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Institutionalisierung und institutioneller Wandel auf europäischer Ebene

Nach Stone Sweet und Sandholtz (1998) lassen sich drei Dimensionen von „Institutiona-lisierung“ unterscheiden. Die strukturellen Veränderungen, die sich über die Zeit bei der Ge-meinschaft beobachten lassen, können, wie im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, beschrieben

werden als Übergang von einer intergouvernementalen hin zu einer stärker supranationalen Ordnung. Folgende Elemente bestimmen dabei den Prozess der Institutionalisierung: (1) die von der Gemeinschaft beschlossenen Regeln, welche das Verhalten und die Interaktion der Akteure auf europäischer Ebene beeinflussen und das Maß an mitgliedstaatlicher Autonomie in einzelnen Politikfeldern bestimmen; (2) die Gemeinschaftsorgane, die auf europäischer Ebene diese Regeln schaffen, ausführen und – wie etwa der EuGH – interpretieren; und (3) die Herausbildung einer transnationalen Gesellschaft, also alle nicht-regierungsamtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Akteure, die einen grenzüberschreitenden Austausch miteinander pflegen und dadurch direkt oder indirekt den politischen Entschei-dungsprozess und die Politik der Gemeinschaft beeinflussen (Stone Sweet/Sandholtz 1998:

9). Diese Kategorien zur Messung von Institutionalisierung – zumindest die ersten beiden – erinnern an Kategorien, die Lindberg und Scheingold bereits vor langer Zeit eingeführt haben:

Die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler haben „Integration“ schon in den 1970er Jahren beschrieben als Wachstum von „functional scope“ und „institutional capacities“ (Lind-berg/Scheingold 1970: 64-100).

Ähnlich argumentieren auch Autoren, die Integration als eine spezifische Form der Institutio-nalisierung interpretieren. Johan Olsen (2000: 4) versteht „Integration“ als Maß für die insti-tutionelle Dichte, die Intensität und Art der Beziehungen unter den Elementen, die ein System erst zu einem System machen, die also konstitutiv sind für dieses System: „Integration may refer to causal interdependence among the parts, consistency – the degree of coherence and coordination among the parts, and structural connectedness – a sociometric or network vision of integration“ (Olsen 2000: 4; March 1999).33 Bezieht man „Institutionalisierung“ auf die eu-ropäische Integration, so lassen sich nach Olsen folgende Dimensionen unterscheiden:

„(1) structuration and routinisation – the development of impersonal rules, roles, and repertoires of standard operating procedures, as well as switching rules between pre-structured responses (...). Institutionalisation, then, im-plies routinising some kinds of change as well as routinising resistance to others;

(2) standardisation, homogenisation and authorisation of codes of meaning, ways of reasoning and accounts (...). Practices and procedures become valued beyond their technical-functional properties (...).

33 Hervorhebungen im Original.

(3) binding resources to values and worldviews (...), i.e. staffs, budgets, buildings and equipment, providing a capability to act and to enforce rules in cases of non-compliance“ (Olsen 2000: 4-5).

