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Kontinuität und Wandel

Im Dokument Leben erzählen – Leben verstehen (Seite 158-163)

11.2 'aV SelbVt alV ein $nderer

11.3 Kontinuität und Wandel

In den letzten eFens…ahren meiner Mutter ong ich anV mich vor den Veränderungen in ihrem ußeren zu nÅrchtenV wenn ich sie Fesuchen ging. Aungrund von Alter und Krankheit wurde sie zusehends schwächer und unFeweglicherV ihre Vitalität nahm aFV und äußerlich glich sie einer verwelkenden Rose. Ich nertigte eine Zeichnung von ihr anV um sie wirklich sehen und diese Veränderungen integrieren zu können.

Einige Zeit nach ihrem Tod löste sich das situierte Bild ihres Aussehens aus unseren letzten Begegnungen wieder aun. Ich ong anV mich an Bilder ihres Aussehens aus verschiedenen KonteÊten in all der Zeit zu erinnernV in der ich sie gekannt hatte. Ich sah sie am StrandV als sie …ung und ich noch klein war· ich sah sie als alte Frau Fei der Kartonnelernte im Garten· oder ich erinnerte mich an ein Bild von ihrV wie sie sich nÅr eine Feier hÅFsch machte. Diesen unFegrenzten Zugrinn aun Bilder …enseits der letzten situierten Erinnerung zu haFenV tat mir gutV trotz des Verlusts j vielleicht weil die letzten Veränderungen so schmerzhant gewesen waren.138

Normalerweise erinnern wir uns an rte und Personen soV wie wir sie zu-letzt gesehen haFen. WiederFegegnungen nach längerer Trennung machen die Veränderungen onnensichtlichU Das Kind ist gewachsenV die Erwachsenen sehen älter aus. MigrantenV die nach langer Zeit wieder ihr eimatland FesuchenV sind womöglich verwirrt vom Ausmaß der Veränderungen. Wenn wir als Erwachsene an die Schule zurÅckkehrenV die wir als Kinder Fesucht haFenV ist das Klassen-zimmer geschrumnt.

138 Später, in Verbindung mit dem Verlust anderer geliebter Menschen, habe ich gelernt, dass die Integration umso schwerer fällt, je radikaler die Verwandlung im Zuge der Krankheit (wie z.B. bei manchen Krebsarten) war, und es weitaus länger dauert, sich wieder an den Menschen zu erin-nern, wie er vor der letzten, durch Krankheit und Tod bestimmten Phase ausgesehen hat.

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Das ParadoÊ der IdentitätV die Kontinuität ÅFer Veränderungen und Transnormati-onen hinwegV ist eine grundlegende ErnahrungV die zu einer Vielzahl an Erklärungen einlädt.139

Nach Dam9sio Ÿvgl. 2000  umnasst …ede BegegnungV die wir mit der Welt haFenV Fewusst oder unFewusst die Sinneswahrnehmung und das GenÅhlV dass dies mir ge-schieht· unsere Wahrnehmungen und Ernahrungen sind körerhant. Wenn ich in die andschant zurÅckkehreV in der ich aungewachsen FinV erleFe und sÅre ich meine gegenwärtige Begegnung mit dieser andschant· gleichzeitig erinnere ich mich aFer auch an Interaktionsmomente in derselFen UmgeFungV die vielleicht 40 oder 50 ahre zurÅckliegen. Zu diesen körerhantenV autoFiograoschen Erinnerungen zählen auch die hËsischen und emotionalen Interaktionen von Kindern oder …ungen Menschen mit ihrer Umwelt. Ich Ÿin der Gegenwart V wenn ich mich an ein nrÅheres Ich Ÿ«ich“

als Kind in der Interaktion mit der UmgeFung  erinnereV erkenne sowohl die Dinne-renz als auch die Identität. Die UmgeFung wird in derselFen Dualität erkannt. Die Gegenwart und die Vergangenheit der Ågel und WälderU Es sind dieselFenV trotz aller Dinnerenzen.

