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Historische Betrachtung des Phänomens Internetabhängigkeit

Der Begriff Internet addiction wurde zum ersten Mal 1995 vom New Yorker Psychiater Ivan Goldberg als scherzhafte Scheindiagnose genutzt (Eichenberg, Ott 1999). Er veröffentlichte eine Symptomliste, die sich an den diagnostischen Kriterien für pathologisches Glücksspiel nach DSM-IV orientierte (Saß, Wittchen &

Zaudig 1996). Doch anstatt belustigter Reaktionen meldete sich eine Reihe von Personen, die sich tatsächlich für internetabhängig hielten. Als sich im folgenden Jahr auch die New York Times in einem Artikel mit dem Thema beschäftigte (Belluck 1996), verselbstständigte sich die Debatte um diese neue Form der Abhängigkeit.

Als Vorreiterin in der wissenschaftlichen Untersuchung des neuen Phänomens wurde die amerikanische Psychologin Kimberly Young bekannt (Young 1996). Sie entwarf einen Fragebogen zur Untersuchung der Symptomatik, der sich ebenfalls an den diagnostischen Kriterien für pathologisches Glücksspiel nach DSM-IV orientierte und führte eine erste Studie zu diesem Thema durch. In den folgenden Jahren veröffentlichten eine Reihe von Autoren Studien, die sich hauptsächlich als Online-Befragungen mit der Thematik befassten (Brenner 1997, Griffiths 1997, Griffiths 1999, Scherer 1997, Zimmerl, Panosch & Masser 1998). Sie folgten größtenteils Youngs Argumentation, dass es sich bei der „Internetsucht“ um ein neuartiges Phänomen handele, welches als eigenständige Erkrankung anzusehen sei.

Allerdings gab es zur selben Zeit auch eine Reihe von Kritikern dieser Sichtweise, zu denen interessanterweise auch der „Entdecker“ Ivan Goldberg zählte (Eichenberg, Ott 1999, Grohol 1997, Shaffer, Hall & Vander Bilt 2000). In ihren Studien stellten sie zwar einen problematischen Internetgebrauch bei einigen Studienteilnehmern fest, interpretierten die Symptome jedoch nicht als eigenständige Erkrankung, sondern als Symptomwandel von bereits bekannten psychischen Störungen. Ob problematischer Internetgebrauch als eigenständige Erkrankung Eingang in die bekannten Klassifikationssysteme ICD (Dilling 1993) und DSM (Saß, Wittchen & Zaudig 1996) finden soll oder als Symptom einer anderen psychischen Störung zu verstehen ist, wird auch heute noch kontrovers diskutiert.

Aber nicht nur die diagnostische Einordnung gestaltet sich schwierig. Denn auch bei der Nomenklatur für die Beschreibung des Phänomens herrscht keine Einigkeit. Die Abhängigkeit von einer Substanz wurde in der Vergangenheit mit dem Begriff „Sucht“, der sich etymologisch vom althochdeutschen Wort „Siech“ (=

Krankheit) ableitet, beschrieben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte „Sucht“ 1957 als

„einen Zustand periodischer oder chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge und gekennzeichnet durch vier Kriterien: 1. ein unbezwingbares Verlangen zur Einnahme und Beschaffung des Mittels, 2. eine Tendenz zur Dosissteigerung (Toleranzerhöhung), 3. die psychische und meist auch physische Abhängigkeit von der Wirkung der Droge, 4. die Schädlichkeit für den einzelnen und/oder die Gesellschaft“.

Der Terminus „Sucht“ wurde in der Vergangenheit bei einer Vielzahl von Krankheitserscheinungen verwendet. Als Beispiel für körperliche Erkrankungen seien hier „Gelbsucht“ und „Schwindsucht“ genannt.

Bei Wörtern wie „Mondsucht“ und „Tobsucht“ lässt sich das Grundwort als „krankhaftes Verlangen“

verstehen und wurde schon früh im übertragenen Sinne auch für „Sünde“ und „Leidenschaft“ gebraucht.

Besonders „Alkoholiker“ wurden im Kontext von (Sozial-)Darwinismus und Rassenhygiene gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Minderwertige stigmatisiert. „Alkoholismus“ erschien als Ausdruck von Geisteskrankheit und wurde deshalb vor allem zum Gegenstand der Psychiatrie (Schott 2001). Wegen der negativen Konnotationen und begrifflichen Unklarheiten wurden die früher üblichen Begriffe „Gewöhnung“,

„Sucht“ und „Alkoholismus“ durch die Termini „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“ abgelöst (Soyka 1999).

Im Jahre 1964 wurde der Suchtbegriff von der WHO offiziell durch den Terminus „Abhängigkeit“ ersetzt (Klein 2001), dennoch wird er in der Gesellschaft und insbesondere in den Medien weiterhin genutzt und ist daher nach wie vor weit verbreitet. „Sucht“ wird heutzutage nahezu inflationär zur Beschreibung jedes übermäßigen Verhaltens verwendet (Seyer 2004). Ein Faible für Schokolade beispielsweise als „Sucht“ zu bezeichnen impliziert allerdings, die Schwere einer „Alkoholsucht“ zu bagatellisieren. Übermäßigen Fernsehkonsum oder das starke Verlangen nach Sexualität begrifflich in die Nähe einer „Heroinsucht“ zu rücken, hieße, jede ausgeprägte Neigung als Krankheit zu deklarieren. So droht der Begriff „Sucht“ zwischen Unter- und Übertreibung zerrieben zu werden.

