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Der lange Anlauf zur ersten Vertragsänderung im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte: Vorbereitende Schritte in den 1970er bis zur Mitte der 1980er

3 Regierungskonferenzen von den Anfängen der europäischen

3.5 Der lange Anlauf zur ersten Vertragsänderung im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte: Vorbereitende Schritte in den 1970er bis zur Mitte der 1980er

Jahre

Die gescheiterten Fouchet-Verhandlungen prägten die Politik der Gemeinschaft weit über die 1960er Jahre hinaus: „[...] there was twenty-three year gap until the convening of the next constitutional IGC“ (Smith 2002: 81). Es dauerte lange bis es zu einem erneuten Anlauf einer weitreichenden Reform der Verträge Mitte der 1980er Jahre kommen sollte. Die europäische

Politik dieser Jahre war geprägt von der Politik de Gaulles, die sich wiederholt gegen einen Beitritt Großbritanniens zur Gemeinschaft ausgesprochen und die anderen Partner damit „vor den Kopf gestoßen hatte“ (Brunn 2002: 144); hinzu kam die Debatte um eine Reform der Agrarpolitik, der Rückzug Frankreichs vom Verhandlungstisch („Politik des leeren Stuhls“) und der Auszug aus den militärischen Strukturen der NATO sowie die ersten Anläufe für Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung. Diese Reformen konnten aber erst einge-leitet werden, als de Gaulle sein Amt an Pompidou abgegeben hatte. Diese, in der ersten Hälf-te der 1970er Jahre einsetzende „period of reflection“ (Smith 2002: 81) schuf die Basis für die zweite große europäische Rélance.

De Gaulle hielt an seiner Konzeption einer stärker intergouvernemental geprägten Gemein-schaft fest, obwohl er damit in den Fouchet-Verhandlungen gescheitert war; sein Ziel war es immer noch, dieses Modell den andern Fünf „aufzuzwingen und der EWG den weiteren Weg in die Supranationalität zu versperren“ (Brunn 2002: 144). Auch der Elysée-Vertrag und die engere deutsch-französische Kooperation, welche als bilateraler „Ersatz“ für das intergou-vernementale Fouchet-Konzept angelegt waren, standen im Verdacht, eine Vertiefung der Zu-sammenarbeit innerhalb der Gemeinschaft zu gefährden. Durch die Präambel, die der Bundes-tag dem Vertrag beigefügt hatte, wurde jedoch deutlich, dass man in Bonn „einen deutsch-französischen Sonderweg“ (von der Groeben 1982: 215) unter allen Umständen vermeiden wollte. Hinter dieser Position stand vor allem der amtierende Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard. Auch die Europäische Kommission und ihr Präsident Hall-stein sprachen sich dafür aus, dass „Auslegung und Anwendung des [deutsch-französischen, Anm.] Vertrages Bestand, Funktionieren und Dynamik unserer Gemeinschaft nicht beein-trächtigen dürfen“ (zitiert nach von der Groeben 1982: 215).

Im Juni 1963 wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag von Bundestag und Natio-nalversammlung schließlich ratifiziert. Die Europareise des US-amerikanischen Präsidenten Kennedy und die damit verbundene Neuorientierung der Washingtoner Europapolitik kurz darauf sowie der begeisterte Empfang für Kennedy in Bonn führten zu Irritationen in Paris, da de Gaulle davon ausgehen musste, dass auch Deutschland als wichtigster Partner die von Paris favorisierte militärische Kooperation nicht voll unterstützte (von der Groeben 1982: 217 und ausführlich dazu Conze 1995: 266-294). Diese Irritationen und die monatelange Debatte um die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) haben mit dazu beigetragen, dass

sich die Situation im Sommer 1965 zuspitzte und das französische Kabinett am 1. Juli be-schloss, die Verhandlungen über die GAP als gescheitert zu erklären und ihre Vertreter aus den Organen der Gemeinschaft zurückzuziehen – damit löste Paris die berühmte „Krise des leeren Stuhls“ aus (vgl. Loth 2001a). Da sich die Europäische Kommission in ihren Vorschlä-gen nicht darauf beschränkte, eine rein technische Lösung der Finanzierung der Landwirt-schaftspolitik zu präsentieren, sondern diesen Vorschlag mit weiter reichenden Empfehlungen zur Ausweitung der Haushaltsbefugnisse der Gemeinschaft verknüpft hatte, richtete sich der Unmut de Gaulles vor allem auf die Kommission und ihren Präsidenten Walter Hallstein (Schönwald 2001). In der berühmt gewordenen Pressekonferenz vom 9. September 1965 be-zeichnete der französische Staatspräsident die Kommission als „Embryo einer größtenteils ausländischen Technokratie, die dazu bestimmt war, bei der Regelung von Problemen, von denen unsere Existenz abhängt, in die Rechte der französischen Demokratie einzugreifen“

