• Keine Ergebnisse gefunden

Dornröschen (KHM 50 der Ausgabe von 1812)

2.2 Analysen der ausgewählten Märchen

2.2.2 Dornröschen (KHM 50 der Ausgabe von 1812)

Dornröschen (KHM 50) ist das Zaubermärchen ATU 410. In der Ausgabe letzter Hand der Brüder Grimm von 1854 wird nicht von dreizehn Feen sondern von dreizehn weisen Frauen geschrieben.

Das Märchen gliedert sich in drei Abschnitte, drei Bilder, drei Handlungskreise:

1. Bild: Ein lange herbeigesehntes Kind wird geboren, ein großes Fest veranstaltet, die Feen eingeladen, zwölf goldene Teller für dreizehn Feen im Reich, darum verflucht die nicht eingeladene Fee das Kind im fünfzehnten Lebensjahr zum Tode; die zwölfte Fee schwächt den Fluch zum hundertjährigen Schlaf ab.

2. Bild: Just an ihrem fünfzehnten Geburtstag ist die Prinzessin alleine im Schloss und kommt in die Turmkammer, wo sie die alte Frau mit der Spindel findet, an der sie sich sticht und in den Schlaf fällt – und mit ihr der gesamte Hofstaat.

3. Bild: Die Dornenhecke überwuchert das Schloss zu einem undurchdringlichen Gestrüpp. Nach hundert Jahren, als die Geschichte schon fast vergessen war, kommt ein Prinz, und die erblühenden Dornen geben ihm den Weg frei. Er küßt Dornröschen, woraufhin es und mit ihm das ganze Schloss erwachen.

Die sieben Handlungsabläufe:

1. Königin im Bade, Prophezeiung des Kindes, Geburt des Kindes 2. Fest mit zwölf Feen und Segenswünschen für das Kind

3. Fluch der dreizehnten Fee und Umwandlung in hundertjährigen Schlaf 4. Spindeln werden verboten und verbrannt

5. Erkundung des Schlosses durch Dornröschen und Stich mit der Spindel 6. Dornenhecke wächst

7. Zum richtigen Zeitpunkt kommt Erlöserprinz, Erwachen und Hochzeit

Die sieben handelnden Personen:

1. Dornröschen: passive Heldin und Opfer 2. König: Verursacher, falscher Held 3. Königin: Helferin

4. Zwölf Feen mit Segenswünschen: Schenkerinnen 5. Dreizehnte und zwölfte Fee: Aussenderin der Heldin 6. Alte Frau im Turm: Vollstreckerin

7. Prinz: Gegenheld und Erlöser

Die Objekte sind die zwölf goldenen Teller, die Spindeln, die Dornenhecke;

Schauplatz der Geschehnisse sind das Schloss und der Turm.

Diese Analyse ist auf den Zwist zwischen dem König und der dreizehnten Fee gerichtet, der als Ursache für den Dornröschenschlaf betrachtet werden kann.

Dementsprechend werden die drei Handlungskreise als Ursache, Verlauf und Wirkung bezeichnet. Dabei zeigen sich Paarbeziehungen: Dornen – Rosen, Wachen – Schlafen, Menschen – Feen, Schloss – Turm, Segen – Fluch.

Die Ursache: Ein Königspaar wünscht sich seit langer Zeit ein Kind, ohne dass ihnen der Wunsch erfüllt wurde. „Einmal saß die Königin im Bade, da kroch ein Krebs aus dem Wasser ans Land und sprach: 'dein Wunsch wird bald erfüllt werden und du wirst eine Tochter zur Welt bringen'“ (Panzer o. J., S. 189). Die Erwähnung des Krebses am Beginn ist nicht zufällig gewählt. Krebse scheinen wie Tiere aus einer längst vergangenen Zeit, „Krebs“ ist außerdem die Bezeichnung für einen Tierkreis am Fixsternhimmel. Die Sonne steht im Hochsommer (Juni/Juli) im Zeichen des Krebses; er gilt als Wasserzeichen und ist als solches dem Element Wasser zugeordnet. Das Wasser ist Symbol für das Verrinnen der Zeit und das Auslöschen von Konturen.

Genauso, wie der Krebs es der Königin vorhergesagt hatte, trifft es ein. Aus Freude über die Geburt seiner Tochter veranstaltet der König ein großes Fest, zu dem zwölf der dreizehn Feen des Landes eingeladen wurden. Die dreizehnte Fee tritt am Fest auf,

recht zornig, daß sie nicht war eingeladen worden und rief: 'weil ihr mich nicht gebeten, so sage ich euch, daß eure Tochter in ihrem fünfzehnten Jahre an einer Spindel sich stechen und todt hinfallen wird.' Die Eltern erschracken, aber die zwölfte Fee hatte noch einen Wunsch zu thun, da sprach sie: 'es soll aber kein Tod seyn, sie soll nur hundert Jahre in einen tiefen Schlaf fallen' (Panzer o. J., S. 189).

Der König will die Tochter vor dem Unglück bewahren, darum gibt er den Befehl aus, alle Spindeln in seinem Reich zu vernichten, und er hofft, damit seine Tochter beschützen zu können. Die Ursache für die Dornröschengeschichte liegt allerdings in dieser Nichteinladung der dreizehnten Fee, die sich am König rächen will. Die Fehde zwischen der affrontierten Fee und dem unhöflichen und unbedachten König wird in der Folge über das unschuldige Kind ausgetragen. Der König begeht mit der Abschaffung der Spindeln allerdings den nächsten verhängnisvollen Fehler, da Dornröschen Spindeln auf diese Weise nicht kennenlernen und sich nicht selbst schützen kann. Mit dem Dekret wird der König für sein Volk zum tyrannischen Herrscher, denn alle Spindeln zu vernichten, bedeutet, einen ganzen, für das einfache Volk lebensnotwendigen, Wirtschaftszweig zu verbieten. Der Fluch, der die

Königstochter treffen sollte, wird damit auf das ganze Reich übertragen.