Der Grad an Institutionalisierung und Integration steigt also, wenn die Teile, die die Ge-meinschaft bilden, zu folgenden Handlungen in der Lage sind: Sie koordinieren ihre Politik auf der Basis ihres Selbstinteresses oder auf der Grundlage spezifischer Normen (z.B. Verbot der Diskriminierung); sie bauen Schranken, die eine Interaktion und den Austausch behin-dern, ab und entwickeln gemeinsame Regeln und Standards, sowie Rechte und Pflichten; sie setzen supranationale Institutionen und ein System für Routineentscheidungen ein; sie bauen gemeinsame Verwaltungs- und Militäreinrichtungen auf, mit eigenen Stäben, mit finanzieller Ausstattung und Einheiten für die Analyse, Planung und Entscheidungsfindung; sie übertra-gen supranationalen Institutionen, wie etwa der Kommission, das Recht, in bestimmten Be-reichen (z.B. Wettbewerbsrecht) autonom und im Namen der Gemeinschaft zu handeln; und sie konstituieren einen gemeinsamen öffentlichen Raum, eine Bürgergesellschaft und Institu-tionen zur Erziehung und Sozialisierung von Individuen zu Bürgern, die eine gemeinsame politische Identität und Kultur teilen (vgl. Olsen 2000: 5). Wichtig ist zu betonen, dass Inte-gration und Institutionalisierung nicht zwingend als zwei parallele und sich wechselseitig verstärkende Prozesse betrachtet werden müssen. Ein bestimmter Grad an Integration muss nicht notwendigerweise mit einem ähnlichen Maß an supranationaler Institutionalisierung einhergehen: „establishing formal institutions for a common European security and defense policy without adequate resources may provide less integration than an informal coordination of national defense capabilities“ (Olsen 2000: 5).

Für unseren Zusammenhang besonders relevant ist die Frage nach der Dynamik und nach dem Wandel von Institutionen. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft ist gekenn-zeichnet durch eine Reihe von symbolischen Gründungsakten und durch ein bewusstes „insti-tution-building“, aber ebenso durch eine informelle und graduelle Evolution (Olsen 2000: 12).

Der Prozess ist zu verstehen als schrittweise Entwicklung (mit manchen politischen Rück-schlägen), was in den einzelnen Politikbereichen zu ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Stufen der „differenzierten“ Integration und Institutionalisierung geführt hat (Fligstein/

McNichol 1998; Wallace/Wallace 2000).

Im Folgenden sollen nun verschiedene Ansätze und Variablen zur Erklärung institutionellen Wandels vorgestellt und ihr Nutzen für die eigene Untersuchung diskutiert werden.34 Mit diesem Vergleich will ich am Ende zeigen, weshalb zur Beantwortung meiner Fragestellung eine institutionalistische Perspektive, welche um die Bedeutung von „Pfadabhängigkeiten“

weiß, die theoretisch plausibelste Variante ist. Es geht bei den unten vorzustellenden Ansät-zen um die Frage, wer oder was die Triebkräfte („driving forces“) des Wandels von Institutio-nen sind. In dem eiInstitutio-nen Fall sind es primär externe Faktoren und Strukturen, in dem anderen sind es Akteure, die fähig und willens sind, den institutionellen Status quo zu ändern. Auch hier geht es also wieder um das „Akteur-Struktur-Problem“, von dem weiter oben schon die Rede war.

Institutioneller Wandel als Reaktion auf Umwelteinflüsse

Institutionelle Veränderungen werden im ersten Modell zurückgeführt auf einen Wandel der normativen oder funktionalen Erwartungen, die in bestimmte Institutionen gesetzt wurden.

Die Vorstellung ist, dass in einer Art evolutionärem Prozess im Sinne des „survival of the fittest“ nur diejenigen Institutionen „überleben“, die sich einer veränderten Umwelt anpassen können: „In cases where processes of diffusion and rational adaptation do not secure good

‚matches‘, a process of competitive selection governs which institutional forms evolve, flourish, decay or disappear“ (Olsen 2000: 12). Diese Perspektive spielt in der Selbstwahrneh-mung und Selbstlegitimation politischer Institutionen wie auch in der wissenschaftlichen De-batte eine große Rolle. Tatsächliche oder zumindest als solche wahrgenommene externe Schocks und „reality checks“ (Olsen 2003: 54), wie etwa die Unterlegenheit im internationa-len Wettbewerb, die technologische und ökonomische Konkurrenz mit den USA oder Japan in den 1980er Jahren oder auch die „Globalisierung“ seit den 1990er Jahren dienten als Argu-ment und Legitimation für „mehr Europa“. Aber auch neue sicherheitspolitische und strategi-sche Herausforderungen, die sich der Gemeinschaft mit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 und in den Folgejahren gestellt haben, konnten als Argumentationshilfe genutzt werden, um neue Initiativen der Vertiefung zu legitimieren. Wie stark solche Einflüsse aus der – systemtheoretisch gesprochen – „Umwelt“ bestimmte institutionelle Reformen auslösen, lässt sich schwer messen, zumal sich aus den externen Herausforderungen keine objektiv

