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3.1 Interpretationen und Kategorisierungen

3.1.4 Hänsel und Gretel

Drewermann (margarete 2003, online) interpretiert aus tiefenpsychologischer Sicht das Märchen aus der Perspektive der Kinder, wobei die Armut, die existenziell sei, den Zwiespalt zwischen den Eltern und den Kindern auslöse. Hänsel und Gretel sind in Drewermanns Interpretation nicht zwei Personen, sondern nur eine Person, Hänsel mit den weiblichen und männlichen Anteilen in seinem Wesen. Besonders wird darauf eingegangen, wie beharrlich Hänsel versuche, zu den Eltern zurückzukommen, wenngleich sie ihn verstoßen haben. Er spare sich dafür sogar das Brot vom Mund ab, was Drewermann (ebda) als Werben um Liebe und Anerkennung durch Verzicht wertet. Die Hexe stelle die negativen Anteile der Mutter dar, mit denen sich die Gretelanteile auseinandersetzen müssen. Hexe und Mutter

seien ebenfalls zwei Seiten derselben Person. Es müsse zuletzt eine Entscheidung zwischen Leben und Tod getroffen werden. In diesem Zusammenhang weist Drewermann auf seine Ansicht hin, dass der Tod von Hexen, Riesen und anderen Zaubergestalten in Märchen niemals den physischen Tod meinen würde, sondern die Überwindung von ängstigenden Vorstellungskomplexen. Der Hänsel-Gretel-Junge löse sich demnach aus kindlichen Ängsten, Unsicherheiten und Abhängigkeiten und könne dadurch den Eltern, insbesondere der Mutter, auf Augenhöhe als gleichberechtigter Erwachsener begegnen. (Ebda) Bettelheim (1977, S. 184 ) interpretiert die Erlebnisse des Geschwisterpaares, indem er meint, Kinder würden lernen und erfahren, dass Altersgenossen Stütze und Hilfe in der Not seien, im Gegensatz zu den Erwachsenen, die täuschen und so tun als ob. Die gesamte Erzählung drehe sich um Brot und Hunger, um existenzielles Überleben. Darum fressen die Kinder die Hexe um Haus und Hof – für Bettelheim (ebda) ein Bild für den Mutterleib.

In der vorliegenden Interpretation soll nicht die gesellschaftliche Lage der Lebensumstände kritisch untersucht werden, wenngleich darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass das Verschicken von Kindern in die Fremde aufgrund von Armut eine gängige Praxis war und ist. Vielmehr sollen die drei Frauengestalten, welche drei Generationen angehören, untersucht werden. Die Mutter ist dabei eigentlich keine Mutter, denn ihr fehlen jegliche mütterliche Eigenschaften. Wenn sie sich freundlich gibt, dann nur zum Schein. Sie treibt die Kinder dort hin, wo die Urängste jedes Kindes liegen; nach Bettelheim (1980, S. 183) ist dies, von den Eltern ausgesetzt und verstoßen zu werden, um dann verhungern zu müssen. Er betont,

„Armut und Not macht den Menschen nicht besser, sondern eher egoistischer und weniger einfühlend für die Leiden anderer, so daß er leicht auf Abwege geraten kann“

(ebda). Die Mutter will dem Hunger dadurch entgehen, dass sie ihre Kinder sich selbst überlässt, weil sie offensichtlich unfähig ist, zum Erhalt der Familie beizutragen. Es ist die Beschreibung einer verzweifelten Intrigantin, die in der Gestalt ihres Mannes einen schwachen nachgiebigen, leicht beeinflussbaren und erpressbaren Verbündeten findet. Sie muss sich dafür nicht sonderlich anstrengen, und bei allen Skrupeln, die der Mann hat, setzt sich die Frau durch. Sie hat den

stärkeren Willen, ist stark gegenüber dem Vater, aber schwach gegenüber ihren Kindern. Beide Eltern sind unfähig, mit den Kindern zu kommunizieren. Die Kinder werden somit nicht zu Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Solidarität erzogen, sondern die Mutter stellt ein schlechtes Vorbild dar.

Die Rolle der Verantwortung übernimmt nicht der Vater, sondern Hänsel, und zwar für sich selbst und seine Schwester. Er nimmt sie bei der Hand und tröstet sie, gibt ihr das, zu dem die Mutter aufgrund herrschender Armut nicht fähig ist, nämlich Geborgenheit, Schutz und Führung.

Das Gegenbild zu dieser unmütterlichen Mutter ist die Hexe bei ihrem ersten Erscheinen, die hier stellvertretend für die Alten der dritten Generation steht. Wie die Mutter, so verkörpert auch sie das Böse. Aber nur dadurch, dass beide Frauen die Kinder, vor allem Gretel, herausfordern, diese bis an ihre Grenzen treiben, bringen sie deren Entwicklung in Gang. Die Kinder geraten immer tiefer in den Wald, entfernen sich immer mehr von jeglicher Zivilisation, bis sie beim Hexenhaus ankommen, ein Asyl, eine Bleibe zum Überleben, das sie wegen ihrer Naivität und Unerzogenheit und aufgrund ihres Hungers sogleich beginnen, aufzuessen. Sie denken, im Paradies zu sein, so freundlich und fürsorglich werden sie aufgenommen.

Das tagelange Umherirren im Wald hat sie in ihrer Entwicklung nicht weitergebracht.

