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5.2 Keynes Weltanschauung

5.2.1 Kritik am „Orthodoxen Liberalismus“

Scherf weist darauf hin, dass der Philosoph G.E. Moore tragenden Einfluss auf Keynes hatte.651 Moore gilt als einer der Väter der Analytischen Philosophie.; im Jahr 1903 hat er sein Werk „Principia Ethica“ veröffentlicht.652 Darin stellt er dem Begriff des Naturrechts, der die Philosophie etwa David Humes oder John Lockes prägte, den Begriff des „Naturalistischen Fehlschlusses“ entgegen.653 Moore will dabei nicht die Aussagen über die Moral, die von den Vertretern des Naturrechts gemacht wurden, widerlegen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass Moral eben nicht unabhängig durch das Naturrecht gegeben ist, sondern sich durch eine Reihe anderer Eigenschaften ergibt.654 In der Stanford Encyclopedia of Philosophy heißt es über Moores Ethik:

„Moore presents a straightforward consequentialist account of the relationship between the right and the good: the right action is that which will produce the best outcome.“655

Da es aber in der Praxis schwer zu beurteilen ist, was das beste Ergebnis ist, schlägt Moore vor, den etablierten Regeln zu folgen, weshalb Moore durchaus Verbindungen zum Konservativismus hat – genau hierfür wurde er wiederum unter anderem von Keynes kritisiert.656 Doch einig ist sich Keynes mit Moore offensichtlich im Urteil über die naturrechtliche Philosophie, die das Denken von Locke und Rousseau prägte. Erinnert sei an Rousseaus berühmte Aussage:

„Der erste, welcher ein Stück Land umzäumte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dies ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviel Laster, wieviel Krieg, wieviel Mord, Elend und Greuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte:

'Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört'. Allein, allem Ansehen nach muß es damals schon so weit gekommen gewesen sein, daß es nicht mehr auf dem alten Fuße hat bleiben können.“657

651 Vgl. Scherf, S. 278

652 vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy: George Edward Moore, http://plato.stanford.edu/entries/moore/#3

653 vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy: George Edward Moore, http://plato.stanford.edu/entries/moore/#3

654 vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy: George Edward Moore, http://plato.stanford.edu/entries/moore/#3

655 Stanford Encyclopedia of Philosophy: George Edward Moore, http://plato.stanford.edu/entries/moore/#3

656 vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy: George Edward Moore, http://plato.stanford.edu/entries/moore/#3

657 Rousseau, J.: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Ritter, H. (Hg):

Jean-Jacques Rousseau, Schriften, Band I, S. 165 -302, Frankfurt: 1988, S. 230

Nach Rousseaus Sicht ist die bürgerliche Gesellschaft – das Privateigentum – also aus einem natürlichen Zustand – einer Ordnung ohne Privateigentum an Boden – wider dem Naturrecht entstanden, im Grunde mit einem Betrug. Mithilfe des Gesellschaftsvertrages kann die bürgerliche Gesellschaft dann aber dennoch auf eine legitime Grundlage gestellt werden.658 Für Locke gibt es schon im Naturzustand das Recht auf Eigentum, allerdings ist dieses Recht schwer durchzusetzen. Diese Unsicherheit in Bezug auf das Eigentum lässt sich erst mithilfe des Gesellschaftsvertrages beseitigen. Dabei leitet Locke das Recht auf Eigentum durch den Schöpfungsakt und den Akt der Arbeit des Menschen ab. Er schreibt:

„Gott, der die Welt den Menschen gemeinsam gegeben hat, hat ihnen auch Vernunft verliehen, sie zum größtmöglichen Vorteil und zur Annehmlichkeit ihres Lebens zu nutzen. Die Erde und alles, was auf ihr ist, ist den Menschen zum Unterhalt und zum Genuß des Daseins gegeben. Alle Früchte, die sie auf natürliche Weise hervorbringt, und alle Tiere, die sie ernährt, gehören den Menschen gemeinsam, weil sie wildwachsend von der Natur hervorgebracht werden; und niemand hat über irgend etwas, so wie es sich in einem natürlichen Zustand befindet, ursprünglich ein privates Herrschaftsrecht, welches das der übrigen Menschen ausschlösse. [...]

Wenn die Erde und alle niederen Lebewesen wohl allen Menschen gemeinsam eignen, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Über seine Person hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände, so können wir sagen, sind im eigentlichen Sinne sein. Was immer also jenem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und hat ihm etwas hinzugefügt, was sein eigen ist – es folglich zu seinem Eigentum gemacht.“659

Scherf betont, dass Keynes ökonomisches Denken auf die Lösung praktischer Probleme gerichtet war und er kein komplettes theoretisches Gedankengebäude errichtet hat.660 Damit zeigt sich durchaus eine Parallele zur analytischen Philosophie: Es geht eben nicht darum, politisches Handeln nach bestimmten Grundsätzen auszurichten, mit dem Ziel, eine freiheitliche Gesellschaftsordnung zu sichern, sondern darum, eine Politik zu betreiben, die zum besten Ergebnis führt. Und wenn dieses Ergebnis Vollbeschäftigung heißt, sind Maßnahmen zugelassen, die mit dem klassischen Freiheitsbegriff kollidieren.

