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Eine integrationstheoretische Bewertung der ersten konstitutionellen Regierungskonferenz und ihrer langen Vorgeschichte

3 Regierungskonferenzen von den Anfängen der europäischen

3.6 Eine integrationstheoretische Bewertung der ersten konstitutionellen Regierungskonferenz und ihrer langen Vorgeschichte

Die darstellende Analyse des europäischen Einigungsprozesses von den Anfängen bis zur ersten grundlegenden Vertragsänderung im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte hat gezeigt, dass zentrale Prämissen des Liberalen Intergouvernementalismus (Moravcsik 1998) modifiziert bzw. revidiert werden müssen. So wurde deutlich, dass die Annahme, die Exeku-tiven seien die zentralen Akteure in Regierungskonferenzen und sie würden zudem als

„ein-heitliche Akteure“ auftreten, nicht haltbar ist (Moravcsik 1991, 1993, 1998). Dies gilt auch für Staaten wie etwa Großbritannien und Frankreich, die sich als „Einheitsstaaten“ verstehen.

Das soll stellvertretend das folgende Beispiel illustrieren: Die politischen Spannungen zwi-schen der Premierministerin Thatcher und ihren wichtigsten Kabinettskollegen, dem Foreign Secretary Geoffrey Howe auf der einen und dem Chancellor of the Exquequer Nigel Lawson auf der anderen Seite wären hier zu nennen. Die beiden Minister sahen die Chance, im Rah-men der Verhandlungen die britische Position in der Europäischen Gemeinschaft zu stärken und insbesondere ihre Liberalisierungspolitik und ihre makroökonomischen Ziele durch europäische Regelungen zu stützen und zu schützen. Die Premierministerin stand dem Ansatz ihrer Minister jedoch skeptisch gegenüber, sie konnte oder wollte sich jedoch nicht gegen sie stellen. Die Folge ihrer Laisser faire-Politik war, dass sich die Europäische Kommission und die Befürworter einer ambitionierten Reformkonferenz ermuntert fühlten, voll und ganz auf das Binnenmarkt-Projekt zu setzen. Auch in Frankreich, dem zweiten „unitarisch“ auftreten-den Staat in der Gemeinschaft, gab es keine einheitliche Position innerhalb der Regierung zu einer in der Endphase der Verhandlungen sehr kontrovers diskutierten Frage, ob im neuen Vertrag ein Verweis auf eine künftig zu schaffende Währungsunion platziert werden solle.

Der französische Präsident Mitterand neigte zunächst, im Unterschied zu Außenminister Du-mas, der Position des Finanzministers und seiner wichtigsten Beraterin, Elisabeth Guigou, zu;

beide rieten dringend davon ab. Da diese Differenzen innerhalb der Pariser Regierung den anderen Beteiligten nicht verborgen geblieben waren, konnte der französische Ständige Ver-treter seine Position, in der er den Skeptikern folgte, nicht allzu überzeugend vortragen. Diese

„Schwäche“ nutzte Kommissionspräsident Delors, der Vorgänger des amtierenden Finanzmi-nisters, während des Luxemburger Gipfels und konnte Mitterand schließlich umstimmen (Budden 2002: 78-80).

Auch eine andere zentrale Prämisse des Liberalen Intergouvernementalismus, derzufolge su-pranationale Akteure die Rolle von Ausführungsgehilfen der mitgliedstaatlichen Regierungen übernehmen und keinen echten politischen Einfluss ausüben können (Moravcsik 1993, 1999), verliert bei genauerer Betrachtung ihre Plausibilität. Die herausragende Bedeutung der De-lors-Kommission wurde bereits erwähnt (Drake 1995, Ross 1995). Auch das Europäische Par-lament ebenso wie der Gerichtshof in Luxemburg hatten einen messbaren, zumindest mittel-baren Einfluss auf die Verhandlungen und die Ergebnisse der Regierungskonferenz. Auf die Rolle transnationaler wirtschaftlicher Akteure und Vereinigungen wie etwa den European

Round Table (ERT) für das Agenda-setting und die Grundkonzeption des Binnenmarkt-projekts und des Weißbuches wurde hingewiesen (Green Cowles 1995).