„richtigen“ institutionellen Lösungen ableiten lassen. Die Art und Weise, wie am Ende

34 Vgl. u.a. Hrbek/Schneider (1980), March/Olsen (1989, 1995, 1998), Olsen (2000: 12-16, 2003) und Voigt (1999).

konkret auf neue Situationen reagiert wird, hängt sehr stark ab von der jeweiligen Situations-deutung der Regierungen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane (Olsen 2003: 49;

Schneider 1992). Wenn häufig auch Einigkeit darüber besteht, dass auf bestimmte „Heraus-forderungen“ reagiert werden müsse, hängen die konkreten Maßnahmen, die aus der Diagnose abgeleitet werden, ab vom Ergebnis der politischen Auseinandersetzungen und dem „Frau-ming“ der Herausforderung. Im Laufe solcher Deutungs- und Verhandlungsprozesse sind Annäherungen und gemeinsame Lernprozesse möglich: „In the EU the struggle over future forms of governance and organization is to a great extent a struggle over competing cognitive frames“ (Olsen 2003: 54; vgl. auch Kohler-Koch 2000). Aus der Überzeugung, die Europäi-sche Gemeinschaft müsse ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken, können ganz unterschiedliche Schlüsse gezogen und unterschiedliche institutionelle Lösungen vorgeschla-gen werden (Olsen 2000: 13). In diesem Modell geht es also vor allem, die externen Heraus-forderungen und „Schocks“ zu identifizieren und dann im zweiten Schritt zu prüfen, welche Akteure wie mit diesen externen Schocks umgehen und wie sie diese bewerten – der wich-tigste Anstoß für den institutionellen Wandel kommt also von außerhalb des Systems. Im nachfolgenden Konzept stehen im Mittelpunkt soziale Akteure, sie sind der Ausgangspunkt für die Analyse des institutionellen Wandels.

Institutioneller Wandel als Ergebnis strategischen Akteurshandelns

Nach diesem Modell spiegeln institutionelle Veränderungen gemäß dem Rational-Choice-Ansatz den Willen, das Kalkül und die relative Macht von rationalen und ihren jeweiligen Kosten-Nutzen-Überlegungen folgenden Akteuren (Olsen 2000: 13). Ansätze und Theorien, die dem Rational Choice-Paradigma verpflichtet sind, gehen dabei von folgenden drei Grund-annahmen aus:

(1) Kollektives Handeln und soziale Ordnung lassen sich durch das Verhalten und die Eigenschaften einzelner Akteure erklären („methodologischer Individualismus“);

(2) Choice, im Sinne einer rationalen Wahlhandlung eines einzelnen Akteurs, ist nicht nur möglich, sondern bestimmend für das individuelle Handeln und

(3) Akteure treffen ihre Wahl anhand von Bedürfnissen und Interessen auf der Grundlage einer stabilen Präferenzordnung (Braun 1994: 399).35

35 Vgl. dazu u.a. Druwe/Kunz (1994), Elster (1989) und Ward (2002).

Diese Perspektive wird von den beiden großen integrationstheoretischen „Schulen“ geteilt:

Sowohl der liberale Intergouvernementalismus nach Andrew Moravcsik (1993; 1998), als auch der Supranationalismus sehen in den Akteuren die entscheidenden Kräfte für institutio-nellen Wandel (vgl. dazu Sandholtz/Stone Sweet 1998), freilich mit einem entscheidenden Unterschied: „Different scholars favour different collective actors, yet, the main focus is on human intention and power“ (Olsen 2000: 13) – in dem einen Fall sind es die Exekutiven der Mitgliedstaaten und im anderen supranationale Akteure und Organe wie die Kommission oder der Europäische Gerichtshof.

