• Keine Ergebnisse gefunden

3 Regierungskonferenzen von den Anfängen der europäischen

3.2 EVG und EPG – Zwei (zu) ehrgeizige Integrationsprojekte

Die Verhandlungen um eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) dauerten ins-gesamt 16 Monate – sie begannen im Februar 1951 und endeten mit der Unterzeichnung des Vertragstextes am 27. Mai 1952. Geprägt waren die Verhandlungen durch das internationale Umfeld: Der Ausbruch des Koreakriegs und die damit einhergehende Furcht vor einem sowjetischen Angriff bestimmten die Gespräche. Aufgrund der neuen internationalen Lage erschien die Frage einer deutschen Wiederbewaffnung, welche für Frankreich und die anderen europäischen Partnerstaaten aufgrund der historischen Erfahrungen mit Deutschland eine große Herausforderung darstellte, in einem anderen Licht; sie wurde vor allem von US-ame-rikanischer Seite mit Macht auf die Tagesordnung gebracht. Nur fünf Tage nach Beginn der Verhandlungen über die EGKS begann der Koreakrieg. Dadurch veränderten sich die Wahr-nehmung und die europapolitische Agenda. Jean Monnet hatte das als einer der ersten erkannt und empfahl deshalb dem französischen Außenminister Robert Schuman, den Plan um Frau-gen, wie eine militärische Integration in Europa zu schaffen sei, zu erweitern. Aus dem ur-sprünglichen, perspektivisch angelegten Plan der Errichtung einer Europäischen Föderation wurde im Zuge der neuen sicherheitspolitischen Großwetterlage ein „Nahziel“: „Die Armee, die Waffen und die Basisproduktionen mussten unter eine gemeinsame Souveränität gestellt werden“, so Monnet gegenüber Schuman (zitiert nach Loth 1996: 93). Diese Erkenntnis setzte sich in der Regierung des französischen Ministerpräsidenten René Pleven aber erst nach und nach durch. Da Pleven sich einer Entscheidung über die deutsche Wiederbewaffnung nicht länger entziehen konnte, beschloss das französische Kabinett, der Forderung der Alliierten nach deutschen Truppen mit dem Projekt einer europäischen Armee Konkurrenz zu machen.

Der von Pleven am 24. Oktober 1950 vorgestellte und nach ihm benannte Plan sah eine Armee vor, die „mit den politischen Institutionen des geeinten Europas verbunden“ sein sollte (zitiert nach Brunn 2002: 345). Die Vorschläge aus Paris, die am 28. Oktober dem Verteidi-gungsausschuss der NATO vorgestellt wurden, stießen bei den Alliierten in Washington und London jedoch auf deutliche Skepsis und einigen Widerstand (Smith 2002: 45); auch die Adenauer-Regierung zeigte sich zurückhaltend, denn sicherheits- und integrationspolitisch hätten die Vorschläge eine Diskriminierung der Deutschen bedeutet, da die Bundesrepublik als einziges Teilnehmerland weder Mitglied der NATO hätten sein können, noch über eigene Truppen außerhalb einer europäischen Armee hätte verfügen können (Loth 1996: 94). Zudem

sah Adenauer aufgrund der aktuellen weltpolitischen Lage, anders als die Regierung in Paris, eine rasche Aufstellung deutscher Truppenteile als dringlich an (Brunn 2002: 91-93).

Am 15. Februar 1951 begannen dann in Paris die Verhandlungen über die Institutionalisie-rung einer Europäischen Verteidigungspolitik auf der Basis der Pleven-Vorschläge (vgl. zum Folgenden Smith 2002: 45-54). Mit Ausnahme der niederländischen Regierung, die erst spä-ter dazustieß, waren alle Staaten, die im März den Vertrag über die EGKS unspä-terzeichnen soll-ten, am Verhandlungstisch, an dem eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft entstehen sollte, versammelt. Kanada, Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Portugal, Großbritannien und die USA hatten jeweils Beobachter entsandt. Ein „Steering Committee“, zusammenge-setzt aus den Ständigen Verhandlungsführern, war für die Organisation der Gespräche verant-wortlich; drei zusätzliche Ausschüsse, alle von Franzosen geleitet, behandelten die politi-schen, militärischen und finanziellen Fragen (Smith 2002: 45). Die ersten Monate der Ver-handlungen zogen sich hin, ohne dass klare Linien und Fortschritte oder auch nur ein wirkli-ches Bemühen um Fortschritte erkennbar wurden: „[F]undamentally, there was a touch of mysticisme about starting discussions on European Army financial matters without first knowing what it was all about“ (Furdson 1980: 112).86 Aber auch innenpolitische Instabilität, die sich durch insgesamt fünf Regierungswechsel in Paris ergab, machte eine kohärente Ver-handlungsführung auf französischer Seite unmöglich, so dass die Gespräche nicht voran-kamen.

