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Lernförderung nicht allein Aufgabe der Schule Ein Gespräch mit Cordula Artelt, PISA-Forscherin am

Im Dokument Umgang mit Heterogenität (Seite 40-44)

Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, über die Ergebnisse der internationalen Schulstudie

Dr. Cordula Artelt arbeitet seit September 1999 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und hat dort an der Erstellung,

Berechnung und Abfassung des PISA-Berichts mitgearbeitet.

Darüber hinaus koordiniert Cordula Artelt die Durchführung der nationalen Ergänzungsstudie PISA-E.

forum schule: Frau Artelt, welches Ergebnis der PISA-Studie hat Sie am meisten überrascht?

Cordula Artelt: Überraschend und erschreckend zugleich finde ich, dass wir in Deutschland einen ungewöhnlich hohen prozentualen Anteil leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler haben. Wenn man sich zudem die Anforderungen der einzelnen Aufgaben im Detail anschaut, dann verwundert auch die relative Schwäche unserer Schülerinnen und Schüler bei anspruchsvollen Aufgaben. Wenn es in den Aufgaben beispielsweise darum geht, für oder gegen etwas Stellung zu beziehen oder etwas kritisch zu reflektieren, dann sind Schülerinnen und Schüler aus anderen OECD-Ländern offensichtlich besser qualifiziert und daher eher in der Lage, entsprechende Leistungen im Test zu zeigen.

Bedenklich finde ich darüber hinaus auch ganz besonders die bei uns

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offensichtlich recht gering ausgeprägte Schullust. Schullust ist vielleicht nicht einmal der zutreffende Begriff, eher Leselust oder Lernmotivation oder sogar generell das Interesse an Bildung. Im Vergleich mit anderen Ländern wird deutlich, dass wir bei uns tatsächlich ein Defizit an

Lernmotivation, an Bildungsinteresse feststellen müssen. Das hat viele Ursachen, muss aber zunächst einmal so deutlich konstatiert werden.

fs: Sie sprechen von fehlender Lernmotivation. Kann man aus den Daten der PISA-Studie wirklich einen Zusammenhang herstellen zwischen einer eher spezifischen „Leseunlust“ und einer generellen

„Lern- oder Bildungsunlust“?

Artelt: Es zeigt sich sowohl im Lesen als auch in Mathematik, dass die Schülerinnen und Schüler bei uns eher desinteressiert als interessiert sind. Es gibt nur wenige Länder, in denen sowohl das Interesse an Mathematik als auch am Lesen so gering und unterdurchschnittlich ausgeprägt sind wie in Deutschland. Das geht eindeutig aus den Daten hervor. Es gibt darüber hinaus weitere Indikatoren, wie Häufigkeit des Lesens, Lust auf Lesen, aktive Freizeitgestaltung, die in der

Gesamtbetrachtung darauf hindeuten, dass solche bildungsrelevanten Bereiche von vielen eben nicht besonders wert geschätzt werden.

fs: Es wird häufig der Einwand erhoben, die im Test verwendeten Aufgaben entsprächen nicht dem, was in unserem Unterricht im

Mittelpunkt steht, nämlich eher fachlich sortierte Aufgaben. Fragen die PISA-Aufgaben etwas ab, was gar nicht Teil unserer Unterrichts- und Aufgabenkultur ist?

Artelt: Dazu vielleicht eine zweigeteilte Antwort. Zum einen haben wir durch umfangreiche Befragungen der deutschen Lehrplanexperten einen Abgleich hergestellt zwischen den Anforderungen in den

jeweiligen Lehrplänen und den Aufgaben des PISA-Tests. Dabei hat sich zunächst in der Tat herausgestellt, dass das Format der PISA-Aufgaben etwas ungewöhnlich ist oder dass vielleicht auch bezogen auf den Deutschunterricht die Art der Texte in der Schwerpunktsetzung nicht ganz dem Unterricht entspricht. Der konventionelle Deutschunterricht geht mehr auf literarische Texte ein, während in den

PISA-Testaufgaben zum Beispiel viele Tabellen und nicht fortlaufend geschriebene Texte, Sachtexte, im Vordergrund stehen. Wir haben Lehrplanexperten dann gefragt, wie sie diese Aufgabenstellungen beurteilen. Sie sollten unter anderem schätzen, wie viel Prozent der Schülerinnen und Schüler ihrer Meinung nach in der Lage sein müssten, die jeweiligen Aufgaben zu lösen. Der angegebene Prozentsatz ist sehr hoch. Nach Aussage der meisten Lehrplanexperten sind die für PISA ausgewählten Aufgaben durchaus mit den deutschen Lehrplänen

vereinbar.

fs: Die Aufgaben stehen also in den Lehrplänen, aber sie werden im Unterricht offensichtlich nicht genügend behandelt. Heißt das: Die PISA-Aufgaben sind zwar lehrplanvalide, aber eben nicht unterrichtsvalide?