Im Rational-Choice-Modell entscheidet das Verhalten egoistisch-rationaler Akteure über Form und Funktion von Institutionen; Institutionen sind laut diesem Modell also in erster Linie Instrumente strategischen Handelns (Olsen 2000: 13; Olsen 2003). Für institutionellen Wandel in Nationalstaaten mag dieser Ansatz auf den ersten Blick plausibel erscheinen, überträgt man ihn jedoch auf die Europäische Gemeinschaft, so ergibt sich ein analytisches Problem, weil die Schaffung neuer Institutionen oder eine einschneidende Reform der beste-henden politischen Ordnung schwerlich dem strategischen Handeln eines einzelnen Akteurs zugeschrieben werden können: „There is no single sovereign centre with the authority and power to change fundamentally the political order while many factors other than reformers‘

choice influence change“ (Olsen 2003: 57). Der europäische Integrationsprozess zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er von Anfang an ohne ein klares Ziel („Finalität“), das von allen be-teiligten Akteuren gleichermaßen geteilt worden wäre, auskommen musste. Die am Anfang des EU-Vertrags platzierte Formel von der „immer engeren Union der Völker Europas“ (Arti-kel A in der Fassung des Maastrichter Vertrags) lässt im Prinzip sowohl ein föderales als auch ein intergouvernementales Ziel des Einigungsprozesses zu; der Begriff der „Union“ ist bewusst offen und ambivalent gehalten (Hrbek/Schneider 1980; Schneider 1977; 2001b;

2001c; 2003).

Wenn institutioneller Wandel nach diesem Modell als das Ergebnis des strategischen Akteurs-handelns betrachtet wird, dann wäre es die Aufgabe einer tiefer gehenden empirischen Analy-se, die Rolle einzelner Akteure im Reformprozess zu klären. Den jeweiligen „Leitbildern“

(Schneider 1992) und „Verfassungsideen“ (Jachtenfuchs 2002), die unterschiedliche Akteure einbringen, käme in diesem Modell eine strategische und ihr Handeln legitimierende Funktion

zu. Ganz andere Akzente bei der Erklärung des institutionellen Wandels setzt das Konzept der

„Pfadabhängigkeit“.

Institutioneller Wandel in den Spuren der „Pfadabhängigkeit“

Dieses Erklärungsmodell steht nicht im Widerspruch zu den beiden oben genannten Model-len, es geht aber im Unterschied zu diesen davon aus, dass Institutionen nicht nahe liegende Instrumente in den Händen rational kalkulierender Akteure sind; neoinstitutionalistische Er-klärungsansätze, zu denen das Pfadabhängigkeits-Modell gehört, unterstellen Institutionen im Sinne der „Institutions matter“-These ein von ihren „Schöpfern“ unabhängiges Eigenleben:

„The match between environments, reforms and institutional structure and performance is not automatic, continuous and precise. An institutional ac-count portrays institutions as having lives and deaths of their own, some-times enduring in the face of apparent inconsistencies with their environ-ments, sometimes collapsing without obvious external cause“ (Olsen 2000:

14).

