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Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27 in der Ausgabe letzter Hand von 1857)

2.2 Analysen der ausgewählten Märchen

2.2.6 Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27 in der Ausgabe letzter Hand von 1857)

Die Bremer Stadtmusikanten tritt gleich in vier Klassifizierungen im ATU-Index auf:

125, 126, 130 und 715. Zum ersten Mal wird das Märchen von den Brüdern Grimm ab der zweiten Auflage von 1819 in ihre Sammlung unter der Nummer 27 aufgenommen. Das Märchen stellt in jeder Hinsicht eine Ausnahme dar, denn die Helden sind nicht jung, schön und kraftvoll, sondern alt, abgearbeitet und in ihrer

Leistungskraft verbraucht. Es werden Tiergestalten beschrieben, die am Ende ihres Lebens zu Helden werden und gemeinsam eine Heldentat vollbringen. Die Vier hatten sich zwar vorgenommen, nach Bremen zu gehen, sie kamen dort aber nie an.

Der Titel des Märchens ist demnach etwas irreführend.

Lebens- und Arbeitsbedingungen der vier Tiere:

Der Esel – stellvertretend für den Knecht – im Märchen ist ein Müllersesel, der sein Leben lang mit schweren Säcken beladen wurde, die er täglich zur Mühle tragen musste. Er war von morgens bis abends im Zaumzeug, sodass er jederzeit beladen werden konnte. Von Natur aus ist der Esel ein Herdentier, als domestiziertes Nutztier muss er alleine ohne Artgenossen leben. Wenn er nicht folgsam ist, gibt es Schläge und Tritte, der Esel erfährt während seines Arbeitslebens keine Freiheit und wird gezwungen, ein Leben zu führen, das nicht seinen natürlichen Instinkten entspricht.

Da er das geknechtetste aller Tiere gewesen ist, ist er nicht bereit, sich nach diesen langen Jahren der Mühsal, Unterordnung und des Dienens einfach beseitigen zu lassen. Er ist es gewohnt, auf sich selbst gestellt zu sein, und er hat keine Scheu davor, in ein unbekanntes freies Leben aufzubrechen. Er macht sich auf, und erst unterwegs kommt ihm die Idee, dass er nach Bremen gehen könne, um sich dort als Straßenmusikant durchzuschlagen. Er kann zwar nicht menr das leisten, was sein Herr von ihm fordert, aber er ist noch nicht zu alt und verbraucht für dieses neues Leben. Er ist der Impulsgeber für die anderen Tiere, die er unterwegs trifft.

Der Jagdhund – stellvertretend für den Diener – ist ein abgerichteter Hund, der für seine eigentliche Arbeit von der Leine gelassen werden muss. Er geht über seine Instinktnatur hinaus, indem er Wild jagt und stellt, aber nicht tötet. Er kennt seine Aufgaben und weiß, was sein Herr von ihm erwartet; er ist jederzeit zu absolutem Gehorsam bereit. So ist er zwar dem Willen seines Herrn ganz untergeordnet, der ihn dafür ernährt und ihm einen Platz in seiner Nähe einräumt, kann aber seiner Natur gemäß seinen Bewegungsdrang ausleben. Der Jagdhund schafft es, seinem Herrn davonzulaufen, es fehlt ihm danach aber ein Anstoß von außen. Dazu muss ihm erst der Esel begegnen: „'Nun, was jappst du so, Packan?' fragte der Esel. 'Ach, sagte der Hund, weil ich alt bin und jeden Tag schwächer werde, auch auf der Jagd nicht mehr fort kann, hat mich mein Herr wollen tot schlagen, da hab ich Reißaus

genommen; aber womit soll ich nun mein Brot verdienen?'“ (Rölleke 2009, S. 154).

