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Analysemethoden in der Märchenforschung

2.1 Vorfelduntersuchungen

2.1.5 Analysemethoden in der Märchenforschung

Es war eine Pionierleistung des finnischen Erzählforschers Antti Aarne (1867–1925), als er 1910 die erste Klassifikation von Märchen nach Typen entwarf, die in deutscher Sprache gedruckt wurde: Verzeichnis der Märchentypen. Grundlage waren finnische Märchensammlungen, die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und die dänische Sammlung von Svend Grundtvig. Die Klassifizierung der Märchen erfolgte in diesem Verzeichnis nach folgenden Kriterien:

1–299: Tiermärchen

300–749: Zaubermärchen

750–849: Legendenmärchen

850–999: Novellenmärchen

1000–1199: vom dummen Teufel und Riesen

1200–1999: Schwänke

Der US-Amerikaner Stith Thompson (1885–1976) verfeinerte dieses System mittels Unterteilungen und veröffentlichte 1961 eine Erweiterung des Typenkatalogs. Im Jahr 2004 wurde das Klassifizierungssystem durch Hans-Jörg Uther zum dritten Mal bearbeitet, sodass auch nicht europäische Märchen darin eingeordnet werden konnten. Seitdem ist der Aarne-Thompson-Uther-Index (ATU) „ein Klassifikationssystem für Märchen und Schwänke, das in der internationalen Erzählforschung für die Identifizierung von Märchentypen und -motiven eingesetzt wird“ (Aarne-Thompson-Index, o.Verfasser, 2010, maerchenatlas). Diese umfassende Gliederung ermöglicht „einen Vergleich und die Aufdeckung von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den verschiedenen Erzähltraditionen“ (ebda).

Der Russe Vladimir Propp (1895–1970) entwickelte erstmalig eine formale Analysemethode für die Bearbeitung und Erforschung im Speziellen von Zaubermärchen. Als Märchenforscher entdeckte er in hundert russischen Zaubermärchen – und später auch in den Grimmschen Märchen – eine gattungsübliche Struktur, die stets dem gleichen Muster folgt und die, wie Propp meinte, jedem Leser unbewusst bekannt sei. Nach Propp sei die Struktur das Konstante, Invariable, wohingegen der Inhalt variabel sei; wichtig dabei: „Die Abfolge der Erzähleinheiten ist im Märchen bedeutsam“ (Propp 1975, S. 28). Neben der

äußeren formalen dreiteiligen Struktur, den sogenannten Handlungskreisen (1.

Auszug des Helden/der Heldin, 2. Prüfungen, 3. Heimkehr und Bestrafung der Widersacher/innen), nahm Propp eine, in allen von ihm erforschten Erzähltexten gleichbleibende, innere Struktur wahr. In Propps strukturalistischer Analyse stehen nicht die Charaktere im Mittelpunkt, sondern deren Funktionen, worunter „eine Aktion einer handelnden Person verstanden [wird], die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird“ (Propp 1975, S. 26). Propp stellte in den Zaubermärchen exakt 31 Funktionen fest, die stets der gleichen Reihung folgen, wobei es durchaus möglich ist, dass eine oder mehrere Funktionen ausfallen oder sich wiederholen, also in unterschiedlicher Anzahl vorkommen können. „Damit bilden die Funktionen der handelnden Personen die Grundelemente des Zaubermärchens“

(Propp 1975, S. 27). Analog zu den Funktionen stehen sieben Aktanten. Aktant ist dabei die zusammenfassende Bezeichnung für eine handelnde Person in einem Handlungsstrang. Sobald diese Person für den weiteren Fortgang der Erzählung nicht mehr relevant ist, verschwindet sie aus dieser. Nach Propp (1975) treten in jedem Zaubermärchen sieben Aktanten auf: Held, Gegenspieler, Opfer, falscher Held, Schenker von Zaubermitteln, Aussender des Helden, Helfer. Dabei ist es möglich, dass unterschiedliche Handlungsträger in einer Gestalt vereinigt sind, genauso wie ein Handlungsträger in unterschiedlichen Figuren auftreten kann. Propp ging es nicht um eine Sinnerfassung der Märchen oder deren mythologische Verankerung, sondern um die Erfassung der erzählerischen Grundstrukturen in der Gattung Märchen. Die Erkenntnis der Struktur setzt die Elemente einer Erzählung in Beziehung zueinander, wodurch ein dahinter liegender Sinn des Textes offenbart werden kann. (Propp 1975)