Eine von mehreren Autoren Ÿvgl. Dam9sio 2000· McAdams1996 140 vorgeFrachte Erklärung nÅr das ParadoÊ von Wandel und KontinuitätV der zunolge das «Ich“ ŸI  der sich nortwährend wandelnde Teil des SelFst istV der nur in der qÅchtigen Gegen-wart eÊistiertV während «ich“ (me) die )uelle der Kontinuität und StaFilität darstelltV erscheint mir zu simel.

Wenn wir uns an Eisoden in situierten KonteÊten erinnern und uns Geist und Körer im Austausch mit der UmgeFung ins Gedächtnis runenV können wir sowohl die Dinnerenz als auch die Kontinuität zwischen der gegenwärtigen SituationV dem gegenwärtigen ier-und-etzt-erinnernden SelFst und dem erinnerten SelFst in ei-ner anderen Interaktion in einem anderen raumzeitlichen KonteÊt ernahren. Die

kör-erhante Erinnerung an die Bewegung in Zeit und Raum zwischen verschiedenen KonteÊten hilnt uns ŸinnerhalF gewisser Grenzen141 V Ereignisse zu datierenV indem wir die hËsische Bewegung aun eine aFstrakte Zeit ÅFertragen und das Vergehen der Zeit erleFen. enseits der hochgradig selektiven Fragmente des autoFiograoschen eisodischen GedächtnissesV die in einem Festimmten Moment auntauchen können und aus denen eine Version einer eFenserzählung konstruiert werden kannV giFt es ein imlizites Bewusstsein körerhanter KontinuitätV ein imlizites Bewusstsein der körerhanten VerlaunswegeV der eFensreise durch Zeit und Raum. Ich haFe diesen Weg in Zeit und Raum trotz aller Veränderungen in meinem Körer zurÅckgelegt.

Zugleich kann die Erinnerung an eine EisodeV das Denken daran und das Sre-chen davon in unterschiedliSre-chen Situationen zu Rekonstruktionen im Gedächtnis

139 Beike, Kleinknecht und Wirth-Beaumont schreiben: „This change/stability paradox is one of the thorniest dilemmas in the study of self, and a number of different solutions have been offered”

(2004, S. 147).

140 Die Unterscheidung zwischen Ich (I)-Selbst und ich (me)-Selbst variiert bei den verschiedenen Autoren. Vgl. Beike, Kleinknecht und Wirth-Beaumont (2004).

141 Skowronski, Walker und Betz (2004) diskutieren „The timekeeping self in autobiografical memory“

und unsere Probleme mit der Präzision dieser Funktion.

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nÅhren. «ich“ (me) verändert sich häuog entsrechend der Veränderungen des ge-genwärtigen Ich in der interersonalen Interaktion. «ich“ (me) ist nicht nestgelegtV sondern kann sich aungrund von Erzählungen und Neuerzählungen vergangener und gegenwärtiger Ereignisse verändern. nnenkundig sind unsere Ernahrungen von Zeit und Raum in Bezug aun das SelFst vom kulturellen KonteÊt gerägt.

Das Emonden von Kontinuität leitet sichV erstensV vom autonoetischen Bewusst-sein aF· das GenÅhl einer körerhanten EÊistenz ÅFer das ier und etzt hinausV das GenÅhl eines erweiterten autoFiograoschen SelFstV das die Gegenwart in Feide Rich-tungen ausdehnt als Kontinuität der erinnerten Vergangenheit und eine mögliche Verlängerung in eine imaginierte Zukunnt. AFer es ist das gegenwärtig situierte IchV das in der age istV Kontinuität und Wandel gleichzeitig zu ernahrenV und zwar durch den Vergleich von körerhanten Interaktionen.

