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Industrie im internationalen Vergleich

Im Dokument Projekt I C 4 – 02 08 15 – 12/11 (Seite 25-31)

3.1 Industriebegriff

Ein Untersuchungsgegenstand des Projekts liegt in der Bestimmung der für die Industrie

relevanten Standortfaktoren. Dabei ist wichtig, problemadäquat zu definieren, was unter Industrie zu verstehen ist. Dazu gibt es vielfältige Konzepte – fünf davon sollen kurz vorgestellt werden (ausführlicher in Anlage 1):

Branchensicht

Die bekannteste Definition von Industrie baut auf der internationalen amtlichen Nomenklatura der Wirtschaftszweige (NACE Rev. 3 oder WZ 2008) auf, die auch für die Daten des Statistischen Bundesamtes – in der Industriestatistik und in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) – relevant ist. Zur Industrie gehören in einer weiten Abgrenzung das Produzierende Gewerbe oder in einer engeren Sicht das Verarbeitende Gewerbe. Die Zuordnung der Unternehmen zu einem Wirtschaftszweig erfolgt auf Basis von Produkten und nach dem Schwerpunktprinzip.

Der Vorteil des Branchenkonzepts liegt darin, dass die Klassifikation der Wirtschaftszweige in der Industriestatistik und den VGR international abgestimmt ist. Dies ermöglicht eine gute

internationale und intertemporale Vergleichbarkeit. Die Daten sind zudem gut und vergleichsweise zeitnah verfügbar. Bei der Analyse der Bedeutung und besonders der konjunkturellen Entwicklung der Industrie sind diese Daten deshalb unverzichtbar.

Die Branchensicht ist aber aus drei Gründen nicht hinreichend:

 Das Branchenkonzept führt erstens zu einer „black box―. Es wird nicht berücksichtigt, was in den Unternehmen tatsächlich geschieht. Es ist schon lange nicht mehr so, dass

Industrieunternehmen sich nur auf die Herstellung von Industrieprodukten konzentrieren.

Sie bieten daneben in erheblichem Ausmaß auch Dienstleistungen an, und ihre Mitarbeiter sind in der Mehrheit nicht mehr mit der Fertigung, sondern mit Dienstleistungstätigkeiten beschäftigt.

 Das Branchenkonzept bildet die industrielle Wertschöpfungskette nicht vollständig ab.

Gerade das Verarbeitende Gewerbe hat eine Drehscheibenfunktion und steht im Zentrum von Wertschöpfungsprozessen, die auch viele Dienstleistungsunternehmen einbezieht.

 Nicht zuletzt schließt das Verarbeitende Gewerbe in der amtlichen Statistik neben den klassischen herstellenden Industrieunternehmen auch große Teile des Handwerks ein und vermischt damit sehr unterschiedliche Unternehmenstypen.

Verbundsicht

Die Verbundsicht berücksichtigt zwei zusätzliche Aspekte: Die Vorleistungsverflechtung der Industrie mit den industrienahen Dienstleistungsbranchen sowie die Verschmelzung von Industrie und Dienstleistungen in hybriden Geschäftsmodellen.

Die zunehmende Verflechtung zwischen dem Industrie- und Dienstleistungssektor ist ein wichtiger Grund für die Bedeutungszunahme der Dienstleistungen. Gerade Unternehmen des

Verarbeitenden Gewerbes kaufen immer mehr Vorleistungen aus anderen Bereichen und

insbesondere von den Dienstleistungsunternehmen. Die Industrie ist deshalb für andere Branchen ein wichtiger Absatzmarkt und eine Drehscheibe für Wertschöpfung. Genau um diesen Effekt der Nettokäufe ist die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Industrie höher, als es ihr eigener Beitrag zur Wertschöpfung ausdrückt. Diese Verflechtungen zwischen dem Verarbeitenden Gewerbe und den anderen Branchen kann mithilfe von Input-Output-Tabellen (IOT) dargestellt werden. Es lässt sich zeigen, dass der Saldo von Vorleistungslieferungen des Verarbeitenden Gewerbes an andere Branchen (aus Inlandsproduktion) minus der Vorleistungskäufe von diesen Branchen eine

gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung ist, die beide im Verbund erbringen.

Das Konzept hat zwei Vorteile:

 Auch der Vorleistungsverbund setzt auf dem Branchenkonzept auf und versucht die

Probleme der Schwerpunktsetzungen durch den Rückgriff auf die Input-Output-Tabellen zu lösen, die sich stärker an dem Produktkonzept orientieren.