Artelt: Das ist ein schwieriges Feld. Wir wissen, dass es einen Unterschied zwischen den Inhalten und Zielen im Lehrplan und dem tatsächlichen praktizierten Unterricht gibt. Dazu kann PISA zunächst recht wenig aussagen. Ich möchte das auch noch einmal mit Vorsicht sagen: Auch wenn die Lehrplanvalidität nicht bei jeder Aufgabe zu einhundert Prozent nachgewiesen werden kann, haben wir doch guten Grund zu der Annahme, dass die PISA-Aufgaben eine Fähigkeit messen, die auch in Lehrplänen umschrieben ist. Das ist der eine Punkt; der andere ist die Frage, woran es eigentlich liegt, dass deutsche

Schülerinnen und Schüler gerade bei anspruchvolleren Aufgaben, die Problemlösefähigkeit, selbstständiges Denken, Denken in

alltagsbezogenen Kontexten erfordern, so relativ schlecht abschneiden.

Dieses Ergebnis hat sich übrigens auch schon in der TIMS-Studie

abgezeichnet und hat sicherlich etwas mit unserer lang tradierten Praxis von Unterrichts- und Lerngestaltung zu tun.

fs: Legt PISA es nahe, über eine neue Lern- und Schulkultur nachzudenken oder über organisatorische Innovationen?

Artelt: Wenn von systemischen Innovationen die Rede ist sollte auch über gesamtgesellschaftliche Bedingungen nachgedacht werden. Es ist zu einfach und auch schlicht falsch, den Lehrern die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben. Das ist meiner Meinung nach nicht gerechtfertigt.

Die Qualität von Schulen ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Wertschätzung von Bildungsprozessen, vielleicht auch Ausdruck davon, wie Lehrerinnen und Lehrer in unserem Lande angesehen werden oder wie ihre Arbeit wertgeschätzt wird. Es ist auch eine Aufgabe von Familien, also von Eltern, Lernmotivationen ihrer Kinder entwickeln zu helfen und zu fördern. Sie dürfen die Verantwortung für das Lernen oder die Bildung ihrer Kinder nicht gänzlich auf die Schule abschieben.

Es ist aber auch eine Aufgabe von Kindergärten, von Bibliotheken und von anderen Bildungsinstitutionen in allen Bereichen der Gesellschaft, Lern- und Lesekompetenzen zu fördern.

fs: Frau Artelt, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Heinz Schirp

Weitere Informationen zum Artikel

Das ungekürzte Interview mit Cordula Artelt können Sie hier lesen. (PDF-Datei, 5 Seiten, 118 KB).

Die Ergebnisse der PISA-Studie haben wir unter thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt:

Aspekt Lernen (PDF-Datei, 7 Seiten, 178 KB)

Aspekt Geschlechterunterschiede in Basiskompetenzen (PDF-Datei, 2 Seiten, 99 KB)

Aspekt Lebens- und Lernbedingungen von Jugendlichen (PDF-Datei, 6 Seiten, 156 KB)

Aspekte familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb (PDF-Datei, 5 Seiten, 129 KB)

Aspekt Migration (PDF-Datei, 2 Seiten, 99 KB)

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© forum schule, Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest

Heft 1/2002

Eine Reform des Unterrichts muss von der Schule ausgehen

von Moritz von Schmeling, LandesschülerInnenvertretung NRW Überall steht es, alle sagen es: die PISA-Ergebnisse sind ein Schock!

Naja, eigentlich sagen das nicht alle, – eine Gruppe fehlt.Die SchülerInnen. Was sagen die dazu? Wenn man ehrlich ist: sie sagen fast nichts! Einige wenige schon, wenn sie von der Presse ausgewrungen wurden.

Warum ist das so? Entweder haben die SchülerInnen noch nicht bemerkt, was da los ist (weniger wahrscheinlich), oder sie wollen es nicht wissen (schon eher und man kann es ihnen irgendwie kaum verübeln).

Die SchülerInnen sind dumm, hören sie im Radio, das „kollektive Nichtswissen“ unserer Jugend gefährdet die Gesellschaft von morgen, erfahren sie aus dem TV. Die LehrerInnen halten seit dem 4. Dezember zum Stundenbeginn Impulsreferate über die bildungspolitische Lage der Nation und warum die armen

LehrerInnen nichts dafür können. Der eine heult hier, die andere da und sie können es schon langsam nicht mehr hören. Da quält man sich Tag für Tag in die Schule und was ist das Ergebnis? – Es nützt nichts!

Das wahrlich Erschütternde an den Ergebnissen von PISA ist, dass sie genau das widerspiegeln, was viele SchülerInnen schon seit langem empfinden. Da waren Sätze zu hören wie: „Die Schule bringt mir doch nichts!“ „Hier ist es sau-langweilig!“ „Ich glaube, wenn ich das zu Hause lerne, brauche ich nur die Hälfte der Zeit.“ „Hoffentlich ist es bald ein Uhr, ich muss zur Arbeit, die macht wenigstens Spaß und außerdem brauche ich Geld für die Nachhilfe!“ Man könnte den Eindruck gewinnen, dass da eine Masse von Menschen nur in der Schule sitzt, weil sie muss und nicht weil sie will. Damit sind nicht ausschließlich die SchülerInnen gemeint, sondern auch die LehrerInnen. Die nämlich leben nicht gerade das vor, was man Begeisterung für den Job nennen könnte.

„Die Schule nervt und das von acht bis eins“, danach fängt das Leben an. So ist also derzeit die nüchterne Einstellung der meisten

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