Im Juni 1951 endete die parallel tagende Petersberg-Konferenz ohne eine Einigung darüber, wie eine militärische Einbindung Deutschlands in die transatlantische Verteidigungsgemein-schaft NATO aussehen könnte. Das lenkte den Blick wieder auf die EVG-Verhandlungen in Paris und setzte neue Hoffnungen in die Verhandlungen in der französischen Hauptstadt.

Nachdem die US-amerikanische Administration durch Außenminister Dean Acheson ihre Unterstützung für das europäische Projekt signalisiert hatte, wuchs der Druck auf die franzö-sische Verhandlungsführung, Fortschritte nicht länger zu blockieren, da andernfalls die ur-sprünglichen NATO-Pläne wieder aufgenommen worden wären (Smith 2002: 47). Erste Be-wegungen gab es in den Verhandlungen über die Fragen, ob die militärischen Verbände ge-mischt sein sollten und ob eigenständige deutsche Truppen verhindert werden könnten.

Nachdem die niederländische Regierung zunächst den Verhandlungen ferngeblieben war,

86 Hervorhebung im Original.

erschien sie jetzt am Verhandlungstisch. Da aber der niederländische Außenminister Dirk Stikker mit Skepsis und Vorbehalten in die Verhandlungen gegangen war und die Grundsatz-frage aufwarf, welchen Nutzen eine volle Integration der nationalen militärischen Kräfte in einer europäischen Armee habe, ließen sich auch die anderen beiden Benelux-Staaten von dieser Skepsis anstecken. Die belgische Regierung fürchtete um die Kooperation und das Maß an traditioneller Integration innerhalb der Beneluxstaaten, so dass am Ende die NATO-Option als plausibler erschien: „There was the realisation that choosing NATO would have the same military effect but at less of a cost to national and Benelux identity“ (Smith 2002: 48).

Als der neue britische Außenminister Anthony Eden im November 1951 im Rahmen einer Pressekonferenz des Nordatlantikrates in Rom ankündigte, Großbritannien werde sich nicht an einer europäischen Armee beteiligen, wurde die französische Regierung, deren schwache Verhandlungsführung sowieso in der Kritik stand, noch weiter geschwächt. Für die Regierung in Paris und vor allem auch für die Französische Nationalversammlung war eine britische Beteiligung von zentraler Bedeutung, um zusammen mit dem Vereinigten Königreich ein

„Gegengewicht“ zu Deutschland bilden zu können (Loth 1996: 98; Smith 2002: 48). Da die Londoner Regierung aber gleichzeitig zu erkennen gab, dass sie eine „Assoziation“ von EVG und EGKS unterstützte, gingen die Kontinentaleuropäer einen Schritt weiter und beschlossen in der Sitzung der Beratenden Versammlung am 10. Dezember die „Schaffung einer Politi-schen Autorität für die von der Europa-Armee tangierten Bereiche von Verteidigung und Außenpolitik“ (Loth 1996: 98). Der Vorschlag, zu diesem Zweck sogleich eine verfassungs-gebende Versammlung einzuberufen, fand keine Mehrheit.

Bei der ersten Außenministerkonferenz der sechs Verhandlungspartner versuchte der italieni-sche Außenminister Alcide De Gasperi, das Projekt einer Politiitalieni-schen Gemeinschaft doch noch auf den Weg zu bringen; was er erreichte, war aber nicht mehr als ein „dilatorischer Kompromiß“ (Loth 1996: 99). Die parlamentarische Versammlung der künftigen EVG erhielt den Auftrag, sich in den ersten sechs Monaten ihrer Konstituierung „mit der Schaffung einer europäischen Organisation von bundesstaatlichem oder staatenbundartigem Charakter“ zu befassen (zitiert nach Loth 1996: 99).87 Die von der Versammlung gemachten Vorschläge sollten dann im Rahmen einer Regierungskonferenz besprochen werden. Dieser Kompro-missvorschlag schuf Zeit und gab den Protagonisten die Hoffnung, das Thema zum

87 Vgl. dazu ausführlich Lipgens (1985).

nen Zeitpunkt wieder auf die Tagesordnung setzen zu können; damit war ein auch später wiederkehrendes Muster von europäischen Reformprozessen etabliert worden: „a classical example of using an existing treaty to postpone a sensitive and potentially controversial issue“

(Smith 2002: 49). Mit der Verschiebung war aber auch deutlich geworden, wie eng die Euro-päische Verteidigungsgemeinschaft und das Projekt einer Politischen Gemeinschaft miteinan-der verbunden sind und dass das Gelingen des einen Projektes vom Erfolg des anmiteinan-deren ab-hängig war (Loth 1996: 99).

