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Diagnoseverfahren und Modernisierungsansätze für das Schulsystem

Im Dokument Umgang mit Heterogenität (Seite 72-76)

forum schule: Herr Professor Baumert, was sind aus Ihrer Sicht die zentralen und empirisch belegbaren Gründe für das relativ schlechte Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler?

Jürgen Baumert: Der

erstaunlichste Befund ist ja, dass wir in allen drei untersuchten Bereichen eine große Gruppe von Schülerinnen und Schülern identifizieren können, die man im Hinblick auf den

bevorstehenden Übergang in die berufliche Erstausbildung als

Risikokandidaten bezeichnen muss.

Zu dieser Gruppe gehören schwache und schwächste Leser, aber auch Jugendliche, deren mathematische Kompetenz Grundschulniveau nicht überschreitet und die nur über ein elementares Verständnis

naturwissenschaftlicher Konzepte und Prozesse verfügen. Gleichzeitig ist die Leistungsspitze nur relativ schwach vertreten. Es scheint so zu sein, dass sich Teile des schulischen Systems in ihren Standards von dem abgekoppelt haben, was in der beruflichen Erstausbildung und im Erwerbsleben verlangt wird. Das gilt insbesondere für die Hauptschule.

Dafür ein Beleg: Nachdem wir die Stichprobe gezogen hatten, haben wir Hauptschullehrerinnen und Hauptschullehrer gebeten, uns die Schülerinnen und Schüler zu nennen, die auf Grund eingeschränkter Lesekompetenz vermutlich Schwierigkeiten beim Übergang in die Erstausbildung haben werden. Die Hauptschullehrerinnen und -lehrer haben 11 Prozent der schwächsten Leser als Risikopersonen identifiziert – 89 Prozent gingen als unauffällig durch.

fs: Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?

Baumert: Offensichtlich scheint es an einer zuverlässigen und

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kontinuierlichen Diagnostik der Lesekompetenz, aber auch an Klarheit hinsichtlich der notwendig zu erreichenden Mindeststandards zu fehlen.

Dies ist nicht auf Fehler der einzelnen Lehrkraft zurückzuführen – allein die Abschlussquoten an Hauptschulen weisen auf strengere Maßstäbe hin. Vielmehr scheint sich in diesem Befund die Vorstellung

auszudrücken, dass die Entwicklung der Lesekompetenz mit dem Erwerb der Schriftsprache in der Grundschule im Prinzip abgeschlossen ist. Wenn man annimmt, Schülerinnen und Schüler könnten etwa mit zehn Jahren lesen wie Erwachsene, muss man auf die Entwicklung der Lesekompetenz auch nicht mehr besonders achten. Es besteht dann auch kein Bedarf an regelmäßiger Diagnostik. In keinem anderen Lernbereich setzen wir so früh und ungefragt Selbstregulationsfähigkeit und tatsächliche Selbstregulation voraus wie beim Lesen.

fs: Kann man diese so genannten Risikogruppen, von denen Sie gesprochen haben, näher beschreiben?

Baumert: Es sind vor allem vier Problemgruppen. Die Jugendlichen der ersten drei Risikogruppen stammen aus Familien mit

Migrationshintergrund. Dazu gehören Jugendliche türkischer Herkunft, Jugendliche, die aus dem bosnisch-serbisch-kroatischen Sprachraum kommen und schließlich die Kinder von Spätaussiedlern aus Polen, Rumänien und Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Jede dieser Gruppen hat eigene besondere Schwierigkeiten beim Erwerb der deutschen Verkehrssprache. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass ein großer Teil dieser Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch nach dem Durchlaufen des gesamten Schulsystems in Deutschland nur über elementare Lesekompetenz verfügt. Die vierte nicht minder

bedeutsame Gruppe sind die Jugendlichen, deren beide Eltern in Deutschland geboren sind, die aber dennoch gegen Ende der Vollzeitschulpflicht über ein elementares Leseverständnis nicht

hinauskommen. Diese Risikopersonen stammen ganz überwiegend aus sozial schwachen Elternhäusern. Bedrückend hoch ist der Anteil dieser gefährdeten Jugendlichen in Familien un- und angelernter Arbeiterinnen und Arbeiter. Das im Vergleich mit anderen OECD-Staaten relativ schwache Abschneiden von 15-Jährigen in Deutschland ist sowohl auf den hohen Anteil schwacher und schwächster Leser insgesamt als auch auf das Fehlen einer ausgeprägten Leistungsspitze zurückzuführen. Der Gesamtbefund ist nicht auf Zuwanderungstatbestände zurückzuführen.

fs: Müsste man dann nicht bei diesen „Risikogruppen“ ansetzen, wenn man nachhaltig etwas verbessern will?

Baumert: Ja, selbstverständlich. Es ist ja ein Vorzug, dass wir manche Gruppen wirklich identifizieren können.

fs: Ist die verstärkte Förderung von Lesekompetenz der einzige sinnvolle Ansatzpunkt?

