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Hänsel und Gretel (KHM 15 in der Ausgabe von 1812)

2.2 Analysen der ausgewählten Märchen

2.2.4 Hänsel und Gretel (KHM 15 in der Ausgabe von 1812)

Hänsel und Gretel (KHM 15) gehört zu den Zaubermärchen und ist im ATU-Index unter der Nummer 327 zu finden.

1. Abschnitt: Kinder werden auf Anraten der Mutter zweimal aus dem Elternhaus verstoßen und irren im Wald umher

2. Abschnitt: Kinder kommen zum Hexenhaus und in die Gewalt der Hexe

3. Gretel besiegt die Hexe, indem sie diese in den Ofen schiebt; die Kinder kehren reich nach Hause zurück

Charakteristik der Personen:

Vater: gutmütig, aber willensschwach und ohne Initiative,passiv

Mutter: hartherzig, willensstark und lösungsorientiert, aktiv

Hänsel: Meister in Täuschen und Problemlösung; Gretels Beschützer

Gretel: entwickelt sich von einem passiven Schwächling, der an der Hand geführt werden muss, zu einer aktiven, selbstständigen Entscheidungsträgerin, von passiv zu aktiv

Hexe: Retterin, Ernährerin, Erzieherin, Reichtumspenderin, Befreierin aus Abhängigkeit und Armut, aktiv

Das Märchen entspricht nicht den strukturalistischen Merkmalen von typischen Zaubermärchen, da es nur vier diesseitig handelnde Personen einschließt: Mutter und Vater, Hänsel und Gretel. Die Hexe kann als eine jenseitige oder irreale Gestalt bezeichnet werden. KHM 15 weist demnach fünf anstatt sieben Aktanten auf. Der Text zeigt zudem anfangs einen jungen Helden, Hänsel, und schließlich eine Heldin, Gretel. Die Hexe bleibt die übernatürliche Helferin für die Kinder, denn mit ihrer Hilfe wird den Kindern ein Überleben im Wald möglich. Ihr Zaubermittel ist dabei das essbare Haus. Propp charakterisiert Hexen folgendermaßen: „Die Hexe weißt alle

Merkmale der Mutterschaft auf, aber gleichzeitig kennt sie kein Eheleben. Sie ist immer eine alte Frau und zwar eine alte Frau ohne Mann. Die Hexe ist Mutter nicht der Menschen, sie ist Mutter und Herrin der Tiere, der Waldtiere“ (Propp 1987, S. 71).

Der erste Abschnitt des Märchens zeigt die Lebensumstände, aus welchen die Kinder kommen. Der Vater, ein Tagelöhner und Holzfäller, der das tägliche Brot für seine Familie nicht erarbeiten kann. Als er eines Nachts schlaflos vor Hunger neben seiner Frau liegt, sagt diese: „'höre Mann, morgen früh nimm die beiden Kinder, gieb jedem noch ein Stückchen Brod, dann führ sie hinaus in den Wald, mitten inne, wo er am dicksten ist, da mach ihnen ein Feuer an, und dann geh weg und laß sie dort, wir können sie nicht länger ernähren (Panzer 0. J., S. 90). Die Frau ließ ihm keine Ruhe, bis er zusagte. Die Kinder belauschen das Gespräch der Eltern, und Gretel beginnt zu weinen, aber Hänsel tröstet sie und verspricht, dass sie wieder nach Hause finden können. Er schleicht sich hinaus und sammelt weiße Kieselsteine. Am nächsten Tag lässt Hänsel von Zeit zu Zeit einen Kieselstein fallen und dreht sich dabei nach dem Haus zurück. „Der Vater sprach: 'Hänsel, was guckst du zurück und hältst dich auf, hab Acht und marschir zu' – 'Ach Vater, ich seh nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach und will mir Ade sagen'“ (Panzer o. J., S. 91). Aus dieser Szene geht hervor, dass Hänsel genauso fähig dazu ist, die Eltern zu täuschen, wie diese die Kinder zu täuschen versuchen, wohingegen Gretel in dieser Lebensphase zu keiner eigenen Initiative fähig ist und sich weinend in alles fügt. Die Farbe Weiß steht für Unschuld, das Kätzchen für Verspieltheit; es ist wie ein Abschiednehmen Hänsels von seiner Kindheit, indem er sich bewusst wird, dass auf die Eltern kein Verlass ist, dass sie den Kindern weder Schutz noch Überleben bieten wollen. Als es Nacht wird, zeigen die weißen Kieselsteine den Kindern den Weg zu den Eltern zurück. „Der Vater freute sich von Herzen, als er seine Kinder wieder sah, denn er hatte sie ungern allein gelassen, die Mutter stellte sich auch, als wenn sie sich freute, heimlich aber war sie bös“ (Panzer o. J., S. 91). Hänsel und seine Mutter sind sich in der Kunst, zu täuschen, ähnlich. Als wieder einmal kein Brot im Haus war, sollte der Vater die Kinder noch tiefer in den Wald führen, wobei die Mutter die Haustüre verschließt, sodass Hänsel keine Kieselsteine sammeln kann. Hänsel täuscht die Eltern wiederum, um diesmal Brotkrumen auf dem Weg zu streuen: „'Ach, ich seh nach meinem Täubchen, das sitzt auf dem Dach, und will mir Ade sagen' – 'du Narr,