Die Wahrscheinlichkeit des institutionellen Wandels hängt im Modell des historischen Institu-tionalismus von den Entstehungsbedingungen ab, die zur Zeit der Gründung der jeweiligen Institutionen galten. Die Ausgangsbedingungen bestimmen den „Pfad“, auf dem sich der spä-tere institutionelle Wandel bewegt, sehr viel stärker als das Kalkül und Inspä-teresse strategischer Akteure an einer Reform. Daraus wird die These abgeleitet, dass institutioneller Wandel in der Regel nur in einem Korridor, der durch den Pfad begrenzt wird, möglich ist. Breit ange-legte Strukturreformen gelten als große Ausnahme und sind nur in der Folge von historischen Großereignissen („critical juncture“) wie Kriegen oder Revolutionen zu erwarten (vgl. Olsen 2000; Thelen 2003). Ein zweiter und für unseren Untersuchungsgegenstand ebenfalls wichti-ger Aspekt des neoinstitutionalistischen Paradigmas ergibt sich aus der These, dass die Prä-ferenzen und Interessen politischer Akteure vom institutionellen Umfeld, in dem sie sich bewegen, geprägt sind (March/Olsen 1984; 1989; 1995). Das bedeutet, dass sich Akteure nicht im luftleeren Raum bewegen und unabhängig von ihrer Umwelt ihre Interessen definie-ren, sondern dass die institutionellen Routinen und Praktiken Einfluss darauf haben, welche Reformen und welche Art des Wandels aus Sicht der Akteure vorstellbar sind und plausibel erscheinen.

Es wird immer wieder der Vorwurf erhoben, die Vertreter des institutionalistischen Paradig-mas würden sich zu sehr auf die Stabilität und die „Pfadabhängigkeit“36 einmal getroffener institutioneller Lösungen konzentrieren, der Wandel von Institutionen würde dabei aus dem Blick geraten (vgl. Gorges 2001; Peters 1999; 2000). Dieser Vorwurf trifft aber nur zum Teil zu. Er trifft jene Autoren nicht, die die Europäische Union und ihre besondere institutionelle Struktur gerade zum Anlass nehmen, zentrale Prämissen des Institutionalismus zu testen:

„From an institutional perspective properties of this order – characteristics of the basic units as well as their relations – are assumed to have an impact on institutional dynamics“ (Olsen 2000: 15). Schon Max Weber (1985) hatte gezeigt, dass institutionelle Ordnungen nie perfekt integriert sind, sondern dass sie ständigen Spannungen und Kollisionen ausgesetzt sind – dies gilt auch und gerade für die Europäische Gemeinschaft: „(...) in a multi-level, multi-structure and multi-centre polity with partly autonomous sub-systems, a key to understanding institu-tional dynamics may be to study how institutions relate, balance, collide and penetrate each other“ (Olsen 2000: 16). In einem politischen System wie der EU, in der die Frage nach ihrer Legitimität immer wieder aufgeworfen wird und dies eine offene Frage ist, kann sich aus der Reflexion und des Nachdenkens, wie das sprichwörtliche Demokratiedefizit der EU behoben werden kann, ein unerwarteter und weitreichender institutioneller Wandel ergeben (Olsen 2000: 17; Höreth 1999). Ob und inwiefern sich tatsächlich ein Wandel daraus ergibt, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie die Akteure die jeweilige Situation definieren (March/Ol-sen 1998: 959; Schneider 1992).

Die in der Geschichte der europäischen Integration in regelmäßigen Abständen stattfindenden Reformprozesse und die im Rahmen von Regierungskonferenzen vorgenommenen Ver-tragsänderungen waren intendierte Phasen einer solchen Reflexion. Sie formulierten dabei teilweise ganz unterschiedliche Bedarfe und Nachfragen an Reform und oft kamen immer wieder alte und ungelöste Fragen als „Überbleibsel“ von vorhergehenden Reformprozessen auf die neue Tagesordnung. Im folgenden Kapitel will ich Regierungskonferenzen als

36 Das Konzept der „Pfadabhängigkeit“ (path dependency) stammt aus der Ökonomie und diente dazu, technischen Wandel bzw. den Mangel an Reformen zu erklären: Als anschauliches Beispiel für die Be-ständigkeit einmal getroffener Entscheidungen wird in der Regel die Tastenfolge QWERTY auf ameri-kanischen Schreibmaschinen angeführt, die, einmal so eingeführt, bis auf den heutigen Tag beibehalten wird, obwohl technische und ergonomische Argumente gegen diese Anordnung sprechen (Arthur 1989).