Jedem Märchen dieser Studie wird daher eine strukturelle Analyse der Analyse vorangestellt. Der strukturalistischen Analyse sollen die fünf Kategorien der Stilanalyse Lüthis gegenübergestellt werden; nicht als Diskurs, sondern als zwei sich gegenseitig ergänzende Methoden der Märchenanalyse. Lüthi (1979) betont in dieser Hinsicht, Propps Strukturanalyse und seine eigene Stilanalyse, die allerdings außereuropäische Märchen nicht einbezogen hat, würden einander ergänzen. Mit der Stilanalyse wurde eine Methode geschaffen, um die Grundform des Typus Märchen im Allgemeinen zu erfassen. Demnach soll darauf geachtet werden, „was

das Märchen zum Märchen macht. Der Typus kommt in der Wirklichkeit nie rein vor.

Er kann aber durch Vergleich vieler Individuen gefunden werden. Das Gemeinsame wird festgehalten, das Zufällige, von Individuum zu Individuum wechselnde ausgeschieden“ (Lüthi 1974, S. 7).

Nach Lüthi (1974) ist das erste Kennzeichen jedes Märchens die Eindimensionalität, also die Selbstverständlichkeit, dem Übernatürlichen und Jenseitigen gegenüber. Die Märchenhelden und -heldinnen wundern sich nicht, hinterfragen nicht, sind nicht neugierig; der „Märchendiesseitige hat nicht das Gefühl, im Jenseitigen einer anderen Dimension zu begegnen. In diesem Sinne spreche ich von Eindimensionalität des Märchens“ (Lüthi 1974, S. 12). Die Wirklichkeit der realen Welt ist demnach so selbstverständlich wie eine jenseitige Wirklichkeit, und beide gehen vom Erleben her nahtlos ineinander über. Dieser Umstand führt dazu, dass das Märchen „keine wilde Zaubergeschichte [ist], in der jedem alles möglich ist“

(Lüthi 1974, S. 12), sondern diesseitige Personen bekommen von jenseitigen Gestalten zur Erreichung eines Zieles Zauberkräfte oder -mittel verliehen, die ihnen auch wieder entzogen werden können.

Die zweite Kategorie nach Lüthi ist die Flächenhaftigkeit:

Dem Märchen fehlt nicht nur das Gefühl für die Kluft zwischen profaner und numinoser Welt. Es ist überhaupt und in jedem Sinne ohne Tiefengliederung. Seine Gestalten und Figuren ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt, ohne Umwelt; ihnen fehlt die Beziehung zur Vorwelt und zur Nachwelt, zur Zeit überhaupt (Lüthi 1974, S. 13).

Die Dinge im Märchen, also auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs, zeigen weder Spuren eines Verschleißes, genauso, wie Menschen und Tiere entweder immer jung bleiben oder schon immer alt waren. Es fehlt ihnen „die körperliche und seelische Tiefe“ (Lüthi 1974, S. 14), beinahe so, „wie wenn die Märchengestalten Papierfiguren wären, bei denen man beliebig irgendetwas wegschneiden kann, ohne daß eine wesentliche Veränderung vor sich geht“ (ebda). Interessanterweise äüßert

„sich bei solchen Verstümmelungen weder körperlicher noch seelischer Schmerz, nur wenn dies für die weitere Handlung wichtig ist, werden Tränen vergossen“ (ebda).

Überhaupt dienen im Märchen alle erzählten oder erwähnten Gefühle oder Eigenschaften einzig dem Verlauf der Handlung, und nicht dazu, eine Atmosphäre zu schaffen. Lüthi (1974, S. 23) betont den Verzicht des Märchens „auf räumliche, zeitliche, geistige und seelische Tiefengliederung. Es verzaubert das Ineinander und

das Nacheinander in ein Nebeneinander. Mit bewundernswerter Konsequenz projiziert es die Inhalte der verschiedenen Bereiche auf ein und dieselbe Fläche“.

Diese flächenhafte Darstellung entspringt nicht einem Unvermögen, sondern einer entschiedenen Formgebung des Märchens, denn dieses „saugt alles Räumliche von den Dingen und Phänomenen ab und zeigt sie uns als Figuren und figurale Vorgänge auf einer hell erleuchteten Fläche“ (ebda).

