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Konklusionen: Die Darstellung des Alters in den ausgewählten Märchen

Innerhalb der Kategorisierungen wird sichtbar, dass die Alten der mittleren Generation die eigentlichen Verursacher für die Schicksalsverläufe sowohl der jungen als auch der alten Generation sind. Sie scheinen diese geradezu abzulehnen – drastisch dargestellt in den Bremer Stadtmusikanten. Eine Ausnahme stellen Rothkäppchen und Dornröschen dar, worin die Großmutter und die Feen als Hochaltrige in freiwilliger Verbindung zur mittleren Generation stehen. Ebenso evident ist das Leben außerhalb beziehungsweise am Rande der Gesellschaft der hochaltrigen Frauen und Männer. Es zeigt sich zudem, dass sie allesamt starke und, für den abstrakten und flächenhaften Märchenstil komplexe Persönlichkeiten sind, die einen selbstbestimmten, autarken und eigenverantwortlichen Lebensstil pflegen.

Sie sind zwar alleine, trotzdem entsteht nicht der Eindruck von Einsamkeit, eher von

„All-eins-Sein“. Die Hochaltrigen (beiderlei Geschlechts) sind diejenigen, die die Jungen aufnehmen, sie gleichsam „einsamen“ und auf ihren Lebens- und Schicksalsweg schicken, indem sie ihnen Prüfungen und Bewährungsproben auftragen. Sie sind nicht angewiesen auf die Jungen, aber die Jungen sind von ihnen abhängig, um zu überleben und/oder Entwicklungsschritte zu vollziehen. Die Hochaltrigen lassen sich weder sozialen noch gesellschaftlichen Zwängen und Normen unterordnen.

In Anbetracht dessen, dass aus der Geschichtsforschung bekannt ist, dass leistungsschwache alte Menschen und im Speziellen alleinlebende alte und hochaltrige Frauen gesellschaftlich geächtet waren, zeigt sich die Perspektive, in der sich eine patriarchal geprägte Gesellschaftsstruktur offenbart. Eine patriarchale Gesellschaftsordnung muss alleine lebende, selbstbewusste und autarke Frauen ablehnen. Sie werden gefürchtet, überspitzt formuliert als subversive Elemente (Kannibalinnen), da sie sich keinem Mann unterordnen. Die mittlere Generation der

Alten hingegen bietet eher ein düsteres Bild. Sie lebt ein getriebenes, unfreies Leben, gefangen von sozialen Leistungs-, Arbeits- und Überlebenszwängen oder egoistischem Ehrgeiz. Ihre Beziehung zur jungen Generation ist von Nützlichkeitsmotiven geprägt, bis hin zu Neid, Hass, Missgunst. In zwei Märchen sind die Ehefrauen ihren Männern überlegen, für damalige Verhältnisse ein demütigender und erniedrigender Zustand für die Männer, die, laut Gesetz, der Vormund der Frau und dazu berechtigt waren, die Frau zu beherrschen und zu züchtigen, wenn sie ungehorsam war. In zwei weiteren Märchen töten die Jungen die Alten; von den Jungen wird dies als Bestrafung und Rache gesehen, von den Alten als Opfer an die Jungen (z. B. Hänsel und Gretel), und einmal wird eine Alte zum Opfer einer jungen Täterin (Sneewittchen) – jedenfalls aus der Perspektive der Alten betrachtet. In Rothkäppchen wird der triebhafte Wolf getötet.

Trotz angeführter Altersgebrechlichkeiten sind die Hochaltrigen lebensfroh, rüstig und allesamt zu einem selbstständigen Leben ohne Pflegebedürftigkeit fähig. (Es kann gedeutet werden, dass sie über ihr Lebensende selbst bestimmen – Hexe und Großmutter in KHM 26 – ungeachtet von Moral- und Glaubenssätzen.) Fünf Frauenfiguren der mittleren Generation, also der Alten, werden negativ dargestellt, bei den Männern sind es zwei. Bei den Hochaltrigen ist das Verhältnis positiv zu negativ ausgeglichener: auf drei positive männliche Gestalten kommen zwei eindeutig positive weibliche Gestalten, zwei ambivalente, also keiner Seite eindeutig zuordenbare, und eine negative weibliche Gestalt – die dreizehnte Fee. Dieser steht eine negative männliche Gestalt – der Wolf – gegenüber.

