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Der Fouchet-Plan: De Gaulles Versuch, ein intergouvernementales Europa zu errichten

3 Regierungskonferenzen von den Anfängen der europäischen

3.4 Der Fouchet-Plan: De Gaulles Versuch, ein intergouvernementales Europa zu errichten

Als der französische Präsident Charles de Gaulle Anfang Juni 1958 ins Amt gekommen war, sollte dies nicht nur für Frankreich, sondern auch für die europäische Integration weitrei-chende Konsequenzen haben. Im Unterschied zu vielen anderen Staats- und Regierungschefs hatte de Gaulle eine sehr klare Vorstellung von der künftigen Zusammenarbeit mit den euro-päischen Partnern und er hatte vor allem eine Idee von der Rolle Frankreichs in Europa und in der Welt („une certain idée de la France“): „Es gab für ihn nur ein Europa der Staaten, aber kein Europa über den Staaten“ (Brunn 2002: 138; ausführlich dazu Gordon 1993). Auf einer Pressekonferenz Ende Mai 1960 machte de Gaulle seine Vorstellungen eines „Europas der Vaterländer“, in dem die Staaten in politischen, ökonomischen, kulturellen und auch sicher-heitspolitischen Fragen zusammenarbeiten sollten (Jung 1999). Dies war der inoffizielle Start-schuss für eine neue „konstitutionelle“ Regierungskonferenz, die acht Monate später ihre Arbeit aufnehmen sollte. Die Fouchet-Verhandlungen lassen sich als „verfassungsmäßige“

Regierungskonferenz im Sinne der oben eingeführten Definition bezeichnen. Die Gründe dafür will ich kurz erläutern: Erstens, weil die Regierung in Paris mit den Verhandlungen das Ziel verfolgte, einen neuen Vertrag zu schließen – auch wenn diese Idee auf Widerstand der belgischen und vor allem der niederländischen Regierung traf (Gerbet 1987: 109-112).

Zweitens verfolgte de Gaulle das Ziel, einen neuen verfassungsmäßigen Rahmen zu schaffen für die künftige politische Zusammenarbeit und schließlich wurden drittens konkrete institu-tionelle Lösungsvorschläge im Rahmen der Verhandlungen diskutiert (Smith 2002: 67).

Manche, zu Recht sehr gelobten politikwissenschaftlichen Gesamtdarstellungen der Europäi-schen Gemeinschaft verzichten überraEuropäi-schenderweise auf eine systematische Darstellung der Fouchet-Verhandlungen (vgl. z.B. Nugent 2003) oder streifen sie nur am Rande (vgl. Dinan 1999), obwohl sich hier bereits – wie noch zu zeigen sein wird – typische Konfliktlinien ge-zeigt und Verhandlungsmuster sowie „Pfadabhängigkeiten“ herausgebildet haben, die auch bei nachfolgenden Vertragsverhandlungen wieder beobachtet werden konnten.

Sechs Jahre nach dem Scheitern des EVG-Vertrags und drei Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge war es wieder Frankreich, das einen neuen Anlauf zur Reform der Gemeinschaft unternahm. Und wieder war es eine Kombination aus internen und externen Einflüssen, die den Anlass boten für entsprechende Reformvorschläge. Die internationale

Lage war in den Jahren 1958 bis 1961 geprägt von den wachsenden Spannungen zwischen den Supermächten und der – so de Gaulles Sicht der Lage – mangelnden Verlässlichkeit der Regierung in Washington (Gerbet 1987: 105). Nachdem ein Vorstoß des französischen Präsi-denten zur „Errichtung eines Triumvirats, eines Direktoriums für die westliche Welt“ (Brunn 2002: 139), zusammen mit Großbritannien und den USA, im Sommer 1959 von den Amerika-nern zurückgewiesen worden war, sah Frankreich in der verstärkten Kooperation der westeu-ropäischen Staaten die einzige Chance, sich gegenüber Bedrohungen der Sowjetunion zu be-haupten. Zu den Zielen, die de Gaulles mit seiner Politik erreichen wollte, gehörten zum einen die Stabilisierung der französischen Wirtschaft und zum anderen die Absicht, die nächste Stufe der Verwirklichung des Binnenmarkts zu erklimmen. Am 5. September 1960 stellte de Gaulle den zwischen den Pariser Ministerien abgestimmten Entwurf für einen Umbau der Ge-meinschaft der Öffentlichkeit vor. Auf der Pressekonferenz beschrieb der französische Staats-chef die „Gewährleistung der regelmäßigen Zusammenarbeit der europäischen Staaten [als]