Der abstrakte Stil ist nach Lüthi (1974) die dritte Kategorie, und dieser ergebe sich wie von selbst aus der Eindimensionalität und Flächenhaftigkeit. Die einzelnen Figuren und Dinge heben sich durch scharfe Konturen mittels Linienschärfe und reinen, kräftigen Farben eindeutig voneinander ab. Gerade der abstrakte Stil verleiht den Volksmärchen ihren besonderen Reiz, weil in der Abstraktheit, der minimalistischen Darstellung, dem Verzicht auf jegliche prosaische Ausschmückungen, die vielfältige Interpretierbarkeit liegt. Dazu gehört auch die Formelhaftigkeit der Märchen, mit dem immer gleichen Beginn, „Es war einmal“, den Wiederholungen in den Geschichten, den metrischen und gereimten Sprüchen, und das Märchen „liebt Zahlen, vor allem die Einzahl, Zweizahl, Dreizahl, Siebenzahl und Zwölfzahl: Zahlen von fester Prägung und ursprünglich magischer Bedeutung“ (Lüthi 1974, S. 33). Lüthi erörtert weiters, die abstrakte Stilisierung gebe

dem Märchen Helligkeit und Bestimmtheit. Sie ist nicht Armut oder Nichtkönnen, sondern hohe Formkraft. Mit wunderbarer Konsequenz durchdringt sie alle Elemente des Märchens, verleiht ihnen festen Umriß und sublime Leichtigkeit. Sie ist fern von toter Starrheit, denn zu ihr gehört das rasche und entschiedene Fortschreiten der Handlung. […] Die Bewegung ist keine willkürliche, ihre Form und ihre Richtung, ihre Gesetze sind scharf bestimmt. Der Figurenstil schenkt dem Märchen Festigkeit und Gestalt; das Vorwärtsstreben bewegt und beschwingt es. Feste Form und spielende Eleganz fügen sich zur Einheit. Rein und klar, mit freudiger, leichter Beweglichkeit erfüllt das Märchen strengste Gesetze (Lüthi 1974, S. 36).

Die vierte Kategorie ist jene der (sichtbaren) Isolation und (unsichtbaren) Allverbundenheit, wobei „Isolation und Allverbundenheit [...] Korrelate [sind]. Nicht trotz ihrer Isolierung ist die Märchenfigur kontaktfähig mit allem und jedem, sondern wegen ihrer Isolierung“ (Lüthie 1974, S. 52). Lüthi (1974, S. 61) bezeichnet dabei die

„wahren Märchenhelden“ als „die Isolierten“, die jedoch „wie niemand sonst frei für alles wirklich Wesentliche [seien]. Als Isolierte leben sie 'in Figuren'. Ohne ihren wahren Platz zu kennen, handeln sie 'aus wirklichem Bezug'“.

Die fünfte Kategorie ist nach Lüthi (1974, S. 63) die Sublimation und Welthaltigkeit, denn hinter vielen Elementen des Märchens stehe ein magischer Ursprung, wobei es sich „zugleich erweist […], daß das eigentlich Magische im Märchen verflüchtigt ist.

Magie ist untrennbar verbunden mit Anspannung der Seele. Zauber verwirklicht sich durch Beschwörung, durch einen Willensakt“. Von diesem Willensakt jedoch sei im Märchen „nichts zu spüren“ (ebda). Als Sublimation werden jene Motive bezeichnet, die aus Riten, Sitten, Gebräuchen, Profanem, Magischem und Mythischem entlehnt sind und durch das Märchen in wirklichkeitsferne Stoffe umgeformt und damit neu gestaltet wurden. Die Welthaltigkeit entsteht dadurch, dass die Märchenmotive zwar keinen Realitätsbezug enthalten aber dennoch das gesamte Leben spiegeln, gleichsam universale Repräsentanten der Welt darstellen. Lüthi sieht in dieser Entleerung aller Motive im Märchen

Verlust und Gewinn zugleich. Verloren gehen Konkretheit und Realität, Erlebnis- und Beziehungstiefe, Nuancierung und Inhaltsschwere. Gewonnen aber werden Formbestimmtheit und Formhelligkeit. Die Entleerung ist zugleich Sublimierung. Alle Elemente werden rein, leicht, durchscheinend und fügen sich zu einem mühelosen Zusammenspiel, in dem alle wichtigen Motive menschlicher Existenz erklingen (Lüthi 1974, S. 69).

Die Stilanalyse nach Lüthi (1974) erweist sich jedenfalls als hilfreich, Märchentexte, -ereignisse- und -gestalten richtig zu beurteilen. Nach Lüthi (1974, S. 72 ) spiegele das Märchen überdies „wirklich alle wesentlichen Elemente des menschlichen Seins.

Schon das einzelne Märchen enthält meist die kleine und die große Welt, private und öffentliche Geschehnisse, diesseitige und jenseitige Beziehungen“.

2.1.6 Analysemethode zur Erforschung gerontologischer Aspekte und