Auch das Netzwerk der Europäischen Volkspartei (EVP) hatte seinen Anteil an der neuen Dynamik, die mit dem Binnenmarktprojekt und der Einheitlichen Europäischen Akte einher-gingen. Die EVP spielte als einzige parteipolitische Gruppierung in verschiedenen Phasen der EEA-Verhandlungen eine wichtige Rolle: Sie setzte sich auf allen Ebenen dafür ein, dass überhaupt eine Regierungskonferenz auf den Weg gebracht wurde und sie machte sich in den schwierigen Phasen der Verhandlungen durch direktes Lobbying bei den christdemokrati-schen und konservativen Regierungen dafür stark, die Gespräche auch zu Ende zu bringen (Budden 2002: 80-83).121 Auch die Ratspräsidentschaften hatten – unterstützt vom Ratssekre-tariat – als Gemeinschaftsinstitution einen maßgeblichen Einfluss auf die Verhandlungen. Da mit Italien und Luxemburg zwei Länder die Präsidentschaft innehatten, die als integrations-freundlich gelten, waren ihr Ziel von Anfang an, die Verhandlungen in Richtung „mehr Eu-ropa“ zu führen. Wenn man, entgegen den Prämissen des Liberalen Intergouvernementalis-mus, die Rolle von Ideen und Leitbildern als weitere wichtige Faktoren der europäischen In-tegration versteht, kann man den Anteil der beiden Ratspräsidentschaften für das Ergebnis der Verhandlungen besser einschätzen und man wird auch dem Faktor „Kontingenz“ Rechnung tragen müssen: Denn die zufällige Abfolge von zwei Mitgliedstaaten, die als eindeutig proin-tegrationistisch gelten, hat einen erkennbaren Einfluss gehabt auf die Verhandlungen: „The counterfactual case lies in consideration of what UK and Danish ‚minimalist‘ Presidencies might have meant for the IGC’s outcome“ (Budden 2002: 89).

Dass die Delors-Kommission während und schon vor der Aufnahme der Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen konnte – die auf der Grundlage von Artikel 236 EGV nicht zu erwarten gewesen wäre –, ist durch zahlreiche Analysen belegt worden (Beach 2002; Grant 1994; Ross 1995: 16-50), und wird auch von Andrew Moravcsik (1998: 347) eingestanden. Dem neuen Kommissionspräsidenten war zunächst gar nicht daran gelegen, einen neuen Vertrag auf den Weg zu bringen. Nachdem aber klar geworden war, dass das Binnenmarktprojekt nur auf der Basis einer Änderung des Primärrechts ein Erfolg werden würde, stellte sich die Kommission an die Spitze der Befürworter einer Vertragsänderung (Beach 2002: 63-64); ihr gelang es

121 Die britischen Konservativen hatten sich dem EVP-Netzwerk nicht angeschlossen, weshalb sie an diesen Gesprächen nicht beteiligt waren (Budden 2002: 96, Fn. 7).

dann, in den Verhandlungen die ihr auch in „normalen“ Entscheidungen der Gemeinschaft zukommende Rolle als treibende Kraft und „Motor der Integration“ voll und ganz auszu-spielen.122 Die Mehrzahl der Dossiers und all die technischen Analysen über die Folgen der einzelnen Vorschläge, die auf dem Verhandlungstisch landeten, stammten von der Kom-mission (vgl. Budden 2002: 90; Beach 2002: 65-67; Christiansen 2002). Im Vergleich zu den Vertretern der Regierungen, die sich über die möglichen langfristigen Folgen im Unklaren waren, war die Kommission als langfristig planende Bürokratie, die keine Wahltermine im Blick haben muss, hier klar im Vorteil. Dass sich die Kommission so erfolgreich – im Unter-schied zum Europäischen Parlament – in die Verhandlungen einbringen konnte, hing also ab vom Verhandlungsgegenstand und davon, dass die Kommission taktisch klug vorgegangen war und nur Vorschläge einbrachte, die im Prinzip mehrheitsfähig waren (Beach 2002: 80).

