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Märchen einst und heute – Ansätze aus der Märchenforschung

2.1 Vorfelduntersuchungen

2.1.2 Märchen einst und heute – Ansätze aus der Märchenforschung

„Es war einmal ...“, dieser formelhafte Märchenbeginn ist passend für den divergierenden Diskurs um Ursprung und Entstehungsgeschichte der Märchen. Aus welcher Zeit sie auch stammen, die Expertenmeinungen gehen weit auseinander.

Einig ist man sich in Fachkreisen darüber, dass Volksmärchen – im Gegensatz zu Kunstmärchen – aus einer vorliterarischen Zeit stammen, deren Erfinder unbekannt sind, sie durch Erzählen von Generation zu Generation weiter getragen und auf diese Weise über Jahrhunderte hinweg erhalten geblieben sind. Auf den Diskurs, inwieweit Volksmärchen als Kunstmärchen angesehen werden können, wie er in der Märchenforschung geführt wird, soll in dieser Arbeit nicht eingegangen werden, wenngleich es nach Neuhaus unbestritten ist, dass mit der Verschriftlichung eines erzählten Textes unweigerlich eine Auslegung einhergeht. (Neuhaus 2005).

Zu Lebzeiten der Brüder Grimm wurde der Zeit entsprechend die romantische Vorstellung gepflegt, die Märchen seien eine Mitgift in die Wiege der Menschheit.

Friedrich von der Layen versuchte um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Chronologie aller Grimmschen Texte zu erstellen, denen er zum Teil indogermanischen und urgermanischen Ursprung zuschrieb. Die Beweisführung blieb letztendlich aus, denn „[a]ngesichts der fast weltweit belegbaren Ausformungen bekannter Märchentypen bleibt die Beweislast groß, wie und wann solche Tradierung statthaben konnte (letztlich müßten einige Märchen dann entweder so alt wie die Menschheit selber oder älter als der Ursprung von Atlantis sein)“ (Rölleke 1985, S.

94).

Nachdem die Brüder Grimm sich ebenso mit mittelalterlicher Literatur, mit Sagen, Legenden und Mythen beschäftigten, fanden sie Parallelen zu den Erzähltexten der Märchen. Lüthi (1974, S. 104) hält gleichermaßen fest, dass sich zwar „der Mythus im engeren Sinne deutlich vom Märchen unterscheidet (der Mythus kann ausschließlich von Göttern oder anderen Jenseitigen erzählen, der Mensch braucht in ihm nicht vorzukommen, der Held des eigentlichen Märchens aber ist der Mensch)“, man sich allerdings „der Auffassung der Brüder Grimm, die das Märchen aus dem Mythus herleiten, von verschiedenen Seiten wieder genähert“ habe. Die Erzähltexte der Märchen lassen sich keiner Zeitepoche eindeutig zuordnen, weisen

aber Gemeinsamkeiten mit uralten Epen auf, beispielsweise mit dem Gilgamesch-Epos, dem Nibelungenlied oder der Arthussage. Ebenso sind die Landschaften, in welchen sich die Märchenereignisse abspielen, nicht zuordenbar und könnten sich in vielen Gegenden der Welt befinden. Auch Rölleke (1985) hält hinsichtlich der Herkunft, des Alters sowie der Bedeutung des Märchens fest, dass „die Forschungsergebnisse und -hypothesen, die Meinungen und Spekulationen fast so vielfältig und divergierend [seien], wie es Interessenten an diesen Fragen gibt.“ Er weist zudem darauf hin, dass alleine „die Diskussion über mono- oder polygenetischen Ursprung [...] antinomisch [war und bliebe]“ (Rölleke, 1985,85). Bei einer umgekehrten Argumentation, die sich darauf stützt, dass Märchen

Ausdruck einer bestimmten Weltsicht (auf der Stufe der Kindheitsgeschichte je eines Volkes) innerhalb der menschlichen Entelechie [seien], und so sei es nicht verwunderlich, daß einzelne Ethnien an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung zu einer ähnlichen Weltauffassung gelangen müßten, die dann auch zu notwendig ähnlichem Ausdruck in sich märchenhaften Geschichten führte (gleichsam Ausdruckszwänge), [...] bleibt die Beweislast der verblüffend großen Ähnlichkeit, ja Identität einzelner Märchenversionen in allen Teilen der Welt (Rölleke 1985, S. 94).