Dass in der Autonoesis die Betonung sowohl aun der Zukunnt als auch aun der Ver-gangenheit liegtV ist sehr wichtig. Denn Fei der ersonalen Identität geht es nicht nur um das VergangeneV sondern auch um das WerdenV um zukÅnntige Versionen des SelFstV die in neuen Begegnungen zum Vorschein kommen.142

Veränderungen nallen nicht so stark ins AugeV wenn wir anderen Menschen nahe sind und sie Feinahe täglich sehen. Die Wahrnehmung ist dann so häuog und die Ver-änderungen so minimal und graduellV dass sie uns gar nicht aunnallen. Wir nehmen hautsächlich die Kontinuität war. Unsere situierte SelFst-Wahrnehmung ist konti-nuierlichV aFer ErinnerungenV Bewegungen in andere UmgeFungen und die Reak-tion anderer Menschen runen unser GenÅhl nÅr Wandel und TransnormaReak-tion hervor.

Radikale Veränderungen im alltäglichen eFen können das GenÅhl der Kontinuität erheFlich stören. Radikale Veränderungen in der Welt um uns herum sind unter Um-ständen nur äußerst schwer zu integrieren.

DennochU Kontinuität und Wandel sind unauqöslich verFunden. Wenn ich mir zum Beisiel die NarFen an meinen änden FetrachteV kann ich einige davon Fis in meine Kindheit vor Fald 50 ahren zurÅckvernolgen. Was ich vor mir seheV sind aFer die ände einer älteren FrauV und ich weißV dass sämtliche Körerzellen seitdem viele Male erneuert worden sind. Ich weißV wie es warV 10V 20V 30 oder 40 zu sein·

ich trage in mir verschiedenste Ernahrungen von InteraktionenV und dennoch Fin ich noch immer im Stadium des Werdens.

Wie Fereits erwähnt sielt Narration eine wesentliche Rolle Fei der Entwicklung des autoFiograoschen Gedächtnisses und des autonoetischen Bewusstseins. Und Nar-ration sielt eine unaFweisFare Rolle Fei der kontinuierlichen Konstruktion der Iden-tität ÅFer die in der interersonalen Interaktion hervortretenden Versionen des SelFst hinweg. Die GeschichtenV die wir von unseren Familien und von anderen Menschen in unserem Umneld erzählt FekommenV sind die erste )uelle der ersonalen Identi-tät. Wir sind Teil der Geschichten AndererV und sie sind Teil unserer Geschichten.

Manche Geschichten werden wieder und wieder erzähltV werden vielleicht sogar zu Markenzeichen· andere Geschichten sind Fald wieder vergessen. 0Fer die

verschie-142 Vgl. Lightfoot (2004, S. 36), der Bachtin und Winnicott zitiert, wenn er sagt: „We experience our-selves within a liminal space between what is and what could be.”

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densten Ernahrungen in unterschiedlichen KonteÊten hinweg ein gewisses Maß an narrativer Kohärenz herzustellen ist ein dËnamischesV leFenslanges Pro…ekt. Identität ist ein ernormativer AktV aFer natÅrlich umso mehrV wenn die UmgeFung sich verän-dert. VertrautheitV Gleichheit und StaFilität nordern die Identität nicht herausV auch wenn die altersFedingten Veränderungen universell sind.

Die narrative Konstruktion von Kohärenz imliziertV dass es einen kulturellen Raum zur Aushandlung von Bedeutung giFt. Es handelt sich daFei um eine dialogi-scheV unvollendete eistung. Wie von SchragV cvinas und Ricoeur dargelegtV haFen der Andere sowie unsere Beziehung zum Anderen aun grundsätzliche Weise Auswir-kungen aun die Konstruktion der ersonalen Identität.

Wir werden von anderen erzähltV sind eingeFettet in kulturelle Narrative und Frau-chen andere als Dialogartner zum Aushandeln von Bedeutungen und zur Ko-Kons-truktion unserer narrativen Identität. Wie wir mit den anderen interagieren und wie wir aun sie reagieren hat entscheidenden Einquss aun unsere Identitätskonstruktion.