(zitiert nach Brunn 2002: 146). Um solche „Eingriffe“ zu verhindern, lehnte de Gaulle die vorgeschlagene Einführung von Mehrheitsbeschlüssen ab und forderte gleichzeitig die Be-schneidung der Kompetenzen der Kommission (Smith 2002: 84; von der Groeben 1982: 275-280).

Der Präsidentschafts-Wahlkampf, in dem von de Gaulle Kompromissbereitschaft erwartet wurde und die – erst im zweiten Wahlgang – wieder gewonnene Präsidentschaft ebneten am Ende den Weg für einen Kompromiss. Die italienische Ratspräsidentschaft lud im Januar 1966 zu einer Sitzung des Ministerrates ohne Beteiligung der Kommission nach Luxemburg ein, um eine Einigung in den strittigen Fragen der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen und zum Initiativrecht der Kommission zu erzielen. Die Einladung an den Tagungsort Lu-xemburg war als Angebot und Zugeständnis an Paris gedacht, da die französische Seite nicht nach Brüssel, die „Heimat“ der Kommission kommen wollte (von der Groeben 1982: 283).

Da sich jedoch die Pariser Regierung mit ihrem „intransigenten Standpunkt hinsichtlich des Vetorechts der Regierungen“ (von der Groeben 1982: 283) nicht durchsetzen konnte, musste eine Einigung gefunden werden, die den Gemeinsamen Markt nicht gefährdete. Der am Ende gefundene „Luxemburger Kompromiss“ kam schließlich allen Beteiligten entgegen; er führte die EWG aus der Sackgasse und aus der ersten tiefen Krise der Integration wieder heraus (Brunn 2002: 148). Damit war jedoch ein, wie viele kritisch anmerkten, „für die Zukunft der Gemeinschaft höchst nachteiliger Kompromiß“ (von der Groeben 1982: 283) gefunden

worden, der auch „langfristig die Umgangsformen in der Gemeinschaft“ (Brunn 2002: 148) verändern sollte.

Im Kern ging es im Luxemburger Kompromiss darum, dass die Mitgliedstaaten in den für sie existentiellen und lebenswichtigen Fragen nicht überstimmt werden – ohne jedoch die in den Verträgen festgeschriebene grundsätzliche Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen abzu-schaffen: „Man sagte einander lediglich zu, auf dem Verhandlungswege das äußerste zu ver-suchen, um zu einer Übereinstimmung zu gelangen, bevor abgestimmt würde“ (von der Groeben 1982: 283-284). „Innerhalb einer vernünftigen Frist“, so der Wortlaut des Kompro-misses, solle eine Lösung gefunden werden, die „von allen Mitgliedern des Rates in Achtung ihrer gegenseitigen Interessen und der Interessen der Gemeinschaft gemäß Artikel 2 des Vertrages“ angenommen werden könne (zitiert nach Brunn 2002: 370). In der Praxis führte das dazu, dass in aller Regel ein Konsens gesucht wurde. Gelang dies nicht, kam es zu einer

„Vertagung von entscheidungsbedürftigen Fragen“ oder zur „Verknüpfung mehrerer Fragen, an denen die Staaten je unterschiedlich starkes Interesse hatten, zu Paketlösungen“ (Hrbek 1987: 25).

Der Ministerrat hatte im „Luxemburger Kompromiss“ jedoch nicht nur Vorkehrungen für eine Lage getroffen, in der zunächst kein Konsens vorlag und Entscheidungen einstimmig beschlossen werden sollten. Ein zweiter, häufig übersehener Aspekt des Kompromisses betraf die Zusammenarbeit von Kommission und Rat. Die Kommission wurde darauf verpflichtet,

„angemessene Kontakte mit den Regierungen der Mitgliedstaaten durch Vermittlung der Ständigen Vertreter“ zu pflegen (zitiert nach Brunn 2002: 371). Hier wurde also der Hand-lungsspielraum der Kommission, vor allem ihre „Rolle als Dreh- und Angelpunkt, als Kom-munikationszentrum“ der Gemeinschaft eingeschränkt und die ursprüngliche „Idee der Supra-nationalität“ (Brunn 2002: 148), die sich mit einer politisch unabhängigen Kommission ver-bindet, relativiert (Brunn 2002: 173; Middlemas 1995: 67).

