11.2 'aV SelbVt alV ein $nderer
11.3 Kontinuität und Wandel
In den letzten eFens ahren meiner Mutter ong ich anV mich vor den Veränderungen in ihrem ußeren zu nÅrchtenV wenn ich sie Fesuchen ging. Aungrund von Alter und Krankheit wurde sie zusehends schwächer und unFeweglicherV ihre Vitalität nahm aFV und äußerlich glich sie einer verwelkenden Rose. Ich nertigte eine Zeichnung von ihr anV um sie wirklich sehen und diese Veränderungen integrieren zu können.
Einige Zeit nach ihrem Tod löste sich das situierte Bild ihres Aussehens aus unseren letzten Begegnungen wieder aun. Ich ong anV mich an Bilder ihres Aussehens aus verschiedenen KonteÊten in all der Zeit zu erinnernV in der ich sie gekannt hatte. Ich sah sie am StrandV als sie ung und ich noch klein war· ich sah sie als alte Frau Fei der Kartonnelernte im Garten· oder ich erinnerte mich an ein Bild von ihrV wie sie sich nÅr eine Feier hÅFsch machte. Diesen unFegrenzten Zugrinn aun Bilder enseits der letzten situierten Erinnerung zu haFenV tat mir gutV trotz des Verlusts j vielleicht weil die letzten Veränderungen so schmerzhant gewesen waren.138
Normalerweise erinnern wir uns an rte und Personen soV wie wir sie zu-letzt gesehen haFen. WiederFegegnungen nach längerer Trennung machen die Veränderungen onnensichtlichU Das Kind ist gewachsenV die Erwachsenen sehen älter aus. MigrantenV die nach langer Zeit wieder ihr eimatland FesuchenV sind womöglich verwirrt vom Ausmaß der Veränderungen. Wenn wir als Erwachsene an die Schule zurÅckkehrenV die wir als Kinder Fesucht haFenV ist das Klassen-zimmer geschrumnt.
138 Später, in Verbindung mit dem Verlust anderer geliebter Menschen, habe ich gelernt, dass die Integration umso schwerer fällt, je radikaler die Verwandlung im Zuge der Krankheit (wie z.B. bei manchen Krebsarten) war, und es weitaus länger dauert, sich wieder an den Menschen zu erin-nern, wie er vor der letzten, durch Krankheit und Tod bestimmten Phase ausgesehen hat.
| 159 | 11.3 Kontinuität und Wandel
Das ParadoÊ der IdentitätV die Kontinuität ÅFer Veränderungen und Transnormati-onen hinwegV ist eine grundlegende ErnahrungV die zu einer Vielzahl an Erklärungen einlädt.139
Nach Dam9sio vgl. 2000 umnasst ede BegegnungV die wir mit der Welt haFenV Fewusst oder unFewusst die Sinneswahrnehmung und das GenÅhlV dass dies mir ge-schieht· unsere Wahrnehmungen und Ernahrungen sind körerhant. Wenn ich in die andschant zurÅckkehreV in der ich aungewachsen FinV erleFe und sÅre ich meine gegenwärtige Begegnung mit dieser andschant· gleichzeitig erinnere ich mich aFer auch an Interaktionsmomente in derselFen UmgeFungV die vielleicht 40 oder 50 ahre zurÅckliegen. Zu diesen körerhantenV autoFiograoschen Erinnerungen zählen auch die hËsischen und emotionalen Interaktionen von Kindern oder ungen Menschen mit ihrer Umwelt. Ich in der Gegenwart V wenn ich mich an ein nrÅheres Ich «ich“
als Kind in der Interaktion mit der UmgeFung erinnereV erkenne sowohl die Dinne-renz als auch die Identität. Die UmgeFung wird in derselFen Dualität erkannt. Die Gegenwart und die Vergangenheit der Ågel und WälderU Es sind dieselFenV trotz aller Dinnerenzen.