 Eine gute Datenverfügbarkeit für viele Länder erlaubt konsistente internationale Vergleiche.

Allerdings liegen die IOT-Daten oft nur mit einem Zeitverzug von mehreren Jahren vor.

Die Nachteile:

 Die in den Industrieunternehmen selbst erstellten Dienstleistungen werden nicht erfasst und damit die Industrie-Dienstleistungs-Wertschöpfungsketten nur unvollständig

beschrieben.

 Auch bei diesem Konzept werden durch die Einbeziehung des Handwerks sehr unterschiedliche Unternehmenstypen gemischt.

Hybridsicht

Der Nachteil der nicht erfassten selbst erstellten Dienstleistungen kann durch den Rückgriff auf das tatsächliche Produktportfolio (Umsatzstruktur) bei der Definition der Industrie geheilt werden. Mit einer wachsenden Nachfrage nach Komplettlösungen und maßgeschneiderten Produkten sowie der verstärkten Kundenorientierung bearbeiten viele Unternehmen immer häufiger größere Teile der kundenrelevanten Wertschöpfungskette. Immer mehr

Industrieunternehmen verkaufen auch Dienstleistungen und werden so zum Anbieter kompletter

Wertschöpfungsketten. Das wird als hybride Wertschöpfung bezeichnet. Das hat zur Folge, dass viele Unternehmen nicht mehr reine Industrie- oder Dienstleistungsunternehmen sind.

Bedeutender als die Beobachtung der Anteile der Industrie- oder Dienstleistungsbranchen an der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung oder Wertschöpfung ist somit ein Blick auf die

tatsächlichen Schwerpunkte (Industrieprodukte, Dienstleistungen oder integrierte Industrie-Dienstleistungsprodukte) der Unternehmen. Hybride Geschäftsmodelle sind heute noch in der Minderheit; empirische Untersuchungen (Kempermann/Lichtblau, 2012) zeigen aber, dass sie überdurchschnittlich erfolgreich sind.

Der Vorteil dieser Sicht ist, dass die „black box―-Unternehmen geöffnet werden und in sie hinein geschaut wird, was sie wirklich tun. Das ist eine sinnvolle Ergänzung des Branchenkonzeptes, zumal solche hybriden Geschäftsmodelle von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen angeboten werden. Der Nachteil dieser Betrachtungsweise ist, dass es dazu keine amtlichen Daten gibt und deshalb kaum internationale oder intertemporale Vergleiche möglich sind.

Produktsicht

Industrie kann vor diesem Hintergrund aus einer völlig anderen Perspektive betrachtet werden, welche die Eigenart industrieller Produkte und Produktionsprozesse betont. Das wesentliche Merkmal für Industrie ist eine identische Reproduzierbarkeit der Produkte, weil die Herstellung auf Stücklisten, Konstruktionen, Rezepturen oder klaren technischen Spezifikationen beruhen.

Daneben kommt auch der Lagerbarkeit, also der Trennung von Produktion und Konsum, und damit auch der (internationalen) Handelbarkeit eine Bedeutung zu. Das gilt auch für einige

Dienstleistungen, wie die Herstellung von Software oder technischen Dienstleistungen.

Gewissermaßen gilt das aber auch für klassische Dienstleistungsunternehmen, wie zum Beispiel einer Fluggesellschaft, die auch standardisiert und reproduzierbar ihre Flüge bereitstellt. Um den Kreis der Industrie aber nicht zu groß werden zu lassen, sollen die industriellen Dienstleister ein zusätzliches Kriterium erfüllen: Ihre Produkte sollen Investitionsgutcharakter haben, also nicht beim Konsum direkt „untergehen―. Bei dieser Sichtweise gehört der Softwarehersteller zur Industrie, die Fluggesellschaft aber nicht.

Die für eine Neudefinition eines solchen Industriebegriffs notwendigen Informationen sind in der amtlichen Statistik nicht verfügbar. Es müssen somit (neue) Unternehmensumfragen eingesetzt werden, aus denen sich folgende Angaben zu den Unternehmen ergeben:

 Kerngeschäft (Industrieproduktion, Dienstleistungen, Handwerk/Bau),

 Produktionsverfahren (identische Reproduzierbarkeit),

 Investitionsgutcharakter ihrer Produkte (Verwendbarkeit über einen längeren Zeitraum oder kompletter Verbrauch beim Einsatz) und

 Hauptkunden (Industrieunternehmen, andere Unternehmen, Endverbraucher).

