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Konstitutionalisierung der Europäischen Gemeinschaft als Prozess

Die Geschichte von Nationalstaaten kennt viele „konstitutionelle Momente“, die sich dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt haben. Solche Momente sind meist mit weitreichenden oder „revolutionären“ Veränderungen der Verfassung eines Staates verknüpft (Ackerman 1991) – man denkt hier an die Französische oder Amerikanische Revolution und die unter-schiedlichen Folgen für die historische Entwicklung dieser Staaten (Arendt 1994). Wann und wo aber haben wir, so fragt Joseph Weiler (1999: 3), in der Geschichte der Europäischen Ge-meinschaft solche, im kollektiven Gedächtnis der Europäer verankerten „konstitutionellen Momente“ erlebt? Im Folgenden werde ich mithilfe der Konzepte „Konstitutionalisierung“

und „Institutionalisierung“ die Besonderheiten der Verfassungspolitik und des Institutionen-wandels in der Europäischen Gemeinschaft herausarbeiten. Dabei wird deutlich werden, dass die EG und später die EU durchaus „konstitutionelle Momente“ erlebt hat und dass sie eine besondere Form von „Staatlichkeit“ (Diez 1995) und „Staatswerdung“ (Schuppert 1994), et-wa durch den Vertrag von Maastricht (1993) oder den Verfassungsvertrag (2003), entwickelt hat, weshalb die Gemeinschaft als „neuer Herrschaftstypus“ (Bogdandy 1993b) verstanden

26 Vgl. dazu u.a. Bieber (1991), Kohler-Koch (1999a), Laffan (1997), Lodge (1998a), Luhmann (1973a, 1973b, 1990), Pernice (1999), Peters (2001) und Shaw (2000a) und ausführlicher unten.

werden kann. Vorschnelle Analogieschlüsse zur Nationalstaatsbildung in Europa und Nord-amerika und anderswo auf der Welt sollten jedoch nicht gezogen werden; gleichwohl sind manche Prozesse und Mechanismen, die sich in der „Staatswerdung“ der Gemeinschaft zei-gen, vor dem national- und bundesstaatlichen Hintergrund durchaus vertraut (vgl. Burgess 1989; Reinhard 2002; Wildenmann 1991).

Spricht man im Zusammenhang mit der Europäischen Gemeinschaft von „Verfassung“ oder

„Konstitutionalisierung“, muss zunächst geklärt werden, ob und inwiefern diese Begriffe ein geeignetes Analyseinstrumentarium liefern. Da die EG bzw. die EU keine „Verfassung“ im klassischen (nationalstaatlichen) Sinne besitze, verbiete sich – so das Argument vieler Auto-ren – eine Übertragung dieses Konzeptes. Zu den Skeptikern gehöAuto-ren die Vertreter der soge-nannten No demos-These, die einen engen Zusammenhang herstellen zwischen Volk bzw.

„demos“, Staat und Verfassung (Grimm 1995; Kielmansegg 1995). Auf der anderen Seite ste-hen Autoren wie Jürgen Habermas (2001), die die Zukunft der EU in einer föderalen Verfas-sungsperspektive sehen.27

Unabhängig von diesem Disput weisen manche Autoren zu Recht, wie ich finde, darauf hin, dass der Integrationsprozess auch „Züge einer ‚Verfassungswerdung‘ (...) im Sinne einer allmählichen institutionellen Verdichtung, hin zu verfassungsartigen Strukturen“ (Oeter 1999:

901) aufweist. Der Begriff der Konstitutionalisierung kann nach Ansicht von Wolfgang Wessels sogar als „Leitbegriff“ der Integrationsforschung verstanden werden; denn er eröffne eine „umfassende Analyse zentraler Entwicklungstrends“ des europäischen Einigungsprozes-ses (Wessels 2003: 24). Die akademische Debatte um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer europäischen „Verfassung“ verliert ihre Schärfe, wenn der Begriff allgemeiner definiert und von seiner nationalstaatlichen Folie befreit wird, so dass er als analytische Kategorie auch

„jenseits des Nationalstaates“ (Zürn 1998) mit Aussicht auf Erkenntnisgewinn genutzt werden kann (vgl. Wessels 2003: 25). Unterscheidet man einen weiten, sozialwissenschaftlichen Verfassungsbegriff im Sinne von „living constitution“ von einem engeren, rechtswissen-schaftlichen Verständnis – verstanden als „written constitution“ – wird deutlich, was die Ver-treter der einen und der anderen „Schule“ trennt (vgl. auch Wessels 2003):

27 Einen sehr guten und umfassenden Überblick über die, vor allem von Rechtswissenschaftlern geprägte, Debatte um die „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaft bieten z. B. Nettesheim (2002b) und Peters (2001).