Die Geschenke der elf Feen erfüllen sich an dem Kind und hüllen sein Leben bis zur Adoleszenz in Glück ein, denn alle liebten Dornröschen, weil es nicht nur schön, sondern auch verständig und freundlich allen gegenüber war. Gerade dann, wenn es für die Tochter gefährlich wird, wird sie von den Eltern alleine zurück gelassen.

Genauso, wie der König bei der Geburtsfeier aufgrund seiner Freude unbedachtsam gewesen ist, genauso unachtsam ist er zu dem Zeitpunkt, für den die Erfüllung des Fluches angesagt worden ist, denn

da ging sie [Dornröschen, Anm. U.K.] aller Orten herum nach ihrer Lust, endlich kam sie auch an einen alten Thurm. Eine enge Treppe führte dazu, und da sie neugierig war, stieg sie hinauf und gelangte zu einer kleinen Thüre, darin steckte ein gelber Schlüssel, den drehte sie um, da sprang die Thüre auf und sie war in einem kleinen Stübchen, darin saß eine alte Frau und spann ihren Flachs (Panzer o. J., S. 190).

Der Turm steht nach Lüthi (2008 ) im Märchen für Enge, Isolation, aber auch Erhöhung – im Gegensatz zu Höhle und Verlies. Ein Turm hat zudem immer dazu gedient, Aus- und Überblicke zu geben, zu sehen, wer sich nähert. Der Turm im Schloss des Königs scheint unbenutzt zu sein – ein Indiz dafür, dass der König sich und sein Reich in Sicherheit wähnte, sodass der Turm das beste Versteck für die alte Frau – die Fee - mit der verbotenen Spindel war, die sich das Flachsspinnen nicht verbieten ließ. Der König ahnt nicht, dass die Feindin direkt im Zentrum seiner Macht auf die Erfüllung wartet, und das junge Mädchen kommt freiwillig zu ihr, denn es weiß nichts von dem, das auf sie wartet: „Die alte Frau gefiel ihr wohl, und sie machte Scherz mit ihr und sagte, sie wollte auch einmal spinnen, und nahm ihr die Spindel aus der Hand“ (Panzer o. J., S. 190). Die alte Frau muss weder Zwang noch Überredung anwenden, Dornröschen nimmt alle Handlungen selbst vor, die Situationen fügen sich ineinander, bis es zum prophezeiten Stich kommt und der Fluch sich erfüllt.

Es wird nicht nur Dornröschen in einen hundertjährigen Schlaf versetzt, sondern eine ganz Sozialität; der Fluch hat sich scheinbar über seinen ursprünglichen Wirkungskreis hinaus ausgedehnt. Die Dornenhecke wächst um das Schloss und alle Prinzen, die sie vor der vorhergesehenen Zeit zu durchdringen versuchen, verlieren ihr Leben. Als hundert Jahre abgelaufen sind,

zog einmal ein Königssohn durch das Land, dem erzählte ein alter Mann davon, man

glaube, daß hinter der Dornenhecke ein Schloß stehe, und eine wunderschöne Prinzessin schlafe darin mit ihrem ganzen Hofstaat; sein Großvater habe ihm gesagt, daß schon viele Prinzen gekommen wären und hätten hindurchdringen wollen, sie wären aber in den Dornen hängen geblieben und totgestochen worden (Panzer o. J., S. 190).

Als der alte Mann dem Jungen davon erzählt, ist die Geschichte von Dornröschen bereits zur Legende geworden, das Schloss und die Prinzessin hinter der Dornenhecke werden schlicht vermutet; davon wird dem jungen Königssohn wie von einem Märchen erzählt. Dieser lässt sich weder von den toten Vorgängern noch von der Ungewissheit, was denn nun wirklich hinter der Dornenhecke sei, abhalten: „und wie er zu der Dornenhecke kam, waren es lauter Blumen, die thaten sich voneinander, und er ging hindurch, und hinter ihm wurden es wieder Dornen“

(Panzer o. J., S. 190). Die sich öffnenden Blumen sind ein Bild für das Erwachen von Erinnerung, in die eingetreten wird. Für denjenigen, der eintritt, wird die Erinnerung zur Gegenwart, zur Realität im Kopf, für die Außenwelt ist dieses innere Erleben nicht sichtbar, betont durch die sich schließenden Dornen.

„Da kam er endlich in den alten Thurm, da lag Dornröschen und schlief. Da war der Königssohn so erstaunt über ihre Schönheit, daß er sich bückte und sie küßte, und in dem Augenblick wachte sie auf“ (Panzer o. J., S. 191) – und mit ihr der ganze Hofstaat und das Schloss. Der Kuss ist Symbol für das Erwachen im Sinne von Bewusstwerdung. Die Vergangenheit wird ins Bewusstsein gehoben und dadurch zum Leben erweckt. Das beinahe Vergessene wird wieder lebendig, aber es bleibt dennoch Vergangenheit – die Dornenhecke bleibt bestehen. Die hinter den Dornen Erwachenden leben das Leben von vor hundert Jahren fort, die Vergangenheit wird zur tatsächlichen Gegenwart, außerhalb der Dornenhecke haben sie keinen Zugang.

Einzig der Königssohn kann Vermittler sein, denn er kommt aus dieser anderen Welt, ist nicht Teil der vergangenen Ereignisse, die er wachgeküsst hat. Indem er allerdings Hochzeit mit Dornröschen feiert, wird er Teil der Schicksalsgemeinschaft.