Die Katze – stellvertretend für den Taglöhner – wird nicht gehalten wie ein Hund oder gar Esel. Sie lebt in ihrer Umgebung sozusagen als freie Mitbewohnerin, kommt und geht, wie es ihr gefällt. Sie darf sich einen warmen Platz am Ofen suchen und bekommt täglich etwas Milch, dafür wird von ihr erwartet, dass sie Haus und Hof von Mäusen und Ratten frei hält. Die Katze lebt demnach ein freies, ihrer Natur entsprechendes Leben, muss allerdings für eine Lebensberechtigung die Erwartungen der Hausherrin erfüllen. Als sie zu alt zum Mäusefangen geworden ist, will die Hausherrin die Katze ertränken. Um diesem Schicksal zu entgehen, läuft diese weg, sitzt dann trübsinnig am Weg und findet sich in der neugewonnenen Lebenslage nicht zurecht. „'Geh mit uns nach Bremen, du verstehst dich doch auf die Nachtmusik, da kannst du ein Stadtmusikant werden'“ (Rölleke 2009, S. 154). Wie bereits der Hund benötigt auch die Katze den Anreiz des Esels, um eine neue Lebensperspektive zu finden.

Der Hahn – stellvertretend für den Tagelöhner – ist der Jüngste unter den Gesellen.

Er hat nicht von alleine Reißaus genommen, und wären die drei Tiere nicht an seinem Hoftor vorbeigekommen, hätte er sich in sein Schicksal ergeben und wäre im Kochtopf der Frau gelandet. Er führt ein freies Leben in seiner Hühnerherde, deren oberster Herr er ist, dem das beste Futter zusteht. Es wird nichts von ihm erwartet, was nicht seinen natürlichen Instinkten entspräche. Geschlachtet wird ein Hahn, wenn ein jüngerer und kräftigerer Hahn nachgewachsen ist. Dementsprechend ist er nicht fähig, von selbst diese natürliche Ordnung zu verlassen, sondern entkommt seinem vorzeitigen Tod nur dadurch, dass die Tiere rechtzeitig das Hoftor passieren und ihm anbieten, mit ihnen zu kommen: „'Ei was, du Rotkopf,' sagte der Esel, 'zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas besseres als den Tod findest du überall'“ (Rölleke 2009, S. 155).

Aus diesen Erörterungen ergibt sich der Schluss, dass jenes Tier, dem die größte Knechtschaft und Leistung abverlangt wurde, den größten Mut für ein neues Leben, Vision und Überzeugungskraft besitzt.

Musik und Musikinstrumente:

Der Esel will die Laute schlagen – dies ist ein Motiv aus dem Grimmschen Märchen Das Eselein (KHM 144). Der Esel in den Bremer Stadtmusikanten hat trotz seines Alters noch so viel Lebenslust, dass er etwas ganz Neues in seinem Leben angehen will und zwar in einer neuen Umgebung. Er will neue Saiten in seinem Leben zum Klingen bringen und scheut dazu keine Umstände, hat weder Skrupel noch Hemmungen. Ein Gegensatz zwischen Laute und Esel liegt darin, dass das Geschrei eines Esels durch Mark und Bein geht und noch in der Ferne zu hören ist, wohingegen eine Laute sehr verhaltene und sanfte Töne erzeugt. Diese Gegensätzlichkeit wird auch durch die Entschlossenheit des Esels zum Ausdruck gebracht, von seinem bisherigen Leben in Knechtschaft in ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung aufzubrechen. Mit seiner unüberhörbaren Stimme und seiner Vision überzeugt er die anderen Tiere.

Der Hund war damit zufrieden, die Pauke zu schlagen, wie der Esel es ihm vorschlägt. Pauken gehören zu den Schlaginstrumenten und zeigen die rhythmische Struktur eines Musikstückes. „Mit Pauken und Trompeten“ drückt umgangssprachlich das Hereinbrechen eines überwältigenden Ereignisses aus, gerade so, wie die vier Musikanten in das Haus der Räuber einbrechen. Der Hund hat aufgrund seines rhythmischen Gebells Anteil daran.