Ungeachtet der offiziellen Abkehr vom Begriff „Sucht“ finden sich in der englischsprachigen wie auch in deutschsprachigen Literatur Begriffe wie Internet Addiction (Disorder) (Young 1996, Beard, Wolf 2001), Online Addiction (Young 2007) oder Internetsucht (Hahn, Jerusalem 2001a). Daneben haben sich die Termini Pathological Internet Use (Morahan-Martin, Schumacher 1999), Problematic Internet Use (Liu, Potenza 2007) und Internet dependency (Scherer 1997) etabliert. Ebenso werden Begriffe wie Pathologischer Internetgebrauch (Kratzer, Hegerl 2008), Problematischer Internetgebrauch oder auch Internetabhängigkeit (te Wildt et al. 2007) genutzt. Im Rahmen dieser Studie werden hauptsächlich die Ausdrücke problematischer oder pathologischer Internetgebrauch und Internetabhängigkeit gewählt, da sie die Problematik recht treffend beschreiben, ihr aber nicht direkt eine kategoriale Zuordnung zu dem, was mit

„Sucht“ gemeint ist, zuschreiben. Doch unabhängig davon, mit welchem Terminus man die Symptomatik charakterisieren will und wie man sie diagnostisch einschätzt, bleibt festzuhalten, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten damit haben, ihre Internetnutzung zu kontrollieren.

Seit Beginn der Erforschung der Symptomatik wurde auch immer diskutiert, ob das Internet selbst der Grund für die Probleme der Betroffenen sei oder ob bereits bestehende Probleme im Netz ausgelebt werden (Greenfield 1999). Es scheint jedoch bereits festzustehen, dass es nicht nur eine Form der Internetabhängigkeit gibt. Durch die Diversität der Inhalte und Nutzungsmöglichkeiten des Internets ergibt sich auch ein breites Spektrum an möglichen Problemen. Nach Young sind fünf Subtypen der

Internetabhängigkeit zu beobachten (Young 1999). Den Konsum von pornographischen Inhalten in Form von Bildern, Videos und Erotik-Chats beschreibt Young als „Cybersexual addiction“. „Cyberrelationship addiction“ betrifft User, die virtuelle Beziehungen durch Chats, Foren, Kontaktanzeigen, E-Mails und interaktive Spiele aufbauen, die nicht auf der Grundlage des realen Selbst entstanden sind. Die exzessive Beteiligung an Auktionen im Netz sowie an Geldspielen oder am Handeln mit Wertpapieren werden von Young als „Net compulsions“ bezeichnet. Als „Information overload“ deklariert sie das Herunterladen beziehungsweise Sammeln von Programmen, Filmen oder Musik in pathologischen Ausmaßen. Und schließlich wird das abhängige Computerspielen oder Programmieren von Young als „Computer addiction“

bezeichnet.

Im Gegensatz zu Young sieht zwar auch Greenfield nicht nur eine Form der virtuellen Abhängigkeit, sondern divergierende Störungsbilder, die jedoch häufig durch bereits bestehende Probleme im realen Leben der Betroffenen bedingt seien (Greenfield 1999). Auch aktuelleren Publikationen zufolge ist die Symptomatik des Störungsbildes uneinheitlich und auf vergleichbare Tätigkeiten ausgedehnt. So sind es hauptsächlich die Bereiche Online-Spiele, -Kommunikation und -Pornographie, die das größte Abhängigkeitspotential zu besitzen scheinen (Chou, Condron & Belland 2005). Auf dem Gebiet der Online-Spiele besitzen Rollenspiele die größten Marktanteil. Das beliebteste Spiel dieses Genres ist derzeit „World of Warcraft“ mit über 12 Millionen Abonnenten weltweit (Blizzard Entertainment 2010). Die so genannten

„Shooter“ und Online-Glückspiele spielen hingegen eine deutlich geringere Rolle im Rahmen dieser Problematik. Im Bereich der Kommunikation liegt das Hauptaugenmerk auf Echtzeitkommunikation in Chaträumen und mit Hilfe von Instant Messengern sowie in interaktiven sozialen Netzwerken. Im Bereich Online-Pornographie sind hauptsächlich Videos, Bilder und Chaträume relevant. Außerdem gibt es noch eine Gruppe von Internetnutzern, die ein pathologisches Kaufverhalten („Oniomanie“) beispielsweise bei Auktionen zeigt (Kratzer, Hegerl 2008). Dieses pathologische Kaufverhalten und auch das Online-Glücksspiel sind gute Beispiele dafür, wie sich bekannte „Verhaltenssüchte“ über neue Zugangswege manifestieren können. Dabei ist zu diskutieren, inwieweit der Internetkonsum lediglich zu einer Eskalation einer ohnehin bestehenden Problematik führt, oder ob diese neuen Möglichkeiten bei manchen Menschen überhaupt erst eine pathologische Dynamik initiieren.