Baumert: Nein, das ist nicht der einzige. Ich glaube, man muss zwischen plausiblen Handlungsfeldern und konkreten Maßnahmen unterscheiden. Handlungsfelder ordnen Problemzonen und öffnen

Gestaltungsperspektiven; konkrete Maßnahmen sind in hohem Maße politik- und kontextabhängig. Die Klärung von Handlungsfeldern hat meines Erachtens Vorrang vor schnellen Einzelmaßnahmen. Zu den Handlungsfeldern gehört gewiss die Sicherung von Basiskompetenzen am Ende der Vollzeitschulpflicht, die Voraussetzungen auch für Lernen in anderen Bereichen darstellen. Dies sind ausreichende

Lesekompetenz, mathematische Modellierungsfähigkeit und vermutlich auch die Fähigkeit, verständig mit moderner Informationstechnologie umzugehen. Ein zweites großes Handlungsfeld ist der Umgang mit Lebenszeit. Wenn wir uns die Verteilung der 15-Jährigen auf

unterschiedliche Klassenstufen in Deutschland anschauen und diese Verteilung mit der in anderen OECD-Staaten vergleichen, ergibt sich der atemberaubende Eindruck eines leichtfertigen Umgangs mit Lebenszeit.

Ein Drittel der 15-jährigen Jugendlichen in Deutschland hat die Schullaufbahn mit Verzögerung durchlaufen. Die Verzögerungen

beginnen mit der Zurückstellung bei der Einschulung und setzen sich in – häufig auch mehrfachen – Klassenwiederholungen fort. Statt der erwarteten 50 Prozent befindet sich nur knapp ein Viertel der

15-Jährigen in der 10. Jahrgangsstufe. Zum Vergleich: In Neuseeland etwa besuchen über 90 Prozent der Gleichaltrigen die 11. Jahrgangsstufe und erreichen ein Jahr später die Hochschulreife. Ein dritter Bereich ist die Verbesserung systematischer Diagnoseverfahren. Um individuell fördern zu können, aber auch um Standards zu sichern, bedarf es einer

differenzierten Kenntnis des Erreichten. Dass sich Grundschulen vor einigen Jahren noch geweigert haben, an Leistungsfeststellungen teilzunehmen – wie dies in Berlin geschah – ist im Grunde ein unerhörter Vorgang.

fs: Müssten Lehrerinnen und Lehrer solche diagnosefähigen Standards nicht auch in Lehrplänen finden?

Baumert: Ja, natürlich, vor allem an den Gelenkstellen von

Bildungsgängen. Ob solche Standards jahrgangsspezifisch ausgearbeitet werden sollten, scheint mir eher fraglich zu sein. Eine zu enge Regelung nimmt auch notwendige Handlungsfreiheit. Ein weiterer Bereich, in dem ich ebenfalls einen dringenden Handlungsbedarf sehe, ist der Umgang mit Heterogenität. Ich meine, wir haben bei uns im Sekundarbereich, international gesehen, die homogensten Lerngruppen und gleichzeitig die größten Klagen über zu große Heterogenität. Das hat doch etwas Seltsames an sich. In den Hauptschulen sind die Lerngruppen in den letzten Jahrzehnten homogener geworden; die Leistungsstreuung in den Gymnasien mag zugenommen haben – dennoch ist das Gymnasium auch in Deutschland noch die Schulform mit den homogensten

Lerngruppen. Im internationalen Vergleich gilt dies allemal. Gerade in der starken Besetzung der unteren und untersten Leistungsgruppen zeigt sich, dass unser Schulsystem trotz Leistungsdifferenzierung nicht gut mit Heterogenität und Differenz umgehen kann. Viele Lehrkräfte sind der Überzeugung, sie hätten die falschen Schülerinnen und Schüler – und zwar unabhängig von der Schulform. In der Verbesserung des Umgangs mit Differenz liegt vermutlich die eigentliche Herausforderung

der Modernisierung des Systems.

fs: Vielleicht brauchen Lehrerinnen und Lehrer aber eher homogene Lerngruppen, damit sie ihren traditionell fragend-entwickelnden Unterricht durchführen können?

Baumert: Das ist in der Tat eine meiner Haupterklärungen. Der fragend-entwickelnde Unterricht ist ja an sich keine schlechte Unterrichtsform, sondern eine – von der Pädagogik und vom

Menschenbild her – äußerst anspruchsvolle. Die Lehrkraft versucht im Gespräch, das angelegte Wissen systematisch zu entfalten; Sokrates ist gewissermaßen immer präsent. Aber man kann in diesem Unterricht sehr schlecht mit weiterführenden Antworten und noch schlechter mit Fehlern umgehen. Beides ist ein Kennzeichen von Heterogenität und beides stört im Grunde den konvergenten Verlauf des Unterrichts.

Aufgrund seiner Zielstrebigkeit und Abhängigkeit von der „richtigen"

Antwort ist der fragend-entwickelnde Unterricht sehr risikoreich und scheitert in der Praxis sehr häufig. Zugleich ist er wahrscheinlich die psychisch belastendste Unterrichtsform, da das geleitete

Klassengespräch von der Lehrkraft höchste Anspannung und Präsenz verlangt.

fs: Herr Professor Baumert, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Heinz Schirp

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PISA - Schulstudie: Informationen zur internationalen Leistungsuntersuchung

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