Die folgenden Jahre nach der Einigung auf den Luxemburger Kompromiss und nach dem Rückzug Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO waren geprägt von Ver-suchen der sechs Staaten, eine gemeinsame Politik, trotz der Verweigerungshaltung Frank-reichs, innerhalb der Gemeinschaftsstrukturen durch Initiativen im Rahmen der Westeuropäi-schen Union (WEU) voranzubringen. Darüber hinaus änderten sich auch die institutionellen

Rahmenbedingungen. Mit dem sogenannten Fusionsvertrag vom 08.04.1965 (in Kraft seit 01.07.1967) wurden ein für alle drei Gemeinschaften zuständiger Rat und eine Kommission geschaffen. Diese Fusion führte nicht zu einer Zusammenlegung der Gemeinschaften, sie hatte vielmehr rechtstechnische Folgen (Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil 1993: 45). Als konkrete Folge dieses Schrittes ergab sich eine – für die Gemeinschaftspolitik wichtige – Ausdifferen-zierung des Rates in Fachministerräte und eine engere Abstimmung seiner Arbeit durch die Vorbereitung der Ratssitzungen durch den Ausschuss der Ständigen Vertreter. Der nach seiner französischen Abkürzung COREPER („comité des répresentants permanents“) be-nannte Ausschuss entwickelte sich bald zum Dreh- und Angelpunkt der Gemeinschaftspolitik und zum „einflussreichen Bindeglied zwischen der Kommission und dem Ministerrat“, wo-durch die Kommission mehr und mehr die „Funktion einer Maklerin“ übernommen hat (Brunn 2002: 176).98

Auch die Beitrittsbemühungen Großbritanniens, und dann auch die Aufnahmegesuche Nor-wegens, Irlands, Dänemarks und Schwedens bestimmten die Debatten im Kreis der Mitglied-staaten in dieser Zeit. Am 11. Mai 1967 hinterlegte die neue Londoner Regierung unter der Führung von Wilson einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EWG. Das zweite Veto de Gaulles gegen einen Beitritt der britischen Insel war nun keine prinzipielle Ablehnung mehr, da eine Aufnahme Großbritanniens nach Behebung der aktuellen ökonomischen und finanzi-ellen Schwierigkeiten in Aussicht gestellt wurde – die Regierung in London zog ihr Gesuch deshalb auch nicht zurück, sie ließ es „bildlich gesprochen, im Briefkasten der Sechser-gemeinschaft liegen“ (Brunn 2002: 159). So war klar geworden, dass an eine Erweiterung der Gemeinschaft erst nach dem Rückzug de Gaulles zu denken sei. Erst mit seiner Abwahl und dem Amtsantritt von Pompidou änderte sich die politische Lage: Der Weg war nun frei für eine neue Phase der Reflexion über die Zukunft Europas und für neue Schritte.

Aus Anlass des 10. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge versammelten sich die Staats- und Regierungschef in Rom und bemühten sich, den Problemen der politi-schen Zusammenarbeit, wie sie sich in den zurückliegenden Jahren gezeigt haben, durch Ap-pelle an den eigenen politischen Willen beizukommen. Im Abschlusskommuniqué der Gipfel-konferenz verständigten sie sich auf einen vorsichtig formulierten Auftrag: „Die an der Kon-ferenz beteiligten Staaten haben vereinbart, die Möglichkeiten zu prüfen, wie sie mit

98 Zum COREPER ausführlich vgl. Mentler (1996) und Lewis (2002).

neten Methoden und Verfahren, die den Umständen angepaßt sind, schrittweise ihre politi-schen Bande untereinander enger gestalten können“ (zitiert nach Siegler 1968, 387). Der Gip-fel in Rom war aber nicht mehr als ein „protokollarisches Ereignis“ (Wessels 1980: 48); erst die Gipfelkonferenz von Den Haag im Jahr 1969 brachte neue Impulse. Wieder war es die französische Regierung, die eine rélance angestoßen hatte. Im Juli 1969 verkündigte der neue französische Außenminister Maurice Schuman eine europapolitische Initiative (Smith 2002:

85). Vor dem Gipfel Anfang Dezember war die Skepsis groß gewesen und die Erwartungen waren nicht allzuhoch gespannt; allgemein verbreitet war aber die Überzeugung, die Gemein-schaft müsse jetzt einen mutigen Schritt nach vorne wagen, ansonsten sei das gesamte Projekt gefährdet (Brunn 2002: 179). Frankreichs Staatspräsident Pompidou war mit drei Forderun-gen angereist: Er verlangte eine Lösung der Finanzierungsfrage der Gemeinsamen Agrarpoli-tik, Antworten auf Fragen der Vertiefung der Gemeinschaft und ihre Erweiterung. Die Rei-henfolge machte auch die Prioritäten der französischen Regierung klar – eine Erweiterung sollte erst dann unternommen werden, wenn die Strukturen der Gemeinschaft gefestigt waren (Dinan 1999: 61). Die anderen fünf Mitgliedstaaten – auch die neue deutsche Regierung unter Willy Brandt – hatten dagegen vor allem die Erweiterung um Großbritannien im Blick. Als in einem Gespräch zwischen Brandt und Pompidou die Frage der Erweiterung geklärt werden konnte und damit ein „Durchbruch für die zunächst unklare Verhandlungssituation“ (Wessels 1980: 53) möglich geworden war, wurde auch der Weg frei für eine Einigung in den anderen Fragen.

Die französische Seite bekam die geforderte Vollendung des Gemeinsamen Marktes und darin vor allem eine abschließende Regelung der Finanzierung des Agrarsektors, sie musste aber gleichzeitig dem Eigenmittelsystem und einer Stärkung der Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments zustimmen (Wessels 1980: 54). Im Bereich „Vertiefung“ einigten sich die Staats- und Regierungschefs darauf, einen Stufenplan für eine europäische Wirt-schafts- und Währungsunion, der dann als „Werner-Bericht“ vorgelegt werden sollte, erarbei-ten zu lassen. Darüber hinaus beauftragerarbei-ten sie die Außenminister zu prüfen, „wie in der Pers-pektive der Erweiterung am besten Fortschritte auf dem Gebiet der politischen Einigung er-zielt werden können“ (zitiert nach Wessels 1980: 55). Dieser zweite Prüfauftrag mündete in den „Davignon-Bericht“, der die Grundlage für eine neue Form der außenpolitischen Koope-ration im Rahmen der „Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ (EPZ) legte (Middlemas 1995: 69; Smith 2002: 86).

Der Gipfel von Den Haag im Dezember 1969 hatte mit seinen Initiativen und Prüfaufträgen eine der wichtigsten Aufgaben solcher Treffen, die in Zukunft noch bedeutsamer werden sollten, erfüllt – die „Deblockierung der Gemeinschaftspolitik“ (Wessels 1980: 56). Die Staats- und Regierungschefs beanspruchten seit dem Gipfel von Den Haag eine Art von

„Richtlinienkompetenz“ für sich und gaben der Gemeinschaft den Kurs vor (Brunn 2002:

183). Dies sollte, wie noch zu zeigen sein wird, die verfassungspolitische Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft auf Jahre hinaus beeinflussen.

Trotz der sehr weit reichenden politischen und wirtschaftlichen Projekte, die in Den Haag angestoßen wurden, vermieden es die Staats- und Regierungschefs, die institutionellen Fragen und die Möglichkeit von Vertragsänderungen zu diskutieren (Smith 2002: 86). Der Gipfel schuf jedoch eine ganz besondere Atmosphäre, die als „Geist von Den Haag“ in die europäi-sche Geschichte eingehen sollte. Dem Gipfel gelang es, eine Reihe von bislang ungelösten Problemen „schneller, vertrauensvoller und direkter“ anzupacken (Wessels 1980: 57-58;

Dinan 1999: 61-64). Die Konferenz gab der Gemeinschaft andererseits jedoch, gerade weil man alle institutionellen Fragen ausgeklammert hatte, keinen „langfristigen festgelegten Ori-entierungsrahmen“ (Wessels 1980: 58). So starteten die europäischen Regierungen dann im August 1971 einen neuen Anlauf, der in die Gipfelkonferenz von Paris im Oktober 1972 mündete. Hier wurde nachgeholt, was beim letzten Europäischen Gipfel ausgeblendet wurde:

Es wurde beschlossen, die Gemeinschaft bis Ende 1979 in Richtung einer „Europäischen Union“ weiterzuentwickeln und die Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen bis spä-testens zum 31. Dezember 1980 zu vollenden. Wie dieser Plan institutionell aber abgesichert werden könne, haben die Staats- und Regierungschef nicht festgeschrieben, dies sollten die europäischen Organe selber festlegen (Wessels 1980: 64). Auf Initiative der britischen, iri-schen und italieniiri-schen Regierungen wurde auch ein Regionalfonds geschaffen, der bis zum Ende des Jahres 1973 eingerichtet werden sollte.