wünschenswert, möglich und praktisch“; er verknüpfte diesen Vorschlag mit einem unwöhnlich scharfen Angriff auf die Institutionen der EWG: „Gewiß trifft es zu, dass (...) ge-wisse mehr oder weniger supranationale Einrichtungen geschaffen werden konnten. Diese Einrichtungen haben ihren technischen Wert, aber sie haben und können keine Autorität und politische Wirksamkeit besitzen“ (zitiert nach Brunn 2002: 140). Ein „Konzert der europäi-schen Regierungen“ sollte nach Ansicht de Gaulles die anstehenden Probleme lösen und nicht die Gemeinschaftsorgane. Damit distanzierte er sich klar und deutlich von den Vorstellungen der anderen EWG-Staaten. De Gaulles Ziel, eine neu zu schaffende intergouvernemental ge-prägte Union den „bereits existierenden europäischen Institutionen überzustülpen“ (Brunn 2002: 140), legte die Axt an die Wurzeln der europäischen Integration und stand in deutli-chem Kontrast zu allen föderalistisch ausgerichteten Plänen eines Umbaus der Gemeinschaft.

Da der französische Präsident auch an eine engere verteidigungspolitische Kooperation zwischen den Staaten Westeuropas im Sinn hatte, war auch das transatlantische Bündnis und die Sicherheitspartnerschaft mit den USA – zumindest in Ansätzen – Frage gestellt. De Gaulles traditionelle Skepsis bzw. „Feindschaft“ (Gerbet 1987: 108) gegenüber der Gemein-schaftsmethode, wie sie in den Römischen Verträgen verankert war, sollte durch eine stärker intergouvernemental ausgerichtete Union, in der die Gemeinschaftsorgane als Ausführungs-gehilfen der mitgliedstaatlichen Regierungen tätig sind, begegnet werden. Pierre Gerbet be-schreibt de Gaulles Absicht so: „So the existing Communities must be ‚capped‘ with an

inter-state political organisation which would neutralise their supranational potential, and in which individual national sovereignties would be preserved by unanimity rule“ (Gerbet 1987: 108).

Die Dynamik des Integrationsprozesses und die bisherigen Erfolge der EWG hatten eine

„psychologische Wirkung“ (von der Groeben 1982: 124), die de Gaulle erkannt hatte und die ihn in der Überzeugung bestärkt haben, dass die im Gemeinschaftsvertrag offen gehaltene Frage nach der Finalität des Einigungsprozesses jetzt mit seinem intergouvernementalen Leit-bild beantwortet werden sollte. Da vor allem die Kommission unter Führung von Walter Hall-stein und die Benelux-Staaten den mit dem EWG-Vertrag eingeschlagenen supranationalen Ansatz auf weitere Politikbereiche ausdehnen wollten, schien es für de Gaulle höchste Zeit zu sein, diesen supranationalen Weg zu versperren.

Bei einem Treffen der sechs europäischen Staats- und Regierungschefs in Paris am 10. Februar 1961 wurden die Fäden wieder aufgenommen, die bei den EVG- und EPG-Ver-handlungen fallen gelassen wurden. Und wie damals standen die Gespräche wieder unter keinem guten Stern. Vor allem der niederländische Außenminister Luns zeigte sich skeptisch gegenüber der französischen Initiative und befürchtete, die „großen“ Staaten Frankreich, Bun-desrepublik Deutschland und Italien würden die „kleinen“ vor vollendete Tatsachen stellten (Gerbet 1987: 116; Smith 2002: 69; von der Groeben 1982: 135). Da jedoch die anderen fünf Regierungen keine Einwände gegen regelmäßige Treffen der Staats- und Regierungschefs – die ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht institutionalisiert waren – hatten, stand die Regierung aus Den Haag in dieser Frage allein. Um ein frühzeitiges Scheitern der Verhandlungen zu verhindern, einigte man sich in Paris darauf, wieder einen Ausschuss aus mitgliedstaatlichen Beamten einzusetzen, der die strittigen Fragen bis zum Gipfel im Mai klären sollte. Zum Vor-sitzenden dieses Ausschusses wurde Christian Fouchet, der damalige französische Bot-schaften in Kopenhagen, ernannt (Wessels 1980: 43; Smith 2002: 69).

