverino war die Gattin eines Milit¨ars unter Franz. I. (fol. 13r). Vgl. ebd., S. 48, 56, 66, 80; der Brief der Eleonora Rusca

362Lange Konversationen mit Ludwig XII. von Frankreich sind von Margherita Sanseverino ¨uberliefert (fol. 4r), deren perfekte Beherrschung der franz¨osischen Sprache ebenfalls bekannt ist; Eleonora Rusca wandte sich bei Problemen mit ihrem Haar an den Erfindungsreichtum von Isabella d’Este (fol. 8r); Clemenza Panigarola war vermutlich verwandt mit der Organisatorin eines spirituellen Zirkels im Mail¨ander Kloster Santa Marta (fol 20r); Ippolita Sanseverino war die Gattin eines Milit¨ars unter Franz. I. (fol. 13r). Vgl. ebd., S. 48, 56, 66, 80; der Brief der Eleonora Rusca