„Selbst die vielen Proponenten der These, das primäre Gemeinschafts- (und nunmehr auch Unions-)recht weise Züge einer ‚europäischen Verfassung‘

auf, haben sich nie zu der Behauptung verstiegen, dies stelle eine Verfas-sung im engen, rechtshistorischen Sinne dar. (...) Die umgekehrte Behaup-tung jedoch, die Europäische Gemeinschaft verfüge über keine ‚Verfassung‘

im weiten, soziologisch-politologischen Sinne, wäre zutiefst merkwürdig“

(Oeter 1999: 903).

Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung kann europäische „Verfassungspolitik“ als zen-trales Phänomen der europäischen Integration verstanden und empirisch untersucht werden.

Verfassungspolitik wird in diesem Sinne als „Politik der schrittweisen Fortbildung der Unionsverfassung“ definiert – unabhängig davon, ob es „sich dabei um kleinere oder größere Schritte“ handelt (Schneider 1998: 11). Im Rückblick lässt sich die europäische Einigung als dynamischer und multidimensionaler Prozess (mit manchen Rückschlägen) und als „konstitu-tionelle Evolution“ (Wessels 2002c) in Richtung einer immer engeren Integration einer wachsenden Zahl an europäischen Staaten, Gesellschaften und Ökonomien darstellen.28

Die Europäische Gemeinschaft befindet sich seit den Gründungsverträgen „in einem Zustand der fortwährenden Verfassungsgebung und Verfassungsentwicklung“ (Bieber 1991: 398).

Von Anfang an hat ein „verdeckter europäischer Verfassungsdiskurs [über] Ziele, Werte, Aufgaben, Instrumente, Institutionen und Verfahren“ stattgefunden, so Wolfgang Wessels bei einer Anhörung von Sachverständigen zum Post-Nizza-Prozess im Bundestag (zitiert nach Deutscher Bundestag 2002: 227). Weil die europäische Verfassungsentwicklung nicht nur bei

‚ordnungsgemäßen’ Reformprozessen im Rahmen von Regierungskonferenzen zu beobachten war, sondern gewissermaßen auch still und heimlich geschah, bringt ein breites Konzept von

„Konstitutionalisierung“ die Analyse weiter (Wessels 2003: 25).

Die Begriffe „Konstitutionalisierung“ und „Konstitutionalismus“ lassen Raum für unter-schiedliche Definitionen, denn sie sind ambivalent (Möllers 2003). Um Klarheit zu schaffen, folge ich einer Differenzierung von Paul Craig; er hat die unterschiedlichen Definitionen und Konzepte, die in der Literatur vertreten werden, folgendermaßen differenziert (vgl. Craig 2001: 127-128):

28 Zur Multidimensionalität des Integrationsprozesses vgl. Frei (1985), Giering (1997) und Teune (1984).

(1) Konstitutionalismus lässt sich – ganz allgemein gesprochen – auf alle Fragen beziehen, die mit dem Thema Verfassung zusammenhängen: „This usage includes the deeper justificatory rationale for the particular constitutional rules that a legal system has adopted“ (Craig 2001: 127). In diesem Zusammenhang wird auch von „meta-konsti-tutionellen Fragen“ bzw. vom „Ethos“ und „Telos“ einer Verfassung gesprochen;

(2) Konstitutionalismus beschreibt darüber hinaus den „juridical shift“ (Craig 2001: 128), der nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zu beobachten war. Dazu gehört, dass die Autorität staatlicher Institutionen verfassungsmäßige abgesichert ist bzw. dass das Prinzip der Volkssouveränität als höchste Legitimation staatlichen Handelns festge-schrieben und dass die herausgehobene Rolle von Verfassungsgerichten als den Obersten Hütern der staatlichen Ordnung akzeptiert wird;

(3) eine weitere Bedeutung des Begriffs Konstitutionalismus ist eng verknüpft mit dem

„Public Law“. Hier geht es um die Frage, ob die Elemente einer liberalen Verfassung in formeller Hinsicht nur auf dem Papier existieren, oder ob diese auch die politische Praxis prägen und eine entsprechende politische Kultur mit sich bringen: „Issues such as the accountability of government, broadly conceived, principles of good administra-tion and mainstreaming of human rights, are, for example, said to express a culture of constitutionalism“ (Craig 2001: 128). Es geht hier also auch um ungeschriebene Re-geln einer Verfassung, die die politische Praxis etwa in föderalen Staaten und Konkor-danzsystemen wie der Schweiz prägen (Lehmbruch 1967).