Der im Vergleich zur Kommission geringere Einfluss des Europäischen Parlaments erklärt sich u.a. auch dadurch, dass das EP zum damaligen Zeitpunkt in der „normalen“ Politik der Gemeinschaft noch eine kleinere Rolle spielte. Das Isoglukose-Urteil des Europäischen Gerichtshofes von 1980, das einen Rechtsakt des Rates für ungültig erklärte, weil die Mei-nung des Parlaments nicht eingeholt worden war, war das EP jedoch gestärkt worden; dies sollte dann auch Folgen haben für die Rolle des EP in Regierungskonferenzen, da das EuGH-Urteil eine Verbindung zur „normalen“ Brüsseler Politik geschaffen hatte und der Rat die Meinung des EP hier wie dort nicht mehr ignorieren konnte (Budden 2002: 90).

Des Weiteren haben die EEA-Verhandlungen gezeigt, dass Regierungskonferenzen keines-wegs ausschließlich von politischen wie ökonomischen nationalen Interessen und von in in-nerstaatlichem Rahmen definierten Positionen und Präferenzen bestimmt sind oder dass Ideen nicht in erster Linie der ideologischen Verschleierung der Interessen dienen (Moravcsik 1998). Gerade die Regierungskonferenz 1985 war auch und gerade von (partei)politisch geprägten Leitbildern und Ideen bestimmt über die klassische Frage, wie das Verhältnis von Staat und Wirtschaft zu gewichten sei. Auf der einen Seite des ideologischen Spektrums stan-den, angeführt von der französischen Regierung, die sozialistisch bzw. sozialdemokratisch ausgerichteten Regierungen, auf der anderen die neoliberal und marktwirtschaftlich argumen-tierenden Vertreter; am stärksten exponiert hat sich hier die britische Regierung (Budden 2002: 85-87). Das unter maßgeblicher Mitwirkung der Kommission gefundene Ergebnis stellt

122 Zur Rolle der Kommission im Entscheidungssystem der Gemeinschaft vgl. u.a. Nugent (2000, 2001) und Peterson (2002).

einen klassischen europäischen Kompromiss dar, in dem sich beide Positionen hinter dem Ziel eines „Europäischen Marktes“ versammeln konnten:

„(...) the same idea was able to suggest both a re-regulation and taming of economic forces by a relaunched ‚Europe‘, on the one hand, and a deregulatory regional liberalization among fully sovereign nation states, on the other. This term therefore provided a bridge both between the ‚socialist‘

and ‚neo-liberal‘, and between the ‚Europeanist‘ and ‚nationist‘ positions“

(Budden 2002: 87).

Und darüber hinaus hat die erste umfassende konstitutionelle Regierungskonferenz gezeigt, dass nicht nur – wie dies in rationalistischen Ansätzen wie dem Liberalen Intergouvernemen-talismus angelegt ist – nach der Rolle von Akteuren zu fragen ist, sondern auch nach Struk-turen und Pfadabhängigkeiten, die das Handeln der Akteure bestimmen. Dabei ist zu unter-scheiden zwischen den nationalstaatlichen Strukturen auf der einen und jenen der Gemein-schaft auf der anderen Seite, die zurückwirken auf das strategische und politische Handeln der mitgliedstaatlichen Regierungen. Zum weiteren Kontext, der die Regierungskonferenz 1985 auch geprägt hat, gehören der langjährige Finanzstreit mit der Londoner Regierung und die chronischen Agrarkrisen seit Ende der 1970er Jahre. Die Lösung, die auf dem Europäischen Rat in Fontainebleau im Juni 1984 gefunden worden war und die als „Britenrabatt“ in die Geschichte der Gemeinschaft eingehen sollte, hat wesentlich dazu beigetragen, dass im Jahr darauf nach Jahren der Stagnation eine Regierungskonferenz einberufen werden konnte. Die 1984 getroffenen Vereinbarungen hatten zur Folge, dass die Regierungen – mit Ausnahme Griechenlands – die kontroversen Fragen zum Finanzsystem der Gemeinschaft in den Ver-handlungen weitgehend aussparen konnten (Budden 2002: 88). Ein anderer wichtiger Punkt, der häufig ausgeblendet wird, war die Erweiterung um Spanien und Portugal und die lau-fenden Beitrittsgespräche. Noch vor dem Start zur Regierungskonferenz war als Zieldatum für die seit Jahren laufenden Beitrittsverhandlungen der 1. Januar 1986 festgeschrieben worden.