Eines geht jedenfalls aus der immer gleichen Formulierung am Beginn eines Märchens hervor, nämlich dass sich das Erzählte bereits immer in längst vergangenen Zeiten zugetragen haben muss, also nie gegenwärtig gewesen war.

Zum Wesen des Märchens schreibt Lüthi (1974, S. 78f.), es sei

[f]rei von solchen Fesseln [der Sagen und Legenden, Anm. U.K.] [...]. Es kennt weder die Bindung an die Wirklichkeit noch die Bindung an ein Dogma. Es haftet auch nicht an einem einzelnen Ereignis oder Erlebnis, alles Einzelne ist ihm nur Baustein. Das Märchen braucht nicht die Unterstützung der Kirche; es lebt gegen ihre Feindschaft.

Und doch gibt auch es in seiner Weise eine Antwort, und eine tief beglückende Antwort, auf die brennenden Fragen menschlichen Seins. Im Märchen wird, zum erstenmal vielleicht, die Welt dichterisch bewältigt. Was in der Wirklichkeit schwer ist und vielschichtig, unübersichtlich in seinen Bezügen, wird im Märchen leicht und durchsichtig und fügt sich wie im freien Spiel in den Kreis der Dinge. Wo wir in der Wirklichkeit Teilabläufe sehen und kaum verständliche Schicksale, stellt das Märchen eine in sich selber selige Geschehenswelt vor uns, in der jedes Element seine genau bestimmte Stelle hat. Auch im Märchen blicken wir nicht 'hinter die Dinge'; nur die handelnden Figuren erblicken wir, nicht ihr Woher und Wohin, nicht ihr Warum und Wozu. Aber wir sehen, sie treten immer genau an der richtigen Stelle in den Verlauf der Handlung ein und verschwinden, sobald nichts Wichtiges mehr zu tun bleibt für sie.

Die Zeit der Romantik hat die Märchen neu entdeckt, und sie wurden eine Domäne der Frauen. Der Begriff „Ammenmärchen“ weist darauf hin, dass es bevorzugt

Geschichten für Kinder und „kleine Geister“ zu deren Unterhaltung und Erziehung waren, denen aber keine Glaubwürdigkeit zukam. (Lüthi 1974) Nach C. G. Jung spiegeln Märchen universelle Archetypen wider, die weltweit bei allen kulturellen Unterschieden grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen. Jung sieht in der Märchensprache eine zeitlose und internationale Sprache, die das kollektive unterbewusste Gedächtnis der Menschheit zum Ausdruck bringt. (Jung, 2008) Die von den Brüdern Grimm als Vorlesebuch für Kinder verfasste Märchensammlung war als Kinder- und Erziehungsbuch von Anfang an umstritten. Die Grimms selbst meinten dazu:

Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keine Weise verborgen bleiben können, erlangt wird, und wobei man zugleich in der Täuschung ist, daß, was in einem gedruckten Buch ausführbar, es auch im wirklichen Leben sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit, einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung (Brüder Grimm 2002, S.

16).

Musäus hingegen schreibt in seinem 1782 veröffentlichten Märchenband im Vorwort, dass Volksmärchen „aber keine Kindermärchen [seien], denn ein Volk besteht nicht aus Kindern, sondern hauptsächlich aus großen Leuten und im gemeinen pflegt man mit diesen anders zu reden als mit jenen“ (Musäus 1977, S. 12). Die Diskussion, ob Märchen für Kinder geeignet sind, besteht bis heute. Aktuell sind es vor allem die Grausamkeiten, die kritisch beurteilt werden und weniger die sittlichen Verderblichkeiten. Horn merkt in ihrem Statement an, dass „in kaum einer anderen literarischen Gattung so oft gemordet, misshandelt, gequält und hingerichtet werde wie in den Märchen“ (Horn 2011, S. 5 online,). Als Gegenargumentation dient allerdings nachfolgender Beitrag von Ursula Kübler:

Gerade das Kind ist auf seinem Entwicklungsweg, ohne ein schon geformtes, reifes Ich, extremen Gefühlen von Angst, Neid, Eifersucht und Hass ausgesetzt. Das Umgehen mit diesen Kräften lehrt uns das Märchen in seiner archaisch – archetypischen Bildsprache, wo die intensiven aber oft tabuisierten Gefühle in einer Geschichte Platz bekommen, ausgelebt werden und sogar eine Lösung aufgezeigt wird. Die Projektion eigener zerstörerischer Seiten auf die Märchenfiguren hilft Spannungen abbauen, entlastet das Gewissen, kann allmählich bis zu einem gewissen Punkt [...] integriert werden (Kübler 2011, S. 4 online).

Bevor die Grimms ihre Texte als Kinder- und Hausmärchen herausbrachten, galten

Märchen in Zeiten, als sie noch als Erzählgut galten, zur Unterhaltung für Erwachsene, was sich in heutiger Zeit in gewandelter Form wiederholt. Märchen werden kaum noch direkt erzählt, wenngleich auch dies wieder modern wird, in sogenannten Märchenerzähl-Seminaren. Sie werden gelesen, vorgelesen oder über Medien vermittelt. Die Filmindustrie hat – und tut es immer wieder von Neuem – Märchentexte in allen möglichen Varianten und Parodien verfilmt. Ebenso nutzt die Werbeindustrie Märchenmotive für ihre Zwecke, sei es für Konsumgüter oder den Tourismus, was die Wanderausstellung GrimmsKrams & MärchenDising seit dem Jahr 2008 umfangreich veranschaulicht.1 Selbst die Pornografie hat den Reiz der Märchen für sich entdeckt; die Popularität von Märchen und deren Unterhaltungswert besteht demnach nach wie vor. Frank und Zimmermann (2008, Klappentext) halten fest, dass die heutige Gesellschaft „einen Grimm- und Märchenboom [erlebt]: Es gibt Märchenspiele und Märchenparks, Märchenesoterik, Märchentherapie, Märchenfolklore, Märchenschlösser, ganze Märchenstädte. [...] Grimms Märchen sind zu einem Bestandteil der Massenkultur und Erlebnisgesellschaft geworden“.

Wie zu sehen ist, haben Märchen und -motive weite Teile unserer kommerzialisierten Gesellschaft erobert, und Märchen vermitteln unter anderem auch Altersbilder, die aber noch wenig untersucht sind. Schenda (1990), der die Darstellung von Alter und Alten in Volkserzählungen und so auch in Märchen intensiv erforscht hat, spricht diesen allerdings jeglichen Wert für das heutige soziale und gesellschaftliche Leben ab:

Da das Märchen einseitig nach einer Glücksallianz von tüchtig-aktiven Jung-Helden und tugendhaft-passiven Jung-Heldinnen äugelt, ist es blind für andere Koalitionsmöglichkeiten in der Gesellschaft, hat kein Gespür für Partnerschaften zwischen Jung und Alt – mit munteren Großmüttern und neugierigen Enkeln zum Beispiel – oder zwischen Alt und Alt [...]. Da das Märchen zumeist Egozentriker herumwandern läßt, die nur ihr eigenes Königsschloß gewinnen wollen, bietet es nur wenige Bilder vom gemeinsamen Handeln auch älterer Menschen zu gemeinsamen politischen – nicht nur materiellen – Zielen (Schenda 1990, S. 160).

Im Gegensatz dazu steht die Einstellung von Lüthi (1974, S. 25), der festhält, dass

„das Märchen nicht darauf aus [sei], die konkrete Welt mit ihren vielen Dimensionen einfühlend nachzuschaffen.“ Lüthi (ebda) sieht die Welt im Märchen umgestaltet, es verzaubere „ihre Elemente, gibt ihnen eine andere Form und erschafft so eine Welt 1 Aktuell ist sie im Brüder Grimm Museum in Kassel zu sehen.

völlig eigenen Gepräges“.

In nachfolgendem Kapitel soll untersucht werden, wie die Einstellung zu Altern und Alten in der Geschichte gewesen ist.

2.1.3 Alter, Alterung, Altersbilder aus historischer Perspektive und im Märchen