Damit lässt sich aus den sechs Märchen eine Tendenz ablesen. Die Kindheit und Jugend wird als Zeit der Prüfungen und Bewährungen dargestellt, in welche die junge Generation von der Elterngeneration hineingetrieben wird. Die mittlere Lebensphase wird definiert als schwierigste Zeit, eingekeilt in Verpflichtungen, Aufgaben, Erwartungen und Leistungsdruck. Das hohe Alter erweist sich allerdings als Zeit der Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.

Zusammenfassend können die drei Lebensalter folgendermaßen charakterisiert werden: In fünf der beschriebenen Märchen bekommt die Lebensphase von Kindheit und Jugend einen Wert an sich, alleine durch die Stellung, die nachwachsende Generation zu sein. Die mittlere Generation als die Gebärende und Ernährende übt

nach außen hin Macht über die Jungen und deren Lebensweg als auch über die Alten und deren Lebensende aus. Nach innen ist die mittlere Generation allerdings ge- und befangen in vorgegebenen Lebensmustern und den Werten, die die Gesellschaft vorgibt. Das hohe Alter und die Hochaltrigen besitzen in allen sechs Märchen keinen Existenzwert an sich. Sie müssen sich durch ihre eigenen Handlungen den eigenen Wert und Sinn selbst erschaffen. Erst der Umgang mit Beziehungen nach außen – sei es zu Jungen oder zu Gleichaltrigen – und das ihnen innewohnende Selbstverständnis gegenüber Welt und Leben generieren ihren Wert (nach außen) und zeigen: sie sind vorbildhaft und damit unersetzlich vor allem für die Entwicklung der junge Generation.

Diese Schlusssequenz steht auch in Hinblick auf die historischen Fakten, die, wie erläutert wurde, in Märchen als Grundzüge mitschwingen und ebenfalls – wenn auch in geänderten Erscheinungsformen – zeitüberdauernd sind.

4 Schlussbetrachtung

Um in keine Amphibolien zu fallen, muss an dieser Stelle auf die Limitation der vorliegenden Studie hingewiesen werden. Nachdem sechs Märchen aus der Kinder-und Hausmärchen-Sammlung der Brüder Grimm nach gerontologischen Aspekten ausgewählt wurden, besteht kein Anspruch auf Generalisierung weder in Bezug auf den ATU-Typenkatalog noch für den Gesamttypus Märchen. Die Untersuchungsmethoden, welche in dieser Arbeit angewandt wurden, sollen literaturwissenschaftlichen Anforderungen weder entsprechen noch diese erfüllen.

Würde die Methode adaptiert und auf die gesamte Grimmsche Märchensammlung angewendet, ließe sich möglicherweise eine verifizierbare Aussage zu Alter/Altsein in Märchen generalisierend formulieren. Nachdem im ATU die Typenbildung Alter nicht berücksichtigt ist, wäre es Aufgabe der Literaturwissenschaft, im Speziellen der Märchenforschung, diesen Typus einzubeziehen. Dies wäre alleine aufgrund der Tatsache wichtig, dass Alter ein Thema darstellt, das die Menschheit von jeher bewegt hat, und die Alten sicher nicht nur in diesen Märchen eine unübersehbare Dominanz einnehmen.

Die Hochaltrigen in den ausgewählten Märchen sind allgegenwärtig und evident handlungsleitend, Tod und Sterben spielen eine minimale Rolle und wenn, dann tritt der Tod gewaltsam als logische Folge von Handlungsgeschehnissen auf, nicht aber als Folge des hohen Alters. Ohne Schaden zu nehmen, überlebt selbst die Großmutter in Rothkäppchen den Aufenthalt im Bauch des Wolfes. Dafür muss das uralte Männliche getötet werden. Im Gegensatz dazu geht die Hexe freiwillig in den Tod.