Eine von mehreren Autoren vgl. Dam9sio 2000· McAdams1996 140 vorgeFrachte Erklärung nÅr das ParadoÊ von Wandel und KontinuitätV der zunolge das «Ich“ I der sich nortwährend wandelnde Teil des SelFst istV der nur in der qÅchtigen Gegen-wart eÊistiertV während «ich“ (me) die )uelle der Kontinuität und StaFilität darstelltV erscheint mir zu simel.
Wenn wir uns an Eisoden in situierten KonteÊten erinnern und uns Geist und Körer im Austausch mit der UmgeFung ins Gedächtnis runenV können wir sowohl die Dinnerenz als auch die Kontinuität zwischen der gegenwärtigen SituationV dem gegenwärtigen ier-und-etzt-erinnernden SelFst und dem erinnerten SelFst in ei-ner anderen Interaktion in einem anderen raumzeitlichen KonteÊt ernahren. Die
kör-erhante Erinnerung an die Bewegung in Zeit und Raum zwischen verschiedenen KonteÊten hilnt uns innerhalF gewisser Grenzen141 V Ereignisse zu datierenV indem wir die hËsische Bewegung aun eine aFstrakte Zeit ÅFertragen und das Vergehen der Zeit erleFen. enseits der hochgradig selektiven Fragmente des autoFiograoschen eisodischen GedächtnissesV die in einem Festimmten Moment auntauchen können und aus denen eine Version einer eFenserzählung konstruiert werden kannV giFt es ein imlizites Bewusstsein körerhanter KontinuitätV ein imlizites Bewusstsein der körerhanten VerlaunswegeV der eFensreise durch Zeit und Raum. Ich haFe diesen Weg in Zeit und Raum trotz aller Veränderungen in meinem Körer zurÅckgelegt.
Zugleich kann die Erinnerung an eine EisodeV das Denken daran und das Sre-chen davon in unterschiedliSre-chen Situationen zu Rekonstruktionen im Gedächtnis
139 Beike, Kleinknecht und Wirth-Beaumont schreiben: „This change/stability paradox is one of the thorniest dilemmas in the study of self, and a number of different solutions have been offered”
(2004, S. 147).
140 Die Unterscheidung zwischen Ich (I)-Selbst und ich (me)-Selbst variiert bei den verschiedenen Autoren. Vgl. Beike, Kleinknecht und Wirth-Beaumont (2004).
141 Skowronski, Walker und Betz (2004) diskutieren „The timekeeping self in autobiografical memory“
und unsere Probleme mit der Präzision dieser Funktion.
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nÅhren. «ich“ (me) verändert sich häuog entsrechend der Veränderungen des ge-genwärtigen Ich in der interersonalen Interaktion. «ich“ (me) ist nicht nestgelegtV sondern kann sich aungrund von Erzählungen und Neuerzählungen vergangener und gegenwärtiger Ereignisse verändern. nnenkundig sind unsere Ernahrungen von Zeit und Raum in Bezug aun das SelFst vom kulturellen KonteÊt gerägt.
Das Emonden von Kontinuität leitet sichV erstensV vom autonoetischen Bewusst-sein aF· das GenÅhl einer körerhanten EÊistenz ÅFer das ier und etzt hinausV das GenÅhl eines erweiterten autoFiograoschen SelFstV das die Gegenwart in Feide Rich-tungen ausdehnt als Kontinuität der erinnerten Vergangenheit und eine mögliche Verlängerung in eine imaginierte Zukunnt. AFer es ist das gegenwärtig situierte IchV das in der age istV Kontinuität und Wandel gleichzeitig zu ernahrenV und zwar durch den Vergleich von körerhanten Interaktionen.