Dies beeinflusste die Verhandlungen und das spätere Ergebnis: Die Staaten, die eine Libera-lisierung befürworteten, hatten die Sorge, dass die Aufnahme Spaniens und Portugals, deren Ökonomien relativ geschlossen und kaum entwickelt waren, die protektionistischen Tenden-zen in der Gemeinschaft wieder stärken würden. Das Erweiterungsargument überzeugte aber auch die mitgliedstaatlichen Regierungen, die den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen mit Skepsis betrachteten und die lieber am Konsensprinzip festgehalten hätten: Hätte man am

Prinzip der Einstimmigkeit in Binnenmarktfragen festgehalten, so hätten ihrer Ansicht nach die „Südeuropäer“ eine starke Vetoposition bekommen; dies sollte, so die Sicht Londons, unbedingt verhindert werden (Budden 2002: 88).

Ein weiterer Faktor war für die Verhandlungen zur Einheitlichen Europäischen Akte ebenso prägend: Die simple Tatsache, dass die Regierungskonferenz auf der Grundlage des beste-henden Vertrags einberufen und dass auf der Basis einer nun schon Jahrzehnte zurückrei-chenden europapolitischen Praxis mit zahlreichen Krisen und Blockaden verhandelt wurde:

„The Community existed, it had its own internal rules for changing the Treaty and an IGC was therefore a policy option“ (Budden 2002: 89). Die Europäische Gemeinschaft hatte sich Mitte der 1980er Jahre sehr weit von ihren bescheidenen Ursprüngen einer Montanunion fortbewegt, so dass die prinzipielle Offenheit und die „tabula rasa“-Situation, wie sie kenn-zeichnend war für die Verhandlungen des Spaak-Ausschusses, nicht mehr gegeben war. Die Gemeinschaft der 1980er Jahre hatte ihren „pre-EC ‚state of nature‘“ (Budden 2002: 89) lange hinter sich gelassen, sie hatte sich in Richtung eines hoch institutionalisierten politischen Sys-tems mit bürokratischen Routinen und Verfahren entwickelt. Diese Form von „Pfadabhän-gigkeit“, die sich aus den vielen Lernprozessen der ersten Jahrzehnte des europäischen Eini-gungsprozesses ergeben hat, wurde durch die Regierungskonferenz, die zur Einheitlichen Eu-ropäischen Akte führte, zusätzlich gestärkt. Als dann bereits wenige Jahre später schon wieder eine Revision der Verträge auf der europäischen Agenda stand, war die Ausgangslage für die Verhandlungen aufgrund der Erfahrungen, die mit der Einheitlichen Europäischen Akte und der Umsetzung der dort vereinbarten Reformen gesammelt wurden, eine ganz andere. Das

„Außeralltägliche“ der letzten Regierungskonferenz war bei der nächsten schon einer gewis-sen Routine gewichen – auch wenn die Umstände und die Anlässe der Regierungskonferenz, die dann zum Vertrag von Maastricht führen sollten, historisch ganz besondere waren. Dies werde ich im folgenden Kapitel zeigen.

3.7 Der historische Kontext und die Verhandlungen im Rahmen der