Nachdem auch der im Mai 1961 in sein Amt zurückgekehrte belgische Außenminister und für sein europäisches Engagement bekannte Paul-Henri Spaak die französischen Pläne in ihren Grundzügen unterstützte, war die niederländische Regierung nun gänzlich isoliert. Auf dem folgenden Gipfeltreffen in Bad Godesberg am 18. Juli fand man schließlich eine Einigung, da alle Seiten von ihren ursprünglichen Forderungen teilweise abgerückt waren. So zog de Gaulle seinen ursprünglichen Vorschlag eines europaweiten Referendums zurück und

wider-setzte sich nicht länger der Forderung der anderen, die Verbindung zur Atlantischen Allianz ausdrücklich zu betonen. Die niederländische Regierung zog die Forderung, die Londoner Re-gierung an den Verhandlungen zu beteiligen, zurück. Die in Godesberg verabschiedete Erklä-rung erinnerte an die im EWG-Vertrag festgeschriebenen Ambitionen: „to give substance to the wish for political union already implicit in the Treaties establishing the European Communities“ (zitiert nach Gerbet 1987: 117). Zu diesem Zweck, so wurde in der „Bonner Erklärung“ vereinbart, sollten sich die Staats- und Regierungschefs regelmäßig treffen. Die Abstimmung und der Austausch in diesem Kreis sollte dabei nicht nur auf politische Fragen beschränkt bleiben, sondern auf die Zusammenarbeit der europäischen Universitäten und die Neugründung einer gemeinsamen Europäischen Universität, wie sie im Euratom-Vertrag ja schon festgeschrieben war, ausgedehnt werden.

Die in Bonn vereinbarte Formel einer intergouvernementalen Zusammenarbeit konnte einer-seits als Abkehr von den bestehenden Verträgen, die den Gemeinschaftsorganen die operative Arbeit überantwortete, gelesen werden. Da die Regelungen aber „nicht umfassend und in allen Ausprägungen eindeutig“ (Wessels 1980: 44) waren, lag in den Beschlüssen andererseits ein ganzes Paket von Nüssen, die bei den weiteren Verhandlungen noch zu knacken waren.

Hier zeigte sich bereits ein „Mikrokosmos“ (Bodenheimer 1967) der nachfolgenden Anstren-gungen um eine Reform der Verträge: „In den Fouchet-Verhandlungen sind in beispielhafter Prägnanz alle Schwierigkeiten sichtbar geworden, die seitdem das europäische Einigungsge-schäft erschwert haben“ (Jansen 1977: 38). Dazu gehörte, dass, von de Gaulle abgesehen, die anderen Regierungen keine klaren und eindeutigen Vorstellungen davon hatten, wie eine „Po-litische Union“ konkret auszusehen habe. Belgien und vor allem die Niederlande waren sich in der Ablehnung der französischen Vorstellungen eines intergouvernementalen Europas einig; den mit den Römischen Verträgen geöffneten Weg einer Supranationalisierung wollten sie stärken – ohne dass sie jedoch zum Beginn der Fouchet-Verhandlungen klare Konzepte vorlegen konnten wie eine solche Stärkung der supranationalen Ausrichtung der Gemein-schaft im Einzelnen aussehen sollte. Die italienische und die luxemburgische Regierung un-terstützten die Pläne de Gaulles. Bundeskanzler Adenauer war vor allem an einem Schulter-schluss mit Frankreich interessiert und war, weil er keinem klar umrissenen Integrations-konzept folgte, sondern die europäische Einigung „mehr pragmatisch und praktisch“ sah, be-reit, die „politisch möglichen Wege zu beschreiten, um zu einer deutsch-französischen Zu-sammenarbeit und Fortschritten in der europäischen Einigung zu kommen“ (von der Groeben

1982: 134). Diese Offenheit und der Pragmatismus, mit der die Mehrzahl der Regierungen in die Verhandlungen eintraten, ist ein Charakteristikum, das sich in späteren Regierungskon-ferenzen immer wieder zeigen sollte: „Again, it was a case of taking the plunge without having a clear set of priorities“ (Smith 2002: 70).