Mithilfe dieser Merkmale lassen sich zwei Kernteile der Industrie definieren:

 Die klassische Industrie, die mit industriellen Verfahren Industrieprodukte herstellt (Kern 1).

 Dienstleister, die mit industriellen Verfahren Produkte mit typischen Merkmalen von Industrieprodukten wie Reproduzierbarkeit und Investitionsgutcharakter anbieten (Kern 2).

Die Vorteile dieser Industriedefinition liegen darin, dass die Einteilung in Industrie und Nicht-Industrie trennschärfer erfolgen kann. Für die Zuordnung zur Nicht-Industrie ist nur entscheidend, ob ein Unternehmen industriell gefertigte Industrieprodukte oder Dienstleistungen herstellt. Das Konzept ergibt vor allem dann Sinn, wenn damit die modernen industriellen Wertschöpfungsprozesse besser abgebildet werden und die dort zusammengefassten Unternehmen gemeinsame Interessen haben. Ist dies der Fall, so lässt sich eine auf diese Gruppe von Unternehmen fokussierte

Industriepolitik sinnvoll gestalten. Ein weiterer Vorteil des Konzepts liegt darin, dass eine

Verbundsicht etwa über Hauptkundenbeziehungen integrierbar ist. Die Bedeutung der Industrie als Absatzmarkt für andere kann dargestellt werden.

Ein Nachteil dieser Vorgehensweise ist, dass die für die Abgrenzung notwendigen Merkmale in offiziellen Statistiken nicht aufgeführt werden und keine amtlichen Daten vorliegen. Dies erschwert die internationale und intertemporale Vergleichbarkeit. Gleichwohl lassen sich die relevanten Daten auf Basis von Unternehmensbefragungen relativ trennscharf erheben.

Funktionssicht

In der funktionalen Sichtweise werden die Branchen dahingehend abgegrenzt, welche Funktion sie im gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozess spielen. Zum Beispiel teilt eine Untersuchung der Prognos AG die Wirtschaftsbereiche in fünf Sektoren ein, die wiederum aus 16

Querschnittsbranchen bestehen. Hiermit soll erreicht werden, dass die industrielle Wertschöpfung funktional zuzuordnen ist. Gemäß der Einteilung der Prognos AG werden die fünf Sektoren Kernbedarfe, Transmitter, industrielle Basis, Inputs und Staat genannt. Auf diese Sichtweise wird im Gutachten nicht näher eingegangen.

Implikationen und Schlussfolgerungen für die Gesamtstudie

Die vorhergehenden Ausführungen haben die Vor- und Nachteile verschiedener Definitionen von Industrie aufgezeigt. Zur Bestimmung einer modernen und politikrelevanten Industrie empfiehlt sich die Produktsicht. Hier versteht man unter Industrie die Unternehmen, die Produkte mit industriellen Methoden erstellen, und zwar unabhängig von der Branchenzuordnung. Bei der Analyse von industriellen Standortfaktoren ist es sinnvoll und problemadäquat, wenn die dort unter der Dachmarke „Industrie― zusammengefassten Unternehmen strukturell und wirtschaftspolitisch bedeutsame Gemeinsamkeiten aufweisen. Es lassen sich „gemeinsame Nenner― finden:

Industrieunternehmen haben spezielle Anforderungen an einen Standort. Sie produzieren

kapitalintensiv und betreiben Anlagen, die meistens größere Flächen in ausgewiesenen Industriegebieten benötigen, überdurchschnittlich energieintensiv sind und nicht immer emissionsfrei arbeiten können. Umweltschutzauflagen, Raum- und Bauleitplanungen,

Finanzierungsfragen, aber auch steuerliche Aspekte, wie beispielweise die Rahmenbedingungen von Abschreibungsregeln, sind für sie besonders wichtig. Es kommt hinzu, dass diese

Unternehmen überregional tätig und deshalb im besonderen Maße von einer guten

Infrastrukturausstattung (Straße, Schiene, Flughäfen, Kommunikation) abhängig sind. Noch wichtiger als diese Aspekte ist aber, dass die industriellen Unternehmen überdurchschnittlich stark mit ingenieurwissenschaftlich-technischen Verfahren arbeiten. Das dort benötigte spezielle

technologische Wissen schafft eine gemeinsame Basis in allen Fragen der beruflichen und universitären Aus- und Weiterbildung. Fachkräfte insbesondere im MINT-Bereich sind für diese Unternehmen wichtig. Das gilt für ein klassisch produzierendes Industrieunternehmen ebenso wie für einen industriell produzierenden Dienstleister, etwa in den Bereichen Software und IT. Für diese Unternehmen ist eine industrie- und technikfreundliche Grundhaltung in der Gesellschaft eine lebenswichtige Rahmenbedingung. Auch daraus leitet sich ein gemeinsames kommunikatives Interesse ab.