Katze und Hahn benötigen für das neue Leben keine Instrumente, sondern nur ihre Stimmen. Der Vorschlag des Esels für die Katze ist, dass sie für die Nachtmusik sorgen solle. Das Gejaule von läufigen Katzen, die nachts ihresgleichen begegnen, ist bekannt und unüberhörbar. Der Hahn ist ebenfalls unüberhörbar. Beide können in ein neues Leben aufbrechen, ohne neue Fähigkeiten erlernen zu müssen. Diesen beiden wird am wenigsten abverlangt, da sie wohl auch die geringste Bereitschaft besitzen: die Katze „schaut wie drei Tage Regenwetter“ (Rölleke 2009, S. 154 ), was einer Depression gleichkommt, der Hahn hat keinen eigenen Impuls zum Überleben.

Musik und das Musizieren sind Universalsprachen, die alle Sprachbarrieren, soziale, nationale und kulturelle Unterschiedlichkeiten überwinden läßt.

Räuberhaus und Wald:

Räuber waren von jeher Menschen, die außerhalb des Gesetzes und

gesellschaftlicher Normen lebten. Sie waren vogelfrei im Sinne ihres Lebensstiles sowie laut Gesetz (Lüthi 2008). Darum leben und bewegen sie sich im Wald, der ihnen Schutz und Verborgenheit bietet. Räuber versetzten durch den Wald Reisende in Angst und Schrecken.

Die vier alten und eigentlich wehrlosen Musikanten schlagen allerdings ihrerseits die Räuber in die Flucht und rauben ihnen ihr Haus, indem sie diese in Angst und Schrecken versetzen. Gemeinsam sind sie dazu in der Lage, denn einem alleine wäre es niemals gelungen, zuerst die ganze Bande und danach den Auskundschafter für immer zu vertreiben. Dieser jedenfalls erzählt seinen Kumpanen voller Angst:

in dem Haus sitzt eine greuliche Hexe, die hat mich angehaucht und mit ihren langen Fingern mir das Gesicht zerkratzt: und vor der Tür steht ein Mann mit einem Messer, der hat mich ins Bein gestochen: und auf dem Hof liegt ein schwarzes Ungetüm, das hat mit seiner Holzkeule auf mich losgeschlagen; und oben auf dem Dach, da sitzt der Richter, der rief 'bringt mir den Schelm her'. Da machte ich dass ich fortkam (Rölleke 2009, S. 157).

Dieses Beispiel zeigt, auf welche Weise Angst die Realität verzerren kann und Individuen das sehen lässt, vor dem diese sich am meisten fürchten. Vier alte Gesellen finden in dem Haus derjenigen einen Altersruhesitz, welche sich aus freiem Entscheid außerhalb der Gesellschaft bewegen. Das Räuberhaus wird demnach von da an von jenen bewohnt, die ihre Lebenskraft und ihre Fähigkeiten einer Gesellschaft zur Verfügung gestellt haben, die sie im Alter, wenn ihre Leistungsfähigkeit nachgelassen hat, verstößt. Sie leben nun auch in gewisser Weise in der Illegalität. Im Räuberhaus finden sie reichlich Essen und Trinken, für das sie sich früher unterwerfen und dienen mussten. Das Erreichen dieser Dinge zeugt von Lebenserfahrung und Weisheit. Das ehemalige Räuberhaus wird zu einer Heimstatt für weise gewordene Alte, und wie es weise alte Männer und Frauen in den Märchen tun, leben sie im Wald.

Die Analyse des Märchens gliedert sich nach drei Abschnitten, die im Märchen auffallen:

1. Abschnitt: Entschluss, Idee, Ziel, Gruppenbildung

2. Abschnitt: Zwischenrast im Wald und Auffinden des Räuberhauses 3. Abschnitt: Eroberung des Räuberhauses und In-Besitz-Nehmen

Die Bremer Stadtmusikanten ist ein Musterbeispiel für die gelungene Kooperation

zwischen den unterschiedlichsten Charakteren und Milieus zum Erreichen eines gemeinsamen Zieles – das zu Beginn allerdings ein anderes war als es am Ende ist.