Kalmbach und Kromphardt betonen, dass Keynes in seinem 1926 veröffentlichten Pamphlet

„Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft“ eine

658 vgl. Zöller, S. 98f

659 Locke, J.: Über die Regierung, S. 21f

660 Vgl. Scherf, S. 280

generelle Kritik am „orthodoxen Liberalismus“ vornahm.661 Tatsächlich lehnt Keynes die Ideen Lockes und Rousseaus grundsätzlich ab, wie folgendes Zitat aus „Das Ende des Laissez-Faire“ zeigt:

„Wir wollen nunmehr gründlich mit den metaphysischen und allgemeinen Prinzipien aufräumen, auf die man von Zeit zu Zeit das Laissez-faire immer wieder aufbaut. Es ist nicht wahr, daß jedes Individuum eine vorgeschriebene

‚natürliche Freiheit’ seiner wirtschaftlichen Tätigkeit besitzt. Es gibt keinen

‚Vertrag’, der denen, die schon besitzen oder die noch erwerben, ewige Rechte überträgt. Die Welt wird von oben her nicht so regiert, daß private und allgemeine Interessen immer zusammenfallen. Sie wird von unten her nicht so verwaltet, daß diese beiden Interessen in praxi zusammenfallen. Aus den Prinzipien der Nationalökonomie folgt nicht, daß der aufgeklärte Egoismus immer zum allgemeinen Besten wirkt. Es ist auch nicht wahr, daß der Egoismus im allgemeinen immer aufgeklärt ist; meistenteils sind die Individuen, die einzeln ihre egoistischen Interessen verfolgen, zu unwissend oder zu schwach, um auch nur diese zu erreichen. Die Erfahrung lehrt nicht, daß Individuen, die sich zu einer gesellschaftlichen Gruppe zusammenschließen, immer weniger klarsichtig, sind, als wenn sie einzeln handeln.“662

Keynes will ganz offenkundig von einem Recht auf Leben und Eigentum, das sich aus dem Schöpfungsakt eines Gottes ergibt, nichts wissen. Den daraus resultierenden negativen bzw.

klassischen Freiheitsbegriff lehnt er damit implizit ab. Wie genau er selbst Freiheit versteht, wird dabei nicht deutlich. Anders als etwa Hayek lobt Keynes die Verknüpfung des schottischen Liberalismus mit den rationalistischen Lehren etwa von Rousseau. Keynes schreibt in „Das Ende des Laissez-Faire“:

„Der Beginn des 19. Jahrhunderts vollbrachte diese wundersame Einigung. Sie brachte den konservativen Individualismus von Locke, Hume, Johnson und Burke in Einklang mit dem Sozialismus und der demokratischen Gleichheitslehre von Rousseau, Paley, Bentham und Godwin.“663

Bei der Fortentwicklung dieser aus Keynes Sicht so lobenswerten Synthese spielt aus Keynes Sicht die Wirtschaftswissenschaft eine bedeutende Rolle. Er schreibt:

„Die Idee einer göttlichen und prästabilierten Harmonie zwischen privatem Vorteil und allgemeinem Wohl erscheint schon bei Paley, aber erst die Ökonomen haben ihr eine feste wissenschaftliche Grundlage gegeben.“664

661 Vgl. Kalmbach und Kromphardet, S. 8

662 Keynes, Ende des Laissez-Faire, S. 42

663 Keynes, Ende des Laissez-Faire , S. 20

664 Keynes, Ende des Laissez-Faire , S. 21

Allerdings scheinen aus seiner Sicht die Ökonomen den Weg nicht ausreichend konsequent fortgesetzt zu haben. So schreibt Keynes:

„Ich führe daher die merkwürdige Einheitlichkeit der politischen Alltagsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts auf den Erfolg zurück, mit dem sie die verschiedenen einander bekämpfenden Lehren in Übereinstimmung brachte und alles Gute in einem Ziel vereinte. Hume und Paley, Burke und Rosseau, Godwin und Malthus, Cobbett und Huskisson, Bentham und Coleridge, Darwin und der Bischof von Oxford – sie alle, so entdeckte man plötzlich, predigten im Grunde genommen dasselbe: Individualismus und laissez-faire.

Dies war die Kirche Englands und jene ihre Apostel; und die ganze Sippschaft der Ökonomisten war einzig und allein dazu da, um zu beweisen, daß die kleinste Abweichung vom Wege der Frömmigkeit finanziellen Ruin zur Folge haben müsse.