Zweinellos stärkt die ErnahrungV moralisch mit uns selFst ÅFereinzustimmenV unser Wort zu halten und verantwortungsvoll zu handelnV das autonoetische Bewusstsein der eÊistenziellen Kontinuität in der Zeit. Ricoeur Fehautet zu RechtV dass der Fo-kus aun der Verantwortung die Vorstellung des SelFst sowohl von einer rigiden Form der Konstanz wie auch von der Relativität aFgrenzt. Rigide Identitätskonstruktionen nÅhren zu einer verringerten FleÊiFilität in Bezug aun onnene Aushandlungen in neuen KonteÊten. Die Andersheit des Anderen Ÿz.B. des Fremden oder des Ausländers  und die rasanten Veränderungen in ihrer UmgeFung können manchen Menschen Angst machenV und rigide Identitätskonstruktionen lösen sich häuoger in haos aun. Aun der anderen Seite kann ein Mangel an Verantwortung manche Menschen dazu ver-leitenV in unterschiedlichen KonteÊten eine Vielzahl an Rollen zu sielenV ohne daFei nach Authentizität und Kohärenz zu suchen. Auch Assimilation und ÅFertrieFene Anassung können zu einem GenÅhl von Bedeutungslosigkeit nÅhren.

Die Betonung aun dem SelFst als etwas WerdendemV aun der Identität als konti-nuierlichem BemÅhen und ernormativem AktV unterstÅtzt durch kontinuierlichesV leFenslanges Ko-Konstruieren von ErzählungenV Feinhaltet die VorstellungV den An-deren nicht als Kontrast zu sehenV als Gegenteil unserer selFstV sondern als oten-zielles Mitglied neuer KonteÊte und GemeinschantenV an denen wir eventuell in der Zukunnt teilnehmen. Es tauchen immernort Mehrdeutigkeiten aunV die ausgehandelt werden mÅssen. SinnFildung ist immer rovisorisch. Das erstellen von Kohärenz und die Integration von ErnahrungenV verFunden mit unserer Verantwortung nÅr die Art und WeiseV wie wir aun den Anderen reagierenV ist eine andauernde erausnor-derung. Kontinuität und Wandel gehen and in and mit der Interdeendenz zwi-schen Gemeinschanten und den interagierenden Individuen. UndV wie uns Ricoeur in Erinnerung runtV nicht einmal das Gute lässt sich wissenschantlich oder dogmatisch Festimmen.

Trotz der Pluralität von ErzählungenV die alle aun der körerhanten Reise durch das eFen FeruhenV Fedeutet das BemÅhenV die PersonV der wir FegegnenV als individu-elle Andere anzuerkennenV die einen sezioschen Weg durch Raum und Zeit

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legt hatV von dem sie eine Geschichte erzählen kannV dass wir den oder die Andere als einzigartig und unersetzlich und gleichFerechtigt anerkennen und wertschätzen. Sehr häuog wird gegenÅFer anderen in verschiedenen KonteÊten …edoch nicht aun diese Weise reagiertU Sie werden nicht als Individuen gesehenV sondern als allgemeine

Re-räsentanten einer Grue in diesem seziellen KonteÊt. Wir Fegegnen SchÅlern in der SchuleV Patienten im KrankenhausV Kunden Fei der Rentenversicherung und Im-migranten in den westlichen Städten. An Stelle von Verallgemeinerungen trennen wir aun einzigartige IndividuenV die unter Umständen eine einzigartige Geschichte erzäh-len. Vielleicht ähnelt sie anderen GeschichtenV aFer genau gleich ist sie nichtV denn die eFensreise durch Raum und Zeit und von Gemeinschant zu Gemeinschant ist indivi-duell und ersönlich. eider ist das eFen zu kurzV um all die wunderFaren Geschich-ten zu hörenV die es giFt. AFer zumindest ist es hilnreich zu wissenV dass sie eÊistieren.

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12 $ktive StaatVbrgerVFhaft und biograÀVFheV

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