Dass in der Autonoesis die Betonung sowohl aun der Zukunnt als auch aun der Ver-gangenheit liegtV ist sehr wichtig. Denn Fei der ersonalen Identität geht es nicht nur um das VergangeneV sondern auch um das WerdenV um zukÅnntige Versionen des SelFstV die in neuen Begegnungen zum Vorschein kommen.142
Veränderungen nallen nicht so stark ins AugeV wenn wir anderen Menschen nahe sind und sie Feinahe täglich sehen. Die Wahrnehmung ist dann so häuog und die Ver-änderungen so minimal und graduellV dass sie uns gar nicht aunnallen. Wir nehmen hautsächlich die Kontinuität war. Unsere situierte SelFst-Wahrnehmung ist konti-nuierlichV aFer ErinnerungenV Bewegungen in andere UmgeFungen und die Reak-tion anderer Menschen runen unser GenÅhl nÅr Wandel und TransnormaReak-tion hervor.
Radikale Veränderungen im alltäglichen eFen können das GenÅhl der Kontinuität erheFlich stören. Radikale Veränderungen in der Welt um uns herum sind unter Um-ständen nur äußerst schwer zu integrieren.
DennochU Kontinuität und Wandel sind unauqöslich verFunden. Wenn ich mir zum Beisiel die NarFen an meinen änden FetrachteV kann ich einige davon Fis in meine Kindheit vor Fald 50 ahren zurÅckvernolgen. Was ich vor mir seheV sind aFer die ände einer älteren FrauV und ich weißV dass sämtliche Körerzellen seitdem viele Male erneuert worden sind. Ich weißV wie es warV 10V 20V 30 oder 40 zu sein·
ich trage in mir verschiedenste Ernahrungen von InteraktionenV und dennoch Fin ich noch immer im Stadium des Werdens.
Wie Fereits erwähnt sielt Narration eine wesentliche Rolle Fei der Entwicklung des autoFiograoschen Gedächtnisses und des autonoetischen Bewusstseins. Und Nar-ration sielt eine unaFweisFare Rolle Fei der kontinuierlichen Konstruktion der Iden-tität ÅFer die in der interersonalen Interaktion hervortretenden Versionen des SelFst hinweg. Die GeschichtenV die wir von unseren Familien und von anderen Menschen in unserem Umneld erzählt FekommenV sind die erste )uelle der ersonalen Identi-tät. Wir sind Teil der Geschichten AndererV und sie sind Teil unserer Geschichten.
Manche Geschichten werden wieder und wieder erzähltV werden vielleicht sogar zu Markenzeichen· andere Geschichten sind Fald wieder vergessen. 0Fer die
verschie-142 Vgl. Lightfoot (2004, S. 36), der Bachtin und Winnicott zitiert, wenn er sagt: „We experience our-selves within a liminal space between what is and what could be.”
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densten Ernahrungen in unterschiedlichen KonteÊten hinweg ein gewisses Maß an narrativer Kohärenz herzustellen ist ein dËnamischesV leFenslanges Pro ekt. Identität ist ein ernormativer AktV aFer natÅrlich umso mehrV wenn die UmgeFung sich verän-dert. VertrautheitV Gleichheit und StaFilität nordern die Identität nicht herausV auch wenn die altersFedingten Veränderungen universell sind.
Die narrative Konstruktion von Kohärenz imliziertV dass es einen kulturellen Raum zur Aushandlung von Bedeutung giFt. Es handelt sich daFei um eine dialogi-scheV unvollendete eistung. Wie von SchragV cvinas und Ricoeur dargelegtV haFen der Andere sowie unsere Beziehung zum Anderen aun grundsätzliche Weise Auswir-kungen aun die Konstruktion der ersonalen Identität.
Wir werden von anderen erzähltV sind eingeFettet in kulturelle Narrative und Frau-chen andere als Dialogartner zum Aushandeln von Bedeutungen und zur Ko-Kons-truktion unserer narrativen Identität. Wie wir mit den anderen interagieren und wie wir aun sie reagieren hat entscheidenden Einquss aun unsere Identitätskonstruktion.