Diese Gründe und diese ganze Atmosphäre erklären hinlänglich, warum wir bewußt oder unbewußt – und die meisten von uns sind sich in unserer degenerierten Zeit aller dieser Dinge kaum bewußt – eine so starke Neigung zum laissez-faire empfinden, und warum jede staatliche Einmischung in die Regelung der Währungsfragen oder der Kapitalanlagen in vielen stolzen Männerbrüsten auf so leidenschaftliches Mißtrauen stößt. Wir haben diese Autoren nicht gelesen – wahrscheinlich würden wir ihre Beweisführung albern finden, wenn uns ihre Bücher zufällig in die Hände fielen. Und trotzdem glaube ich nicht, daß wir heute so dächten, wie wir es tatsächlich tun, wenn Hobbes, Locke, Hume, Rosseau, Paley, Adam Smith, Bentham und Miß Martineau nie gedacht und geschrieben hätten. Man muß die Geschichte der Meinungen studieren, ehe man den eigenen Geist befreien kann. Ich weiß nicht, was mehr konservativ macht – wenn man nichts kennt außer der Gegenwart oder nichts außer der Vergangenheit.“665

Es zeigt sich an diesem Zitat, dass Keynes zwar ein Kenner der Ideengeschichte war, aber dabei zu völlig anderen Schlüssen kam als etwa Hayek. Keynes wollte die alten Ideen ein Stück weit über Bord werfen, während Hayek für eine Rückkehr zu den Prinzipien der „Old Whigs“ – wobei die Betonung auf „Old“ liegen solle, wie er selbst in der „Verfassung der Freiheit“ schrieb – plädierte. Ganz offensichtlich ist der Unterschied zwischen Hayek und Keynes bezogen auf die Weltanschauung deutlich größer als zwischen Hayek und Schumpeter. Bei Letzteren liegt die Differenz eher in der praktischen Frage der Funktionsweise einer marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft. Dabei ist trotzdem festzuhalten, dass Keynes kein Marxist war. Nochmals Keynes:

665 Keynes, Ende des Laissez-Faire , S. 24f

„Aber das Prinzip des laissez-faire hat noch andere Verbündete außer den nationalökonomischen Lehrbüchern. Man muß zugegeben, daß die Schwäche der gegnerischen Theorien – des Protektionismus einerseits und des marxistischen Sozialismus andererseits – das Prinzip des laissez-faire bei gründlichen Denkern und dem verständigen Publikum noch befestigt hat. Diese Theorien sind beide nicht bloß oder hauptsächlich durch ihre Überschneidung der allgemeinen Voraussetzung des laissez-faire charakterisiert, sondern durch die logischen Trugschlüsse, die ihnen zugrunde liegen. Beide sind ein Beispiel der Gedankenarmut, der Unfähigkeit einen Vorgang zu analysieren und bis in seine letzten Konsequenzen zu verfolgen. Die Argumente gegen diese Theorien werden durch das Prinzip des laissez-faire verstärkt, aber sie haben es gar nicht besonders nötig. Von den beiden ist der Schutzzoll wenigstens einleuchtend, so daß seine Popularität nicht weiter wunder nimmt. Aber der marxistische Sozialismus wird immer eine crux in der Geschichte der Lehrmeinungen bleiben – wie es möglich sein konnte, daß eine so unlogische und langweilige Lehre einen so mächtigen und dauernden Einfluß auf den Geist der Menschen und durch ihn auf den Gang der Geschichte auszuüben vermochte.“666

Auch wenn Keynes sich hier vom Sozialismus marxistischer Prägung distanziert, so können dennoch Zweifel an seiner marktwirtschaftlichen Überzeugung geäußert werden. Auch Schumpeter stellte bereits heraus, dass Keynes vergleichsweise nahe an Marx stand. In

„Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ schrieb Schumpeter:

„Der Abstand zwischen Marx und Keynes ist bestimmt kleiner als der früher zwischen Marx und Marshall oder Wicksell: Sowohl die marxistische Lehre wie auch ihr nicht-marxistisches Gegenstück lassen sich gut umschreiben durch den sich selbst erklärenden Ausdruck, den wir verwenden wollen, 'Die Theorie der schwindenden Investitionschance'.“667

Keynes fordert, nicht nach abstrakten Theorien zu entscheiden, was der Staat und was das Individuum tun solle. Hierin dürfte sich wiederum der Einfluss der Analytischen Philosophie zeigen. Keynes bezeichnet die von Bentham geschaffene Nomenklatur von „Agenda“ und

„Non-Agenda“ als nützlich, weist aber die Annahme Benthams zurück, dass jede Einmischung des Staates völlig zwecklos oder schädlich sei.668 Keynes schreibt:

„Es ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der heutigen Nationalökonomen, von neuem zwischen Agenda und Non-Agenda des Staates zu unterscheiden;

666 Keynes, Ende des Laissez-Faire , S. 37f

667 Schumpeter (Kapitalismus), S. 183

668 Vgl. Keynes, Ende des Laissez-Faire, S. 42f

parallel damit geht die Aufgabe der Politik, im Rahmen der Demokratie Staatsformen zu finden, welche der Übernahme der Agenda gewachsen sind.“669

Welche Aufgabe der Staat nach Keynes Ansicht verrichten soll, wird im folgenden Abschnitt behandelt.

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