Nach dem Scheitern der Fouchet-Verhandlungen hatten die Staats- und Regierungschefs in Paris damit wieder einmal die politische Initiative ergriffen und den Auftrag vergeben, ein Leitbild zu entwickeln. Sie hatten sich als „vornehmstes Ziel“ vorgenommen, „die Gesamtheit der Beziehungen der Mitgliedstaaten in absoluter Einhaltung der bereits geschlossenen Ver-träge vor dem Ende dieses Jahrzehnts in eine Europäische Union umzuwandeln“ (zitiert nach Wessels 1980: 64). Parallel dazu wurden die Organe der Gemeinschaft aufgefordert, vor Ende

1975 jeweils einen Bericht zu erarbeiten, der einer Gipfelkonferenz vorgelegt werden sollte.

Dabei wurde seit dem Pariser Gipfel die „Europäische Union“ als „Codewort für einen Zu-stand der Gemeinschaft verwendet, der sich vom Status quo unterscheidet“ und das „Prozeß-hafte von Integration“ betont, ohne „das Entwicklungsgziel allerdings eindeutig zu beschrei-ben“ (Hrbek 1987: 29; vgl. dazu auch Schneider 1977a). Auch dieses Vorgehen ist typisch für verschiedene Phasen des Einigungsprozesses: Bestimmte Begriffe und Konzepte wie die

„Europäische Union“ entwickeln sich zu beliebten Leitbildern, die als Referenzbegriffe für die Zukunftsdebatte dienen. Erfolgreich etablieren können sich diese Leitbilder aber meist nur dann, wenn sie sich durch eine inhaltliche Offenheit und Mehrdeutigkeit auszeichnen und eben keine eindeutige „Finalität“ anzeigen (Schneider 1992).

Aber auch beim Pariser Gipfel im Oktober 1972 gab es keine Vorschläge, eine Vertragsände-rung förmlich einzuleiten, angesichts der immer noch vorhandenen Differenzen im Kreis der Mitgliedstaaten war dies keine allzu große Überraschung (Smith 2002: 86). Eine andere Ent-wicklung zeichnete sich mit dem Gipfel von Paris jedoch schon ab, ehe sie dann im Jahr 1975 durch die formelle Institutionalisierung des Europäischen Rates erfolgte – die europäischen Gipfeltreffen wurden zu einer politisch herausragenden „semi-formal institution“ (Smith 2002: 86); einer der Gründe für den Aufstieg und die Selbstautorisierung des Gipfelformates waren externe Krisen. Eine Reihe von internationalen Ereignissen und ökonomischen Ver-werfungen verzögerten die Umsetzung der ambitionierten europapolitischen Ziele, die die Gemeinschaft sich gesetzt hatte. Dazu gehörten der Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre, die Währungsturbulenzen der italienischen Lira im Januar 1973, die schwierigen Beziehungen der Gemeinschaft zu den USA, welche durch den Vor-schlag einer „Neuen Atlantischen Charta“ des US-amerikanischen Außenministers Kissinger in den Mittelpunkt rückten, der neue Bilateralismus der Supermächte, ökonomische Probleme in Europa, die Ölpreiskrise, die die Rezession noch verschärfte, und vor allem das Unver-mögen der Europäer, abgestimmt und „europäisch“ auf diese Herausforderungen zu reagieren, führten die Gemeinschaft in eine wahre „Existenzkrise“ (Wessels 1980: 70; vgl. dazu auch Middlemas 1995: 81 und Smith 2002: 86-87).

In solchen turbulenten Zeiten musste die Gemeinschaft ihre erste Erweiterung um die Staaten Großbritannien, Irland und Dänemark verdauen. Auch diese Herausforderung schmälerte einerseits die Chancen der Einberufung einer Regierungskonferenz, sie erhöhte andererseits

die Dringlichkeit, der Gemeinschaft eine Form von „consistent leadership“ (Urwin 1991: 181) zu geben. Und wieder war es der französische Staatspräsident, der deshalb die Initiative er-griffen hat. In einem Brief vom 31.10.1973 an seine Kollegen regte Georges Pompidou an,

„nach genau festgelegten Regeln regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs allein abzuhalten, deren Zweck die Konfrontierung und Harmonisierung ihrer Haltungen im Rah-men der politischen ZusamRah-menarbeit wäre“ (zitiert nach Wessels 1980: 71). Die „kleineren“