Diese unterschiedlichen Bedeutungen, die Paul Craig beschreibt, zeigen das weite Feld und die Ambivalenz der Konstitutionalisierungs-Debatte. Ich werde die Begriffe „Konstitutiona-lismus“ und „Konstitutionalisierung“ in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Joseph Wieler (1999) und Alec Stone Sweet (1995) verwenden, weil sie meiner Ansicht nach in plau-sibler Weise die für meinen Untersuchungsgegenstand relevanten Aspekte der oben ge-nannten Bedeutungsgehalte zusammenbringen. Nach der Definition von Alec Stone Sweet (1998: 306), der ich hier folge, kann Konstitutionalisierung im Kontext der Europäischen Gemeinschaft folgendermaßen definiert werden:

„[T]he process by which the EC treaties evolved from a set of legal arrangements binding upon sovereign states, into a vertically integrated legal regime conferring judicially enforceable rights and obligations on all legal persons and entities, public and private, within EC territory.“

Es geht in dieser Definition also darum, den rechtlich bindenden Charakter eines eigenstän-digen Rechtssystems zu betonen; dieses System hat sich im Zuge der Konstitutionalisierung schrittweise herausgebildet und unterwirft alle Rechtspersönlichkeiten, also Staaten, Unter-nehmen, Einzelpersonen diesem neu entstandenen supranationalen Regime unterwirft.

An anderer Stelle führt Stone Sweet seine Konzeption von Konstitutionalisierung weiter aus und ergänzt sie um zwei Aspekte, die für unsere Analyse ebenfalls von Bedeutung sind:

(1) Zu einem Prozess der Konstitutionalisierung kommt es nicht zwangsläufig, weil er in den ursprünglichen Verträgen als Saat bereits angelegt gewesen wäre, die früher oder später aufgehen musste, noch war er eine unerwartete Folge des Gemeinschaftsver-trages, d.h. ein Ergebnis eines „functional spill over“. Vielmehr war es der „richterli-che Wille“, der durch die konsistente Rechtsprechung des Europäis„richterli-chen Gerichtshofes (EuGH) diese Konstitutionalisierung erst angestoßen hat.

(2) Die Reichweite und die Tiefe der Konstitutionalisierung kann nur ermessen werden, wenn neben der Rolle des EuGH auch die Rolle der Gerichte in den Mitgliedstaaten bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Blick genommen werden (Mattli/Slaughter 1998; Stone Sweet 1998: 306).29

Der Luxemburger Europäische Gerichtshof und die mitgliedstaatlichen Gerichte, die im Rah-men des Vorabentscheidungsverfahrens in das supranationale Rechtssystem eingebunden sind, haben eine „stille Revolution“ möglich gemacht (Weiler 1994). Das ist die eine Seite der europäischen Konstitutionalisierung. Die andere Seite ist die seit Mitte der 1980er Jahre mit der Einheitlichen Europäischen Akte beginnende Zeit einer deutlich „sichtbareren“ Verfas-sungspolitik. Diese Phase ist geprägt von Regierungskonferenzen als einem wichtigen Instru-ment der Revision und zentralen Forum der Fortschreibung der Gemeinschaftsverträge. Ohne diese „stillen“ und zunächst kaum wahrgenommenen Veränderungen der verfassungsmäßigen Grundlagen der Gemeinschaft lassen sich die „offiziellen“ Vertragsänderungen jedoch nicht verstehen, weil sich Verfassungspraxis und Verfassungstext parallel im Sinne der – systemtheoretisch gesprochenen – „Koevolution“ entwickeln und somit eng aufeinander zu beziehen sind. Die Frage, ob zwischen der Rechtspraxis und den Rechtstexten eine (zu) große

29 Vgl. dazu u.a. Dehousse (1998), Mancini (1991), Shapiro (1999), Slaughter/Stone Sweet/Weiler (1998), St Clair Bradley (2002), Stone Sweet/Caporaso (1998) und Weiler (1994, 1999).

Lücke klafft, müssen im Zweifel die Gerichte klären – im Falle der Gemeinschaft kommt diese Aufgabe dem Europäischen Gerichtshof zu:

„Constitution-building in the EU since the inception of the first treaties has comprised a set of complex interactions and tensions between the Treaty texts and other formal institutional documents, on the one hand, and their interpretation by key actors, notably the Court of Justice, but also the national courts, and the other non-judicial EU institutions, on the other“

(Shaw 2003: 2).