In dieser Situation der unklaren Präferenzen spielte die niederländische Regierung in der Folgezeit eine wichtige Rolle. Den Haag versuchte die Verhandlungen zu verzögern und ver-hinderte, in den Gipfel-Erklärungen einen Auftrag für eine nachfolgende Regierungskon-ferenz zu formulieren; die Erklärungen sollten lediglich als „short-term declaration of the in-tention zu cooperate“ (Bodenheimer 1967: 91) gelesen werden. Zwischen der Regierung in Den Haag und den Partnerstaaten gab es jedoch nicht nur Meinungsunterschiede darüber, was im Rahmen einer Regierungskonferenz zu beschließen sei, sondern ob man überhaupt Regie-rungsverhandlungen aufnehmen sollte. Dies ist aus mehreren Gründen für den Fortgang der Verhandlungen interessant; darauf weist Smith (2002: 71) hin:

„Firstly, the entire IGC process was somewhat an unitended consequence for the Dutch delegation. When they agreed to work with the Fouchet Com-mittee, they were becoming involved in something much more than they had expected. Secondly, the Dutch were satisfied to postpone and postpone, and let the process drift along. Therefore, the Dutch were surprised when the French submitted a detailed draft treaty (Fouchet I) in October 1961. At the same time, the Belgian government described this first Fouchet Plan as

‚too vague and too timid‘“.

Aber nicht nur die internen Auseinandersetzungen um Ziel und Reichweite der Reformen prägten die Fouchet-Verhandlungen. Wie in der Vergangenheit, so waren es auch jetzt wieder internationale Entwicklungen und externe Einflüsse, die sich auf die Gespräche der Sechs nachhaltigen auswirkten. Zwischen der neuen amerikanischen Administration unter John F.

Kennedy und der französischen Seite gab es gravierende politische Differenzen; im Früh-sommer 1961 zeichneten sich Konfliktlinien einer europapolitischen Kontroverse zwischen den USA und Frankreich ab: Im Mittelpunkt des politischen Streits stand dabei das „von Washington und London favorisierte Konzept einer Atlantischen Gemeinschaft mit einem politisch, wirtschaftlich und militärisch relativ starken, doch unter fortdauernder amerikani-scher Dominanz stehenden europäischen Pfeiler einerseits und das von de Gaulle verfolgte

Ziel der Europäisierung Europas, das die Errichtung einer staatenbündisch organisierten ‚Drit-ten Kraft Europa‘ vorsah“ (Conze 1995: 201-202).

Das von Kennedy vorgelegte „Grand Design“, das eine führende Rolle der USA und die Ein-bindung der Europäer in die NATO-Strukturen vorsah, musste in Paris, das eine Stärkung der Europäer unter französischer Führung im Sinn hatte, auf Ablehnung stoßen. Dazu kam der Druck vonseiten der Sowjetunion auf die Amerikaner und die Europäer, endlich einen Frie-densvertrag mit Deutschland zu schließen. All dies führte die europäischen Staats- und Re-gierungschefs am 18 Juli 1961 wieder an den Verhandlungstisch zurück und ließ die ur-sprünglichen Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund treten (von der Groeben 1982:

138; Smith 2002: 71). Das im Juli von der britischen Regierung Macmillan eingereichte Bei-trittsgesuch veränderte erneut den Kontext der Fouchet-Verhandlungen. Da die intergouverne-mentalen Pläne de Gaulles mit den britischen Europaideen kompatibel waren, musste die Be-teiligung Londons bei der niederländischen und belgischen Regierung auf Skepsis stoßen;

dies führte erwartungsgemäß zu Auseinandersetzungen, ob Großbritannien dann auch schon an den Verhandlungen über eine Politische Union zu beteiligen sei oder nicht (Gerbet 1987:

119-120).

Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 führte nicht nur zu einer Verschärfung der Ost-West-Beziehungen, er bestärkte die in Paris gehegten Befürchtungen, die Regierungen in Washington und London seien zu Konzessionen gegenüber der sowjetischen Führung bereit.

Der französische Staatspräsident de Gaulle fühlte sich deshalb in seinen Plänen einer

„Europäisierung Europas“ bestätigt – dies wiederum vergrößerte gleichzeitig die belgische Skepsis über die Aussichten der Verhandlungen. Spaak rückte nun von seiner ursprünglichen Unterstützung de Gaulles ab, da er – wie die niederländische Regierung – einen sicherheitspo-litischen Alleingang der Europäer als Gefahr für die NATO ansah und sich deshalb für eine Vergemeinschaftung stark machte (Gerbet 1987: 119; Smith 2002: 71-72).

Am 19. Oktober 1961 legte die Fouchet-Kommission ihren ersten Vertragsentwurf zur Schaffung einer Europäischen Politischen Union vor. Der Entwurf, der als Diskussions-grundlage gedacht war, war „stark intergouvernemental“ ausgerichtet (Smith 2002: 72) und bewegte sich „ganz im Rahmen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, wofür allerdings dau-ernde normative und institutionelle Regeln geschaffen werden sollten“ (von der Groeben

1982: 140). Der Vertragsentwurf nannte eine Reihe von Zielen: eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, die Zusammenarbeit in kulturellen Fragen sowie die Verteidigung der Grund- und Menschenrechte und der Demokratie. Einen Verweis auf die wirtschaftliche Zu-sammenarbeit sucht man im Entwurf vergeblich; ebenso fehlt eine „Vorbehaltklausel hin-sichtlich der Rechte und Verfahren der Gemeinschaftsverträge, die in der Präambel als Beginn der Annäherung wirtschaftlicher Interessen genannt wurden“ (von der Groeben 1982: 140).

Auch die Arbeit der Organe der „Union“ sollte eindeutig intergouvernemental ausgerichtet sein: Der Rat sollte einstimmig beschließen, das Parlament nur beratend tätig sein und die Politische Kommission setzte sich zusammen aus hohen Beamten der Mitgliedstaaten und wäre damit nicht unabhängig gewesen wie die EWG-Kommission. Die zentrale Institution im Vertragsentwurf sollte der viermonatlich tagende Rat der Staats- und Regierungschefs sein;

ergänzt und unterstützt werden sollte das höchste Entscheidungsgremium durch Ministeraus-schüsse und ständig tagende Regierungskommissionen, die verantwortlich sein sollten für einzelne Politikbereiche.95 Ferner war im Vertragsentwurf festgeschrieben, dass die NATO bei der Verteidigung Europas ein Vorrecht genieße und dass nach drei Jahren eine Revision des gesamten Vertrages vorzunehmen sei. Eine Regierungskonferenz sollte also im Lichte der gemachten Erfahrungen notwendige Veränderungen und Anpassungen der vertraglichen Grundlagen auf den Weg bringen. Eine solche Revisionsklausel mit genauer Zeitangabe und einer Eingrenzung der dann zu behandelnden Themen taucht, wie noch zu zeigen sein wird, auch in späteren Verträgen wieder auf (Smith 2002: 72).

Im Laufe der Fouchet-Verhandlungen machten die Regierungen in Bonn, Rom, Den Haag, Brüssel und Luxemburg klar, dass sie, anders als de Gaulle, eine intergouvernementale Zu-sammenarbeit nicht als Ersatz zu den mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Institutionen und Strukturen verstanden, sondern als Ergänzung dazu. So bemühten sich die fünf Regierungs-vertreter in den Wochen vor der Präsentation des Vertragsentwurfs – zum Teil erfolgreich –, die französischen Vorschläge abzumildern; das betraf alle Fragen zur Rolle der NATO, zu den Aufgaben der Europäischen Versammlung und zur Frage, wie die Revisionsklausel so zu formulieren sei, dass eine künftige Vergemeinschaftung der Strukturen der Politischen Union nicht ausgeschlossen ist (Smith 2002: 72-73). Da weder die EWG-Kommission noch das Parlament an den Fouchet-Verhandlungen von den Regierungen eingebunden bzw. von ihnen