Mitgliedstaaten kritisierten diese Vorschläge, da sie bei einer Institutionalisierung solcher

„Kamintreffen ohne Außenminister und ohne Kommission sowie ohne feste Tagesordnung und ohne Kommuniqué“ (Wessels 1980: 72) einen Bedeutungsverlust der Gemeinschafts-institutionen befürchteten (Smith 2002: 88). Der chaotische Ablauf des Kopenhagener Gipfels im Dezember 1973 schien ihre Befürchtungen zu bestätigen. Gleichwohl konnte dieser Gipfel mit der Erklärung zur „Europäischen Identität“ ein wichtiges Dokument verabschieden, wel-ches das politische Selbstverständnis der Gemeinschaft beschrieb und vor allem die Reform-Debatte der nachfolgenden Jahre prägen sollte.99

Insgesamt gelten die drei Gipfelkonferenzen nach 1969 jedoch als Beispiele für den Mangel an Effizienz und Effektivität europäischer Politik:

„Wesentliches Merkmal dieses Ansatzes war der Versuch der Regierungs-chefs, mit einer breitgefächerten, langfristig angelegten Programmatik die Europapolitik auf verschiedenen Sektoren voranzutreiben, ohne gleichzeitig die institutionellen Voraussetzungen zu vereinbaren oder sich selbst als Gre-mium im Alltagsgeschäft europäischer Politik zu engagieren“ (Wessels 1980: 79).

Einen wesentlichen Fortschritt zur Institutionalisierung des Europäischen Rates brachte dann der Gipfel in Paris im September 1974. Der neue französische Staatspräsident Giscard d’Estaing hatte ein Konzept für regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs vorge-legt, mit dem sich auch die zunächst skeptischen kleineren Staaten anfreunden konnten.

Giscard d’Estaing sah eine wesentlich Funktion dieser Treffen darin, im „lauten Nachdenken darüber, wie man die gemeinschaftliche Maschinerie am besten in Gang“ halten könne (zitiert nach Wessels 1980: 111). Im Dezember 1974 trafen sich die Staats- und Regierungschefs er-neut in Paris und beschlossen die enge Koordinierung der Zusammenarbeit und die

99 Die Erklärung über die „europäische Identität“ ist abgedruckt in Siegler (1977: 7-10).

rung des Europäischen Rates. Sie gaben in Paris zugleich das „Startzeichen zu einer ausgie-bigen und intensiven Debatte über die Gestalt und die inhaltlichen Merkmale der künftigen Europäischen Union“ (Schneider 1977a: 23; vgl. auch Smith 2002: 88). Der belgische Premierminister Leo Tindemans wurde von seinen Kollegen beauftragt, vor Ende 1975 einen

„zusammenfassenden Bericht vorzulegen“, in den die Berichte der Gemeinschaftsorgane und deren Vorschläge sowie die Ergebnisse der „Konsultationen, die er mit den Regierungen und den repräsentativen Kreisen der öffentlichen Meinung in der Gemeinschaft führen wird“, einfließen sollten (zitiert nach Schneider 1977a: 22). Dieses Verfahren, die Organe und (in-direkt) auch die Positionen der Mitgliedstaaten und ihrer Öffentlichkeiten, zu sammeln, wur-de, wie später zu zeigen sein wird, im Vorfeld der Regierungskonferenz 1996/97 wieder auf-gegriffen.

Die Europäische Kommission, das Parlament, der Gerichtshof und auch der Wirtschafts- und Sozialausschuss waren der Aufforderung der Staats- und Regierungschefs gefolgt und hatten jeweils eigene Berichte vorgelegt. Sogar der Politische Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates hatte eine Stellungnahme eingebracht („Leynen-Bericht“), dazu kamen eine ganze Reihe von Studienberichten und Stellungnahmen von europapolitisch engagierten Gruppen und wissenschaftlichen Einrichtungen, von denen u.a. der auf Anregung

Die Europäische Kommission, das Parlament, der Gerichtshof und auch der Wirtschafts- und Sozialausschuss waren der Aufforderung der Staats- und Regierungschefs gefolgt und hatten jeweils eigene Berichte vorgelegt. Sogar der Politische Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates hatte eine Stellungnahme eingebracht („Leynen-Bericht“), dazu kamen eine ganze Reihe von Studienberichten und Stellungnahmen von europapolitisch engagierten Gruppen und wissenschaftlichen Einrichtungen, von denen u.a. der auf Anregung