Zweinellos stärkt die ErnahrungV moralisch mit uns selFst ÅFereinzustimmenV unser Wort zu halten und verantwortungsvoll zu handelnV das autonoetische Bewusstsein der eÊistenziellen Kontinuität in der Zeit. Ricoeur Fehautet zu RechtV dass der Fo-kus aun der Verantwortung die Vorstellung des SelFst sowohl von einer rigiden Form der Konstanz wie auch von der Relativität aFgrenzt. Rigide Identitätskonstruktionen nÅhren zu einer verringerten FleÊiFilität in Bezug aun onnene Aushandlungen in neuen KonteÊten. Die Andersheit des Anderen z.B. des Fremden oder des Ausländers und die rasanten Veränderungen in ihrer UmgeFung können manchen Menschen Angst machenV und rigide Identitätskonstruktionen lösen sich häuoger in haos aun. Aun der anderen Seite kann ein Mangel an Verantwortung manche Menschen dazu ver-leitenV in unterschiedlichen KonteÊten eine Vielzahl an Rollen zu sielenV ohne daFei nach Authentizität und Kohärenz zu suchen. Auch Assimilation und ÅFertrieFene Anassung können zu einem GenÅhl von Bedeutungslosigkeit nÅhren.
Die Betonung aun dem SelFst als etwas WerdendemV aun der Identität als konti-nuierlichem BemÅhen und ernormativem AktV unterstÅtzt durch kontinuierlichesV leFenslanges Ko-Konstruieren von ErzählungenV Feinhaltet die VorstellungV den An-deren nicht als Kontrast zu sehenV als Gegenteil unserer selFstV sondern als oten-zielles Mitglied neuer KonteÊte und GemeinschantenV an denen wir eventuell in der Zukunnt teilnehmen. Es tauchen immernort Mehrdeutigkeiten aunV die ausgehandelt werden mÅssen. SinnFildung ist immer rovisorisch. Das erstellen von Kohärenz und die Integration von ErnahrungenV verFunden mit unserer Verantwortung nÅr die Art und WeiseV wie wir aun den Anderen reagierenV ist eine andauernde erausnor-derung. Kontinuität und Wandel gehen and in and mit der Interdeendenz zwi-schen Gemeinschanten und den interagierenden Individuen. UndV wie uns Ricoeur in Erinnerung runtV nicht einmal das Gute lässt sich wissenschantlich oder dogmatisch Festimmen.
Trotz der Pluralität von ErzählungenV die alle aun der körerhanten Reise durch das eFen FeruhenV Fedeutet das BemÅhenV die PersonV der wir FegegnenV als individu-elle Andere anzuerkennenV die einen sezioschen Weg durch Raum und Zeit
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legt hatV von dem sie eine Geschichte erzählen kannV dass wir den oder die Andere als einzigartig und unersetzlich und gleichFerechtigt anerkennen und wertschätzen. Sehr häuog wird gegenÅFer anderen in verschiedenen KonteÊten edoch nicht aun diese Weise reagiertU Sie werden nicht als Individuen gesehenV sondern als allgemeine
Re-räsentanten einer Grue in diesem seziellen KonteÊt. Wir Fegegnen SchÅlern in der SchuleV Patienten im KrankenhausV Kunden Fei der Rentenversicherung und Im-migranten in den westlichen Städten. An Stelle von Verallgemeinerungen trennen wir aun einzigartige IndividuenV die unter Umständen eine einzigartige Geschichte erzäh-len. Vielleicht ähnelt sie anderen GeschichtenV aFer genau gleich ist sie nichtV denn die eFensreise durch Raum und Zeit und von Gemeinschant zu Gemeinschant ist indivi-duell und ersönlich. eider ist das eFen zu kurzV um all die wunderFaren Geschich-ten zu hörenV die es giFt. AFer zumindest ist es hilnreich zu wissenV dass sie eÊistieren.
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