Es war der EuGH, der die Transformation der Gemeinschaft von einer ursprünglich interna-tionalen zu einer eigenständigen supranainterna-tionalen Rechtsordnung angestoßen hat (vgl. Craig 2001: 128; Stone Sweet/Sandholtz 1998: 1; Weiler 1999). Bereits 1986 hatte der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „Les Verts“ (Rs. 294/83) die Gründungsverträge als „Verfas-sungsurkunde der Gemeinschaft“ beschrieben.30 Dieses Urteil lässt sich erst dann in seiner Tragweite voll ermessen, wenn es vor dem Hintergrund des späteren Verlaufs des Integra-tionsprozesses betrachtet wird. Es lassen sich hier drei Phasen oder Etappen der Konstitutio-nalisierung unterscheiden: Die erste Etappe umfasst die Jahre von der Gründung der Europäi-schen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im März 1957 bis zur ersten großen Vertragsänderung im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte Mitte der 1980er Jahre. In diesem Zeitraum kommt es zu einer Konstitutionalisierung, die auf die „Verfassung der Wirtschaft“ (Joerges 2001: 5) konzentriert ist. Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch die Umsetzung und Voll-endung des Binnenmarktprojektes als politisch-ökonomisches Mega-Projekt. Dieser (noch nicht abgeschlossenen) Etappe schließt sich eine dritte Phase an, die Christian Joerges mit dem Begriff des „Konstitutionalismus jenseits des Staates“ (Joerges 2001: 5) umschreibt, also der oben bereits definierten „Verfassungsentwicklung“ in Richtung einer supranationalen Ordnung.

Der Motor dieser Entwicklung ist die Definition der Europäischen Gemeinschaft als

„Rechtsgemeinschaft“ (Hallstein 1969), die eine „Integration durch Recht“ erst möglich ge-macht hat. Dies führte zu einer „vertikalen Konstitutionalisierung“, also einer „Rechtsintegra-tion von oben“ (Joerges 2001: 6). Der Europäische Gerichtshof spielte hier, wie bereits angedeutet, die entscheidende Rolle bei der schrittweisen Herausbildung und Etablierung

30 Vgl. dazu und zu weiteren „Verfassungs“-Fundstellen in der EuGH-Rechtsprechung Peters (2001: 29).

einer supranationalen Rechtsordnung. Das Recht hat sich, so Christian Joerges, „mit seinen eigenen Mitteln über die zwischenstaatliche Politik“ erhoben und hat damit „seine Geltung gegenüber souveränen Staaten“ (Joerges 2001: 6f.) durchgesetzt. Eine bemerkenswerte Vor-gehensweise, die an die Geschichte vom Baron von Münchhausen erinnert, der sich be-kanntlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat (Joerges 2001: 6).31 Ähnlich sieht dies auch Bruno de Witte, wenn er von einer „Zirkularität“ in der Argumentation des EuGH spricht:

„At first, supremacy and direct effect were to be recognized because the EC Treaty was, unlike other international treaties, a theory which proved to be particularly successful in those countries where the domestic status of (other) international treaties were modest, like Italy, Germany, the UK and Ireland, and the Scandinavian countries. But now that these principles have been accepted everywhere, at least for most practical purposes, the direction of the argument is often reversed: EC law is now often presented as being unique because it is endowed with direct effect and supremacy“ (de Witte 1999: 208).

In systemtheoretischer Terminologie wäre hier also von einem selbstreferentiellen System zu sprechen, das sich durch seine Operationen auf sich selbst bezieht (Luhmann 1984: 57-65, 593-646). Die beiden „Doktrinen“ des EuGH, die Bruno de Witte erwähnt, gelten als Beispie-le für diese Form der Selbstreferenz; der Europäische Gerichtshof hat mit ihnen die Grundla-ge für die verfassungsmäßiGrundla-ge Vertiefung der Gemeinschaft Grundla-gelegt. Da ist zunächst die 1963 formulierte Doktrin der „unmittelbaren Wirkung“ des Gemeinschaftsrechts zu nennen: Diese schreibt fest, dass Regeln und Normen des EWG-Vertrages, eine hinlängliche Präzision vo-rausgesetzt, direkt gelten und subjektive Rechte begründen (Joerges 2001: 7; de Witte 1999).

In dem entsprechenden Urteil aus dem Jahre 1963 stellten die EuGH-Richter fest, dass die Gemeinschaft „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts“ darstelle, „zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben (...) und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“

(EuGH 1963: 24-25).

31 Einen Überblick über die konkurrierenden Ansätze, die die Rolle des EuGH im Prozess der Konsti-tutionalisierung erklären, bietet Höreth (2000).