Nicht Freundschaft oder gar Liebe zueinander, nicht einmal Sympathie füreinander sind das Motiv, sondern die gemeinsame Lebenssituation ist das verbindende Element: am Ende ihrer Leistungsfähigkeit als Arbeitstiere zu stehen, von ihren ehemaligen Herren/Frauen zum Tode verurteilt. In KHM 27 gehen Männer und Frauen gleichermaßen erbarmungslos mit den Tieren um. Der Esel, der in seinem Arbeitsleben am meisten geknechtet war, hat ein Ziel und eine Idee. Er überzeugt die anderen davon, dass es ein lohnenswertes Ziel ist, für das es sich lohnt, die eigene Befindlichkeit – Müdigkeit (Hund), Resignation (Katze) und Hoffnungslosigkeit (Hahn) – zu überwinden. Die Bremer Stadtmusikanten leben vor, dass eine Lebensgemeinschaft funktionieren kann, wenn es ein gemeinsames Ziel gibt – hier ist das Ziel, im Alter zu überleben. Jeder einzelne ist bereit, die ihm zugeteilte Rolle zu übernehmen. Das Neue in ihrem Leben, das bisher von den Erwartungen und Nützlichkeitsfaktoren einer sie domestizierenden Sozialität bestimmt war, ist die Musik. Die Tiere bilden eine Gruppe, die ihnen Sicherheit in einer ihnen fremden Welt und einem fremden Leben bietet. Einzig der Initiator bräuchte dafür keine Gruppe; er ist sich seiner Sache auch alleine sicher, weiß aber, dass er in der Gruppe bessere Chancen hat, sein Ziel zu erreichen. Kein Tier greift in die wesensgemäßen Gepflogenheiten des anderen ein, vielmehr nehmen sich die Tiere gegenseitig als selbstständige Wesen wahr. Die Entscheidungen des Esels werden nicht hinterfragt oder angezweifelt, in der Anfangsphase der Gruppenbildung zeigt sich ein Wechselspiel zwischen Selbstbestimmung und Gehorsam. Gemeinsam beratschlagen die Tiere und entwickeln eine gemeinschaftliche Idee, für deren Umsetzung jedes in eine neuartige Position treten muss. Nur auf diese Weise können sie ihr Vorhaben umsetzen. Ist das Ziel erreicht, kann jeder der Gesellen seinen eigenen Lebensstil verwirklichen.

Der dritte Abschnitt der Bremer Stadtmusikanten zeigt zudem, dass es für den Einzelnen beim unerwarteten Auftreten einer Gefahr förderlich ist, sich darauf verlassen zu können, dass jeder seinen Beitrag zur Abwehr der Gefahr leistet, und zwar mit den ureigensten Fähigkeiten des Kämpfens. Dieses Zusammenspiel stärkt die Gruppe, die dadurch scheinbar überwindbar wird und sich ihrerseits zur Ruhe

begeben kann.

3 Interpretationen und Ergebnisse

Nach der folgenden Interpretation werden Items aus dem jeweiligen Märchen herausgefiltert, um relevante Vergleichskomponenten für eine Kategorisierung zu erhalten. Kinder und Jugendliche werden dabei nicht einbezogen. Vor der Kategorisierung wird versucht, das Alter der jeweiligen Figur zu klassifizieren, um eine eingehende Aussage treffen zu können. Die Sichtweise aus der Perspektive der Alten mag dabei an manchen Stellen in Widerspruch geraten zu dem, was sich an (tiefen-)psychologisch-analytischen Interpretationen aus Sicht der Jungen ergeben würde. Dabei sind naturgemäß die Jungen primär und die Alten sekundär als Funktionsträger/innen auf deren Lebens- und Schicksalsweg anzusetzen. In der vorliegenden gerontologischen Interpretation dreht sich dieser Umstand insofern um, als die Alten die primären Rollen einnehmen und die Jungen durch das, was die Alten von ihnen fordern, das Wesen der Alten sichtbar machen.