Hochaltrigkeit wird in den Märchen folglich nicht präferentiell mit dem Ende des Lebens in Verbindung gebracht, sondern im Gegenteil mit einem Aufbruch in ein neues Leben, wie die Bremer Stadtmusikanten belegen. Diese machen Mut auf das hohe Alter, im Gegensatz zu historischen Studien und aktuellen Debatten über Hochaltrigkeit (vgl.: gesellschaftliche Kosten, Demenz, Pflegebedürftigkeit). Die Hochaltrigen in den Märchen sind aktiv, ohne rastlos zu sein, sie sind weltoffen – ihr Haus besitzt stets eine offene Türe für die Jungen –, ohne reiselustig zu sein (nicht einmal die Bremer Stadtmusikanten reisen weit), sie leben frei und außerhalb gesellschaftlicher Normen und Konventionen, ohne dabei prinzip- oder verantwortungslos zu sein, und sie sind darüber hinaus ohne Spuren von Vergesslichkeit. Das hohe Alter wird sogar als kulturelles Gedächtnis beschrieben.

(KMH 50) Ablehnung dem hohen Alter gegenüber, dem eigenem wie dem Fremden findet sich nur bei der mittleren Generation, den Alten. (KHM 53 und 27). Die Märchen affirmieren das hohe Alter nicht, sie nehmen es als gegeben hin, und die Hochaltrigen akzeptieren es so, wie es sich zeigt. Sie leben ihr Alter, ohne veraltet zu sein. Sie entsprechen nicht den positiv tradierten Altersvorstellungen von Gelassenheit (ihr Zorn ist geradezu gefährlich) und Nachsichtigkeit (abgesehen von der Großmutter in KHM 26). Sie wissen was sie wollen und setzen es durch, fallweise auch mit Gewalt (KHM 27 und 12). Die Begrifflichkeit Altersweisheit müsste gesondert untersucht werden.

Die beschriebenen Märchen können von dieser Perspektive ausgehend durchaus einen Teil zum aktuellen gerontologischen Diskurs beitragen und geben den Menschen einen Schlüssel zur Alterszufriedenheit in die Hand. Die richtige Türe mit dem passenden Schloss muss allerdings individuell gefunden werden, wie die unterschiedlichen Intentionen der Hochaltrigen belegen. In den Märchen haftet dem

hohen, und zwar ausschließlich dem hohen Alter, ein Glanz an, der den anderen Altersgruppen fehlt. Es muss offen bleiben, wäre allerdings eine Forschungsuntersuchung wert, ob dies nur ein Traum ist, den die Menschheit von dieser Lebensphase geträumt hat (beziehungsweise immer noch träumt) oder der Darstellung ein Realitätsbezug zugrunde liegt und ob er Märchenübergreifend ist. Es gehört überdies zum Wesen der Märchen, nicht tendenziös zu sein im Verfolgen von Deutungen und Absichten, also in diesem Falle der Hochaltrigkeit ein positives Gesicht zu verleihen. Nach Lüthi (1974, S. 5) betrachtet das Märchen und stellt dar, ohne Hintergrund, ohne Hintergedanken, es sei eine traumhafte Schau der Welt.

Dieses besondere Wesen des Märchens sei bei jeder Auslegung zu berücksichtigen.

Den Abschluss vorliegender Studie bildet ein Auszug aus Jacob Grimms Rede über das Alter (1863, S. 65); das Alter sei demnach „eine eigene macht, die sich nach ihren besonderen gesetzen und bedingungen entfaltet; es ist die zeit einer im vorausgegangenen leben noch nicht so dagewesenen ruhe und befriedigung, an welchem zustand dann auch eigenthümliche wirkungen vortreten müssen“.

Es wäre eine Forschung wert, Abbildungen von alten Figuren in Märchenbuchbildern zu analysieren und deren Wirkung auf die Deutung der Hochaltrigen in Märchen.