Die zweite Doktrin beschreibt den „Vorrang“ des Gemeinschaftsrechts vor mitgliedstaat-lichem Recht und wurde mit der Costa/E.N.E.L.-Entscheidung eingeführt. Rechtslogisch und gewissermaßen „selbstreferentiell“ abgeleitet aus der vorhergehenden Lehre von der unmittel-baren Geltung legte der EuGH mit dieser Entscheidung fest, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem ein „Regelungsfeld vom europäischen Recht erfasst [ist], (...) kein Mitgliedstaat mehr eigen-mächtig handeln kann“ (Joerges 2001: 8). Im Urteil liest sich diese zweite zentrale „Doktrin“

vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts so:

„[Die] Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Ver-trages haben zur Folge, dass es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen (...). [Es] würde eine Gefahr für die Verwirklichung der in Artikel 5 Absatz 2 aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Artikels 7 widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem zum anderen Staat verschiedene Geltung haben könnte“ (EuGH 1964: 1269f.).

Mit den beiden Urteilen zum Prinzip der unmittelbaren Wirkung und zum Anwendungs-vorrang hat der Europäische Gerichtshof in der ersten Hälfte der 1960er Jahre Rechtsge-schichte geschrieben und die Stichworte für einen europäischen Verfassungsdiskurs geliefert.

Dieser kurze Exkurs hat deutlich gemacht, weshalb der EuGH als zentraler Akteur einer Konstitutionalisierung der Europäischen Gemeinschaft angesehen wird.32 Die in den Urteilen entwickelten „Doktrinen“ lieferten die Basis, auf der die nächsten Schritte der Konstitutiona-lisierung erfolgten. Die rechtlichen und politischen Folgen dieser Urteile und die still-schweigende Akzeptanz oder besser gesagt der „permissive consensus“ (Lindberg/Scheingold 1970), von dem der EuGH lange Zeit zehren konnte, wurden von der Politikwissenschaft zunächst kaum beachtet (Joerges 1996; Weiler 1997b: 102), von Teilen der Europarechtswis-senschaft aber schon frühzeitig problematisiert: „Tucked away in the fairyland Duchy of Luxembourg and blessed, until recently, with benign neglect by the powers that be and the

32 Vgl. dazu u.a. Dehousse (1998), Mancini (1991), Shapiro (1999), Stein (1981) und Stone Sweet/Caporaso 1998).

mass media, the Court of Justice of the European Communities has fashioned a constitutional framework for a federal-type Europe“ (Stein 1981: 1).

Eine politikwissenschaftliche Analyse des Verfassungswandels der Gemeinschaft in Richtung einer immer enger werdenden Union kann also die „Vorarbeit“, die der Europäische Gerichts-hof hier geleistet hat, nicht außer Acht lassen – wenngleich sie in der vorliegenden Arbeit nicht ausführlicher als oben geschehen behandelt werden kann, der Verweis auf die einschlä-gige Forschungsliteratur soll hier genügen (vgl. Dehousse 1998; Höreth 2000; Mancini 1991).

Aber es sollte deutlich geworden sein, dass durch die Nutzung des Rechts als Integrationsins-trument zentrale Kategorien der Rechtswissenschaft zur Disposition stehen, weil die symbio-tische Verbindung von Staat, Recht und Verfassung im Falle der Europäischen Gemeinschaft so nicht mehr gilt. Die traditionelle „gegenseitige Verwiesenheit der Begriffe Recht und Staat“, derzufolge Recht „über den Zwang und der Staat [als] die gesellschaftliche Organisa-tion mit dem Monopol legitimen Zwangs“ definiert wird (Bogdandy 2001: 123-124), gilt in der Gemeinschaft in dieser Form nicht (Schmitter 1996). Die Besonderheiten der Konstitutio-nalisierung auf europäischer Ebene zwingen also nicht nur die Rechtswissenschaft, ihre ver-trauten Kategorien und Analysekonzepte zu überdenken, dies gilt auch und gerade für die po-litikwissenschaftliche Europaforschung (vgl. Hix 1999: 357-365; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996a).

Wenn also „Konstitutionalisierung“ als Transformation der Gemeinschaft von einer interna-tionalen Rechtsordnung in Richtung einer supranainterna-tionalen Rechtsgemeinschaft mit weitrei-chenden Folgen für deren Mitglieder, d.h. die Staaten und ihre Bürger, verstanden wird, ist

„Institutionalisierung“ ein Prozess, der die Konstitutionalisierung begleitet und verstetigt. Im Folgenden will ich deshalb den zweiten zentralen Begriff, den der Institutionalisierung, er-läutern und zeigen, was darunter zu verstehen ist und in welchem Verhältnis er zu Reform-prozessen steht.