Später wurde der Begriff von Douglass North auf politisch-gesellschaftliche Bereiche übertragen (North 1990), und hat seither in den Sozialwissenschaften, vor allem in der Transformationsforschung und da-rüber hinaus, eine wachsende Zahl von Anhängern gefunden (vgl. dazu u.a. Pierson 1998, 2000 und Thelen 1999, 2003).

dere Form der Entscheidungsfindung beschreiben und unterschiedliche Ansätze zur Erklärung diskutieren. Dabei sollen auch die typischen Merkmale von Regierungskonferenzen, ihre Routinen, ihre Verfahren und die unterschiedlich lange Halbwertszeit der Ergebnisse ihrer Ar-beit herausgearAr-beitet werden.

2 Verschiedene Ansätze zur Analyse von Regierungskonferenzen

Mit diesem Kapitel verfolge ich zwei Ziele: Zum einen soll der folgende Abschnitt einen Überblick über die verschiedenen Theorien, Konzepte und Modelle zur Analyse und Erklä-rung von RegieErklä-rungskonferenzen und europäischen Reformprozessen liefern; sodann sollen in einem zweiten Schritt die Funktionen und Besonderheiten von Regierungskonferenzen he-rausgearbeitet werden, um deutlich zu machen, weshalb ich Regierungskonferenzen in der Einleitung als „Meta-Institution“ definiert habe, also als Institution, die dazu dient und dafür legitimiert ist, die institutionelle Struktur der Europäischen Gemeinschaft durch Vertragsän-derungen an neue Umstände anzupassen (vgl. Christiansen u.a. 2002: 12). Im darauffolgenden dritten Kapitel werden Organisation, Verlauf und Ergebnisse der einzelnen Regierungskonfe-renzen ausführlich dargestellt und analysiert. Die historisch beschreibende Analyse beginnt mit den Verhandlungen in den 1950er Jahren, die die Grundlagen der Europäischen Gemein-schaft gelegt haben und sie geht über zu den Reformversuchen in den Jahrzehnten danach bis hin zur Regierungskonferenz von Maastricht 1991/92. Erst durch diesen breiten historischen Spannungsbogen wird deutlich werden, wie im Laufe eines längeren, Jahrzehnte dauernden Prozesses die „Konstitutionalisierung“ der Europäischen Gemeinschaft schrittweise erfolgt ist. Erst vor dem Hintergrund einer systematisch vergleichenden Perspektive kann die Verfas-sungswerdung in ihrer Tiefendimension erfasst werden (vgl. Peters 2001; Weiler 1999;

Wessels 2003).

Regierungskonferenzen waren anfangs außergewöhnliche Veranstaltungen, die dann aber seit Mitte der 1980er Jahre in immer kürzeren Abständen stattfanden und dadurch den Charakter des Normalen bekommen haben. Man kann Regierungskonferenzen beschreiben und defi-nieren als multilaterale Organisation der Reflexion und der diplomatischen Verhandlungen, deren Ziel es ist, die Funktions- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft durch Reformen zu erhalten bzw. diese wiederherzustellen. Das Mittel der Wahl ist eine um-fassende oder punktuelle Änderung des Primärrechts, also der vertraglichen Grundlage der Europäischen Gemeinschaft (vgl. Dinan 1999: 291; Stubb 2002: 16-17).37 Um die

37 Die für den Multilateralismus typischen Eigenschaften wie die „Wiederholung des Spiels“, der

„Schatten der Zukunft“ (Kenneth Oye), die Reduktion von Transaktionskosten, etablierte Verfahren, eine auf Diskussion und Überzeugung ausgerichtete Politik, gemeinsame Normen, Versprechen und Gruppenidentität sowie ein institutionelles System, auf die die Akteure zurückgreifen können, gelten in

heiten solcher Vertragsänderungsprozessen herausarbeiten zu können, greife ich auf zwei Typologien zurück, die von John Peterson und Elizabeth Bomberg (1999) bzw. von Joseph Weiler (1999; 1997) entwickelt wurden.