Viele Vorteile hätte auch der Ansatz über hybride Geschäftsmodelle, der auf das tatsächliche Produktportfolio abstellt und aus dem Dienstleistungsbereich auch die Unternehmen einbeziehen würde, die auch Produktionstätigkeiten ausüben.

Der entscheidende Nachteil beider Ansätze liegt darin, dass die notwendigen Daten in der

amtlichen Statistik nicht zur Verfügung stehen. Das bietet nur die klassische Abgrenzung auf Basis des Branchenkonzeptes. Da in dieser Studie der Vergleich der industriellen Standortqualität in verschiedenen Ländern im Vordergrund steht, muss auf das Branchenkonzept zurückgegriffen werden, auch wenn viele Aspekte eines modernen Industriestandortes nicht erfasst werden können. In der Unternehmensbefragung sind die beiden Konzepte – die Produktsicht und die Branchensicht – umgesetzt. Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht wesentlich. Deshalb ist die Befragung nach dem Branchenkonzept ausgewertet. Zusätzlich werden die Unternehmen nach ihren Kerntätigkeiten zugeordnet. Diese Einordnung basiert auf Eigenangaben des Unternehmens.

3.2 Bedeutung und Entwicklung der Industrie

In den 1990er-Jahren galt Deutschland als der „kranke Mann― Europas. Eine nachhaltige Wachstumsschwäche, hohe Arbeitslosenquoten und Verkrustungen galten als die wesentlichen Merkmale. Heute ist das anders. Die deutsche Volkswirtschaft steht besser da und hat die Krise

von 2008/2009 schneller und nachhaltiger überwunden als viele andere.1 Einen wesentlichen Beitrag zur Stärke der deutschen Wirtschaft leistet die Industrie:

 In Deutschland ist der Trend zur Deindustrialisierung gestoppt, der den Strukturwandel vom Jahr 1970 bis Mitte der 1990er Jahre geprägt hat. Vom Jahr 1995 bis zur Krise des Jahres 2008 hat sich die nominale Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes nahezu parallel mit der Gesamtwirtschaft entwickelt (Abbildung 3-1). Der Anteil dieser Branche an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung liegt im Jahr 2011 mit 22 Prozent exakt auf dem Niveau vom Jahr 1995.

 Real gerechnet ist die Industrie im Zeitraum 1995 bis 2010 sogar schneller gewachsen. Die Krise des Jahres 2008 führte dann aber zu einem Wachstumseinbruch im Verarbeitenden Gewerbe, der bis zum Jahr 2011 nicht ganz wettgemacht werden konnte

 Getragen wurde dieses industrielle Wachstum insbesondere von einer sehr dynamischen Exportwirtschaft. Die Exporte des Verarbeitenden Gewerbes sind zwischen den Jahren 1995 und 2010 deutlich schneller gewachsen als die Wertschöpfung. Trotz der stärker gewordenen Konkurrenz insbesondere aus den Schwellenländern konnte die deutsche Industrie ihre Weltanteile bei den Exporten fast halten.

1 Verweis auf EU-Industriebericht

Eine stabile und exportstarke Industrie gilt als Erfolgsfaktor der deutschen Wirtschaft. In diesem Kapitel wird in einem internationalen Vergleich überprüft, ob das eine deutsche Besonderheit ist oder ob ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ländern beobachtet werden können. Im Blickpunkt dabei stehen die nominale Bruttowertschöpfung sowie die Exporte und Importe. Die Untersuchung umfasst insgesamt 45 Länder. Dazu zählen neben den Volkswirtschaften der

OECD, Mittel- und Osteuropa2 auch die fünf BRICS-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Diese ausgewählten Länder repräsentierten im Jahr 2010 rund 87 Prozent des

weltweiten Bruttoinlandsproduktes und der Warenexporte des Verarbeitenden Gewerbes. In dieser Gruppe sind die wesentlichen Industrieländer erfasst. Ausgeklammert werden insbesondere aus Datengründen die Länder Südostasiens, von denen einige einen industriellen Schwerpunkt haben.

2 Soweit sie Mitglied der EU sind.

Abbildung 3-1: Entwicklung des Verarbeitenden Gewerbes in Deutschland

Im Dokument Projekt I C 4 – 02 08 15 – 12/11 (Seite 25-31)