Als der Vertrag schließlich unterzeichnet, aber noch nicht von den Parlamenten in den Mit-gliedstaaten ratifiziert war, riefen die sechs MitMit-gliedstaaten schon die nächste Regierungskon-ferenz ein. Der italienische Außenminister De Gasperi konnte seinen französischen Kollegen überreden, noch ehe die Parlamentarische Versammlung einberufen war, auf der Grundlage von Artikel 38 des EVG-Vertrags die Versammlung mit der Ausarbeitung von Plänen für eine Politische Gemeinschaft zu beauftragen. Am 10. September 1952 stimmten die anderen Re-gierungen dem Vorschlag De Gasperis zu und beriefen am folgenden Tag einen Ad hoc-Aus-schuss ein, der entsprechende Vorschläge für eine Europäische Politische Gemeinschaft erar-beiten sollte. Der Vorsitzende dieses Komitees, Heinrich von Brentano, machte in einem Be-richt an das Auswärtige Amt die politische Reichweite dieses Schrittes deutlich: „Die unmi-ttelbare Wahl einer europäischen Völkerkammer wird entscheidend dazu beitragen, das Be-wußtsein der Gemeinsamkeit in den beteiligten Völkern zu wecken“ (zitiert nach Thiemeyer 2001: 34).

Einen Sonderfall stellt die EPG-Regierungskonferenz insofern dar, als es zum ersten Mal ein parlamentarisches Gremium, die erwähnte Ad hoc-Versammlung, war, die im Wortsinne die Federführung für einen Vertrag innehatte.88 Die Regierungen hatten den Prozess zwar ange-stoßen, die eigentliche Arbeit jedoch dem Ausschuss überlassen – sie hatten damit einen „Prä-zedenzfall“ für die Vorbereitung und Organisation von Regierungskonferenzen geschaffen (Ehlermann 1984: 271; Smith 2002: 51). Im Vorfeld des EU-Verfassungskonvents, der im Februar 2002 seine Arbeit aufgenommen und im Juli 2003 beendet hatte, war immer wieder zu hören, in diesem Konvent hätte zum ersten Mal eine Gruppe aus Abgeordneten aus den Mitgliedstaaten und aus dem Europäischen Parlament, die gegenüber den Vertretern aus den

88 Die Mitglieder der Versammlung wurden u.a. vom deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich beraten, der zusammen mit seinem Kollegen Robert R. Bowie seine Studien später in Buchform vorgelegt hat (Bowie/Friedrich 1954).

mitgliedstaatlichen Regierungen in der Mehrzahl waren, den Auftrag erhalten, eine europäi-sche „Verfassung“ zu schreiben. Damit wurde jedoch übersehen, dass es bereits ein halbes Jahrhundert vorher einen historischen Vorläufer für diese Art einer „Verfassungsgebenden Versammlung“ gab.

Die Regierungen, denen die Versammlung ihren Entwurf für eine Europäische Politische Gemeinschaft übergeben hatte, wussten zunächst jedoch nicht, welche konkreten Folgen sich aus dem Entwurf ergeben würden: „Governments seemed to be rushing headlong into a politi-cal union, without having a clear set of priorities“ (Smith 2002: 51). Der ambitionierte Ver-tragsentwurf, auf den sich die Delegationen am 6. März 1953 geeinigt hatten, nannte als eines der zentralen Ziele der Gemeinschaft, „mit den anderen freien Nationen zum Schutze der Mit-gliedstaaten gegen jede Aggression beizutragen“ und „in den Fragen, die den Beistand, die Si-cherheit oder den Wohlstand der Gemeinschaft berühren können, die Koordinierung der Au-ßenpolitik der Mitgliedstaaten zu sichern“ sowie „im Einklang mit der Gesamtwirtschaft der Mitgliedstaaten die Ausweitung der Wirtschaft, die Steigerung der Beschäftigung und die He-bung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten zu fördern, insbesondere durch fortschrei-tenden Ausbau eines gemeinsamen Marktes“ (Art. 2 des Entwurfs).89 Die später im EWG-Vertrag aufgenommene Formel, den Gemeinsamen Markt nicht auf einen Schlag, sondern in Etappen einzuführen, fand sich bereits im Entwurf der Ad-hoc-Versammlung – ein weiteres Beispiel dafür, wie einmal eingeführte Ideen und Handlungsmuster tradiert werden und künf-tige Entscheidungen und institutionelle Lösungen im Sinne einer „Pfadabhängigkeit“ prägen.