sagt die Mutter, das ist dein Täubchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein oben scheint'“ (Panzer o. J., S. 92). Die Taube ist das christliche Symbol für den (Heiligen) Geist, außerdem eine Assoziation zu Brieftauben, die über weite Strecken den Weg zurück zu ihrem Futterplatz finden. Die Mutter führt sie noch tiefer in den Wald hinein, und als die Kinder sich nachts auf den Weg machen, sind die Brotkrumen von Vögeln aufgepickt worden. Zwei Tage irren sie durch den Wald und sind sehr hungrig.

Zweiter Abschnitt: „Am dritten Tag gingen sie wieder bis zu Mittag, da kamen sie an ein Häuslein, das war ganz aus Brod gebaut und war mit Kuchen gedeckt, und die Fenster waren von hellem Zucker“ (Panzer o. J., S. 92). Hänsel schlägt vor, sofort davon zu essen, er vom Dach und Gretel von den süßen Fenstern. Indem die Kinder beginnen, das Haus aufzuessen, zeigen sie wenig Vernunft, denn sie zerstören unbedenklich das, was ihnen Schutz und Unterkunft bieten könnte. Als sie Stücke vom Haus abgebrochen haben und essen, vernehmen sie eine feine Stimme:

„'knusper, knusper Kneischen! Wer knuspert an meinem Häuschen!'“ (Panzer o. J., S. 93). Aus Schreck lassen die Kinder fallen, was sie in der Hand halten, gleich darauf sahen sie aus der Thüre eine kleine steinalte Frau schleichen. Sie wackelte mit dem Kopf und sagte: 'ei, ihr lieben Kinder, wo seyd ihr denn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollts gut haben', faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen“ (Panzer o. J., S. 93). Hier übernimmt die Hexe die Rolle der Mutter, nicht nur, dass sie die Kinder nährt und ihnen eine Unterkunft bietet, sondern auch, indem sie die beiden an der Hand nimmt und führt, eine Rolle, die bis dahin Hänsel zugekommen ist. Im Hexenhaus wird den Kindern aufgetischt, es werden zwei Betten bereitet, und die Geschwister meinen, sie wären im Himmel. Der Leser, die Leserin erfahren nun, was die wirklichen Absichten der Hexe sind, denn diese hat die Kinder angelockt, um sie zu töten und zu verspeisen. Sie sperrt Hänsel in einen Käfig, um ihn zu mästen, und Gretel ist von dem Moment an auf sich allein gestellt.

Sie wird wachgerüttelt, und die Hexe ruft: „'steh auf du Faullenzerin, hol Wasser und geh in die Küche und koch gut zu essen, dort steckt dein Bruder in einem Stall, den will ich erst fett machen, und wenn er fett ist, dann will ich ihn essen, jetzt sollst du ihn füttern'“ (Panzer o. J., S. 93). Gretel erschrickt und weint bitterlich, aber sie muss tun, was ihr befohlen wird. Jeden Tag kontrolliert die Hexe, ob Hänsel zunimmt, doch

dieser täuscht sie mit einem „Knöchlein“.

Dritter Abschnitt: Vier Wochen später möchte die Hexe Hänsel „schlachten und sieden“, sie befiehlt Gretel, Wasser zu holen, „ich [die Hexe, Anm. U.K.] will derweilen den Teig machen, daß wir dazu auch backen können““ (Panzer o. J., S.

94). Selbst mit dieser Ankündigung gelingt es noch nicht, Gretel aus ihrer kindlichen Apathie und Passivität zu reißen, erst Gottes Eingebung führt sie zu einer Tat, welche die Hexe vernichten soll: „Gott gab es aber Gretel ein und […] die Alte setzte sich auf das Brett, und weil sie leicht war, schob sie Gretel hinein soweit sie nur konnte, und dann machte sie geschwind die Thüre zu, und steckte den eisernen Riegel vor. Da fing die Alte an in dem heißen Backofen zu schreien und zu jammern, Gretel aber lief fort, und sie mußte elendiglich verbrennen“ (Panzer o. J., S. 94). Nun muss Gretel von niemandem mehr an der Hand genommen und getröstet werden. Sie befreit Hänsel, und beide füllen ihre Taschen mit Edelsteinen und Perlen aus dem Haus der Hexe und machen sich auf den Heimweg. Obgleich sie nun reich sind, wollen sie dorthin zurück, von wo sie verstoßen worden sind. „Der Vater freute sich als er sie wieder sah, er hatte keinen vergnügten Tag gehabt, seit seine Kinder fort waren, und ward nun ein reicher Mann. Die Mutter aber war gestorben“ (Panzer o. J., S. 94).

Beide Frauengestalten, die Negatives geplant hatten, müssen demnach in KHM 15 sterben.