Sie sind nicht selbstständiger geworden, denn sie wollen nach wie vor dorthin zurück, von wo sie verstoßen worden sind, um weiter ernährt zu werden. Darum kann die Hexe sie leicht einfangen, doch dann fordert sie von Gretel Leistung und Eigenständigkeit, indem sie ihr den Bruder nimmt und ihn wegsperrt. Schließlich bringt die Hexe Gretel in eine derart existenzielle Gefahr, dass, wäre sie nicht zu einem eigenständigen Schritt bereit, es nicht nur ihr selbst, sondern auch dem Bruder das Leben kosten würde. Indem Gretel die Hexe – die Mutterfigur – in den Ofen schiebt, verbrennt sie gleichsam ihr Kleinmädchenwesen. Dies ist wie ein Opfergang, den die Hexe für die Emanzipation eines Mädchens auf sich nimmt. Man könnte es aber auch so deuten, dass die alte Hexe von der Gretel aktive Sterbehilfe fordert. Sie setzt sich freiwillig auf den Schieber und läßt sich in den Ofen schieben.

Sie selbst hatte das mit Gretel vor, wenn diese es nicht tut und es wird nicht ersichtlich, ob die Hexe nicht das gleiche von Gretel annimmt.

Die alte Hexe wird Kindern durch den Erzählstil des Märchens als Inbegriff des

Bösen vermittelt, vor der sie sich fürchten müssen. Die Hexe ist tatsächlich diejenige, die die Kinder bei sich aufnimmt, sie ernährt, wie sie bei den Eltern nie ernährt wurden, sie erzieht und sie lebens- und überlebensfähig macht. Sie zeigt ihnen aber auch, dass sie für Leben und Essen eine Gegenleistung verlangt – etwas, das die Kinder bisher nicht kannten.

Hänsel und Gretel weist dabei eine archaische Sozialordnung auf, von der auch Kinder nicht ausgenommen waren. Kinder mussten, ihrem Alter und Wachstum entsprechend, Arbeiten für den Erhalt der Familie leisten, so wie jedes andere Familien- und Hausmitglied. Das galt für den Beginn des Lebens ebenso wie für das Ende – Alte, die nicht mehr arbeitsfähig waren, wurden ebenso wenig wie chronisch Kranke, die keinen Beitrag leisten konnten, geduldet. Lebensumstände und -bedingungen sowie allgegenwärtige existenzielle Notlagen gaben ein derartiges Agieren vor. Eigentlich wäre es die Aufgabe der Eltern gewesen, den Kindern das zu lehren, aber sie setzen die Kinder, als einzige Überlebensstrategie für sich selbst, aus. In der Folge ist es die Hexe, die den Kindern lernt, wie eine Sozial- und Arbeitsordnung funktioniert. Es ist typisch für den abstrakten Märchenstil, dass das Böse überzeichnet als ausschließlich böse dargestellt wird, nämlich aus der Perspektive der Kinder, indem die Hexe ihnen Leistungen und Selbstständigkeit abverlangt. Die Hexe hinterlässt den Kindern schließlich ihre gesamten Reichtümer, sodass sie mit Perlen und Edelsteinen beladen den Weg nach Hause finden und den Vater zu einem reichen Mann machen. Die beiden Frauengestalten, durch deren Handeln die Kinder auf einen Entwicklungsweg geschickt wurden, sind beide tot.

Auffallend an diesem Märchen ist die Passivität des Vaters, der dadurch als der Gute gefühlt wird (aus kindlicher Perspektive), was im Gegensatz zur historischen Beschreibungen von der Stellung des Mannes steht. Die Frauen hingegen aggieren, wie es eigentlich vom Mann erwartet würde und werden so als böse gestempelt.

Ebenso ist das Bild der unschuldigen Kinder zweifelhaft, sie morden die Hexe und stehlen von ihren Reichtümern, was sie nur tragen können.

3.1.4.1 Items

Die dritte Generation wird verkörpert durch die alte Hexe; sie lebt alleine im tiefen

Wald, ist Erzieherin, Ernährerin und Prüferin, fordert heraus, provoziert auf Kosten ihres eigenen Lebens. Beschriebene Charaktereigenschaften sind dabei: Listig und falsch, aber auch fürsorglich und freundlich, streng und unbarmherzig, ungeduldig.

Lebensstil: selbstbestimmt, autark, ohne Not, alleine außerhalb der Gesellschaft als Kannibalin. Ihre äußerliche Erscheinung wird als klein, zittrig und schwersichtig beschrieben.

Innerhalb der mittleren Generation ist die Mutter handlungsleitend, aufgrund ihres Überlebenswillens. Sie ist willensstark, ohne Empathie, intrigant und falsch. Der Vater als weiterer Angehöriger der mittleren Generation ist ein Getriebener ohne Selbstbehauptung und Eigeninitiative. Er ist willensschwach, ohne Lösungsorientierung, empathisch, feige, lässt sich von der Frau verführen, agiert passiv und gelangt erst durch fremde Hand zu Reichtum.

Handlungsbogen zwischen den Generationen: Mittlere Generation verstößt junge, alte Generation nimmt sie auf, ernährt, stößt Entwicklung an, überläßt Reichtum und wird von junger Generation getötet;diese kehren zur mittleren Generation zurück.