Im Vertrag von Maastricht tauchte das Konzept der stufenweisen Umsetzung bei der Wirt-schafts- und Währungsunion wieder auf.

Der EPG-Entwurf sah zwei parlamentarische Kammern vor – ein direkt gewähltes Unterhaus und ein Oberhaus mit Senatoren, die von den nationalen Parlamenten entsandt werden sollten (Artikel 11 des Entwurfs) und einen Ministerrat, in dem die Staatenvertreter versammelt sind.

Der vorgelegte Entwurf sah keinen europäischen Bundesstaat vor, in dem die Mitgliedstaaten gewissermaßen dialektisch aufgehoben worden wären, das Ziel war vielmehr ein „Gleichge-wicht zwischen den Kompetenzen der direkt gewählten Völkerkammer und den national-staatlichen Elementen des Senats und des Ministerrats“ (Thiemeyer 2001: 35). Die

89 Der Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft, von der Ad-Hoc-Versammlung am 10. März 1953 in Straßburg angenommen, ist abgedruckt in Schwarze/Bieber (1984:

397-433).

dischen Abgeordneten setzten sich dafür ein, die Regelungen im Bereich der Wirtschaftspo-litik zu konkretisieren und den Ministerrat zu verpflichten, ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrages das Projekt des Gemeinsamen Marktes auch tatsächlich in Angriff zu nehmen, vom siebten Jahr an sollten in diesem Bereich Mehrheitsbeschlüsse im Ministerrat möglich sein (Loth 1996: 103).

Am 10. März 1953 wurde der Entwurf von der Ad-hoc-Versammlung verabschiedet: 50 Abgeordnete stimmten dafür, fünf enthielten sich der Stimme und 31 Abgeordnete sind erst gar nicht zur Abstimmung erschienen; die Hälfte der fehlenden Parlamentarier waren als Gegner des Entwurfs bekannt (Loth 1996: 103). Der Ratifizierungsprozess wurde erschwert durch permanente Regierungswechsel, vor allem in Frankreich, und durch die Formulierung von „Vorbedingungen“ vonseiten der Pariser Nationalversammlung; erst wenn diese Vorbe-dingungen erfüllt seien, sei eine Ratifizierung durch die Assemblée Nationale gewährleistet.

Die Europäische Politische Gemeinschaft scheiterte am Ende formal an der Entscheidung der französischen Nationalversammlung, das Thema Verteidigungsgemeinschaft nicht weiter zu behandeln, womit automatisch auch das EPG-Projekt von „der politischen Tagesordnung“

(Thiemeyer 2001: 37) verschwand. Aber auch ohne den engen Zusammenhang von Europäi-scher Verteidigungs- und PolitiEuropäi-scher Gemeinschaft wäre die Europäische Poltische Gemein-schaft wohl gescheitert. Denn die EPG hatte als Ziel „einen europäischen Staat und seine Verfassung“ formuliert – ein ambitioniertes Ziel, das in der Form nur von der deutschen und der italienischen Regierung unterstützt worden war (Thiemeyer 2001: 37-38). Während es bei der Montanunion um die „Lösung konkreter Probleme im Interesse des Nationalstaates“ ging, war der Europäischen Politischen Gemeinschaft gleichsam eine (bundes-)staatliche „Finalität“

eingeschrieben, die weit über den bisherigen Ansatz einer Sektorintegration hinausgegangen wäre. Und gerade hierin liegt, wie die historische Forschung gezeigt hat, ein „bislang unterschätzter Grund für ihr Scheitern“ (Thiemeyer 2001: 38).

Trotz oder gerade wegen dieser negativen Erfahrungen mit den Projekten EVG und EPG war der nächste Anlauf zur Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit erfolgreich und brachte mit den Römischen Verträgen die Sechser-Gemeinschaft in wirtschaftlicher Hinsicht einen großen Schritt voran. Mit dem Scheitern von EVG und EPG schien ein im engeren Sinne politisch integriertes Europa jedoch fürs Erste „in die Ferne gerückt“ (Loth 1996: 113).