95 Vgl. dazu Brunn (2002: 141-142), Conze (1995: 221), Gerbet (1987: 118), Smith (2002: 72) und von der Groeben (1982: 140).

auch nicht konsultiert oder informiert worden waren, war diese Regierungskonferenz eindeu-tig intergouvernemental ausgerichtet. Obwohl oder gerade weil dies so war, ließ es sich das Europäische Parlament nicht nehmen, sich zu den Plänen zu Wort zu melden und alternative Vorschläge zu präsentieren. Da einige Regierungen diese Vorschläge dann aber aufgegriffen haben, hatte das Europäische Parlament durchaus eine „Stimme“ und einen indirekten Ein-fluss in den Fouchet-Verhandlungen (Gerbet 1987: 115; Smith 2002: 73).

Als die niederländische und belgische Regierung in der Folge darauf bestanden, London an den Verhandlungen zu beteiligen, beeinträchtigte das die Gespräche im Kreise der Sechs so lange, bis man sich im Dezember 1961 auf der Außenministerkonferenz darauf verständigt hatte, die britische Seite laufend über die Verhandlungen zu unterrichten. Nach dieser Einigung und nachdem zum Jahresbeginn 1962 der Übergang zur zweiten Etappe des Ge-meinsamen Marktes geschafft war, wuchs allgemein die Hoffung, dass durch diesen wich-tigen Schritt in Richtung einer wirtschaftlichen Einheit Europas auch ein „kraftvoller Impuls für eine schnelle Verwirklichung der Europäischen Politischen Union ausgehen würde“ (von der Groeben 1982: 163). Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht, als am 18. Januar 1962 die französische Delegation auf direkte Initiative de Gaulles einen neuen Entwurf („Fouchet II“) vorlegte. Dieser hatte nur noch wenig gemein mit dem alten Entwurf und ignorierte die in den letzten Monaten gefundenen Kompromisse und Zugeständnisse gegenüber der belgischen und niederländischen Regierung. In den kleinen Ländern schrillten aufgrund dieser Verschärfung der ursprünglichen französischen Position „die Alarmglocken“ (Brunn 2002: 142). Denn die ökonomischen Fragen sollten in den Kompetenzbereich der intergouvernementalen Politi-schen Union aufgenommen werden, ohne dass die Eigenständigkeit der EWG anerkannt worden wäre. Auch die Abkehr von der engen Bindung an die NATO im neuen Entwurf so-wie ein neuer, sehr vager Wortlaut zur Revision des Vertrages führte zu Irritationen aufseiten der Partnerstaaten und zu einer Verhärtung ihrer Positionen (Smith 2002: 74; von der Groeben 1982: 163-164; Brunn 2002: 142). Es war offensichtlich, dass de Gaulle die mit dem Eintritt in die zweite Stufe zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes gestiegene Bedeu-tung der EWG und ihrer Organe zu dieser Rückkehr zu seinen ursprünglichen Positionen geführt hatte (Smith 2002: 74). Die traditionelle Skepsis de Gaulles gegenüber den Euro-päischen Gemeinschaften und das Ziel, diese „zu marginalisieren, wenn nicht ganz abzu-schaffen, und durch eine Politische Union (...) zu ersetzen“ (Conze 1995: 222), kam hier wie-der voll und ganz zum Tragen. Damit waren die unterschiedlichen „Auffassungen über Ziele

und Methoden der Integration (...) grell beleuchtet“ (von der Groeben 1982: 164). Da die fran-zösische Seite auch keine Anstalten machte, von ihrem Standpunkt abzugehen, legten die anderen fünf Regierungen am 1. Februar 1962 einen eigenen Vorschlag für einen Verfas-sungstext vor.96 Dem Fouchet-Ausschuss blieb daraufhin nichts anderes übrig, als am 15. März 1962 eine Synopse der beiden Vorschläge zu verabschieden und auf die Unterschie-de zwischen Unterschie-dem französischen Vorschlag und Unterschie-dem Entwurf Unterschie-der anUnterschie-deren Fünf hinzuweisen.

Als die Außenminister sich am 17. April nochmals trafen, schien eine Einigung noch möglich

Als die Außenminister sich am 17. April nochmals trafen, schien eine Einigung noch möglich