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Um die Prävalenz und die gesellschaftliche Bedeutung des Phänomens Internetabhängigkeit einschätzen zu können, soll als Vergleich die Alkoholabhängigkeit betrachtet werden.

Alkoholische Getränke werden zwar schon seit der Antike von den Menschen hergestellt und konsumiert.

Und auch über die Jahrhunderte hinweg war immer wieder von „Trunkenbolden“ und „Sauferei“ die Rede (Schott 2001). Dennoch galt Alkohol bis in das 19. Jahrhundert hauptsächlich als Nahrungs- und Stärkungsmittel. Mit den damals bekannten Gärungsprozessen konnten noch keine hochprozentigen Getränke hergestellt werden, die eine Alkoholkrankheit nach unserem heutigen Bild zu einem Massenphänomen hätten machen können. Außerdem stellten alkoholische Getränke eine wichtige Energiequelle dar, die mit ihren sedierenden Nebeneffekten über die harten Lebensbedingungen in diesen Zeiten hinwegtröstete. Erst durch die Erfindung der Destillation durch die mittelalterliche Alchemie der Araber war die Erzeugung hochprozentiger Getränke möglich. Dies markiert den Beginn des neuzeitlichen

„Alkoholismus“ (Schott 2001). Weite Verbreitung erlangte die „neue Krankheit“ dann mit der zunehmenden Industrialisierung. Die Möglichkeit, an jedem beliebigen Ort jede beliebige Menge an Alkohol zu einem geringen Preis zur Verfügung zu haben und sich in einem durch Technisierung immer schnelllebigeren Alltag zurechtfinden zu müssen, ließ die vorher bestehenden protektiven Trinkrituale mehr und mehr in den Hintergrund rücken und instrumentalisierte den Alkohol somit teilweise zur Selbstmedikation (Klein 2001).

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Begriffe wie „Trunksucht“ und „chronischer Alkoholismus“ geprägt.

Seitdem hat sich der Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft immer weiter verbreitet. So stieg der Alkoholverbrauch in Deutschland je Einwohner an reinem Alkohol von 3,2 Liter pro Jahr in 1950 auf bis zu 13 Liter in 1980. Seitdem sinkt der Pro-Kopf-Verbrauch an reinem Alkohol wieder leicht. 1999 waren es noch 10,6 Liter (Küfner, Kraus 2002). 2006 lag der Konsum noch bei 10,1 Liter je Einwohner (Meyer 2007).

Bei bis zu 9,3 Millionen Menschen in Deutschland besteht Beratungs- und Behandlungsbedarf bezüglich ihres Alkoholkonsums. Denn circa 3 % der erwachsenen Bevölkerung (5 % Männer und 2 % Frauen) sind nach Kiefer als alkoholabhängig einzustufen (Kiefer, Mann 2007). Er geht von ca. 1,6 Millionen Abhängigen aus. Weitere 5 Millionen betrieben „riskanten Konsum“. Außerdem sei der Konsum von weiteren 2,7 Millionen Menschen als „schädlicher Gebrauch“ einzustufen (Kiefer, Mann 2007). Klein berichtet, dass 4,9

% der Männer und 1,1 % der Frauen in Deutschland als alkoholabhängig gelten (Klein 2001). Weitere 8,1 % der Männer und 1,9 % der Frauen betrieben Alkoholmissbrauch. Insgesamt schätzt er die Zahl der Behandlungsbedürftigen auf circa 2,5 Millionen Menschen in Deutschland.

Die physischen Schäden einer Alkoholkrankheit sind immens. So können fast alle Organsysteme durch chronischen Alkoholkonsum gestört oder geschädigt werden (Küfner, Kraus 2002). Als Beispiele seien hier Fettleber, Leberzirrhose, Ösophagusvarizen, Spider naevi oder diverse Karzinome, insbesondere des

Gastrointestinaltrakts genannt. Auch der Stoffwechsel von Abhängigen kann massiv beeinträchtigt sein. Dies zeigt sich dann beispielsweise in einer makrozytären Anämie, Hyperurikämie, Hypertriglyceridämie oder Hypoglykämie. Es kann daneben aber auch zu einer Reihe von neurologischen Störungen, wie zum Beispiel Wernicke-Enzephalopathie, Korsakow-Syndrom oder Delir kommen (Renz-Polster, Krautzig & Braun 2004). Hervorzuheben ist auch die Alkoholembryopathie (fetales Alkoholsyndrom) als einer der wichtigsten und vermeidbaren Faktoren für angeborene Schäden (Missbildungen sowie körperliche und geistige Retardierungen) beim Säugling, die durch Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entstehen kann (Küfner, Kraus 2002). Direkte körperliche Schädigungen sind bei abhängigen Verhaltensweisen wie der Internetabhängigkeit hingegen kaum zu erwarten. So finden sich hier allenfalls vegetative Dysregulationen oder Schlafstörungen (Saß, Wiegand 1990).

Die Bedeutung des Alkohols in unserer Gesellschaft wird besonders augenscheinlich, wenn man betrachtet, dass in Deutschland 2005 über 16.000 Personen an alkoholbedingten Erkrankungen starben (Rübenach 2007). Andere Schätzungen gehen sogar von über 70.000 Todesfällen pro Jahr durch kombinierten Alkohol- und Nikotinkonsum aus (Hanke, John 2003). Die volkswirtschaftlichen Kosten alkoholbezogener Krankheiten in Deutschland werden für das Jahr 2002 auf über 24 Mrd. Euro geschätzt (Meyer 2007). Für Internetabhängigkeit gibt es bislang keine Angaben zu den entstehenden volkswirtschaftlichen Schäden.

Alkohol und die aus dem Konsum resultierenden Folgen spielen schon seit mehreren hundert Jahren eine bedeutende Rolle in unserer Gesellschaft. Alkoholbedingte Störungen sind mittlerweile als Erkrankungen anerkannt und ihre Therapie wird von den Kostenträgern finanziert. Es gibt einheitliche diagnostische Kriterien (ICD-10, DSM-IV) und etablierte Behandlungsschemata. Hier wurden demnach viele der offenen Fragen, die für das Phänomen Internetabhängigkeit noch diskutiert werden müssen, schon vor längerer Zeit bearbeitet. Die Prävalenz von alkoholbedingten Störungen liegt nach aktuellen Einschätzungen deutlich über der Prävalenz von problematischem Internetgebrauch. Es entstehen immense volkswirtschaftliche Kosten.

Inwiefern das auch für den problematischen Internetkonsum zutrifft, lässt sich momentan noch nicht sagen.

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Störungen liegt allerdings darin begründet, dass mit dem Alkohol ein wirksames Zellgift vorliegt, was erwiesenermaßen in einer großen Anzahl von Fällen zu schweren körperlichen Erkrankungen bis hin zum Tode führt. Bei der Internetabhängigkeit finden sich zwar ähnliche Verhaltensweisen, aber die daraus resultierenden Probleme sind weniger physischer denn psychischer oder sozialer Natur.

Das Medium Internet wird heute von einem stetig wachsenden Teil der Bevölkerung genutzt. Für Deutschland ist diese Entwicklung offensichtlich: Waren 1997 laut ARD – ZDF Onlinestudie nur 6,5 % der Bevölkerung ab 14 Jahren Nutzer des Internets, so hat sich der Anteil bis heute etwa verzehnfacht. 2010 waren bereits 69,4 % der Bevölkerung online. Das entspricht 49 Mio. Internet-Nutzern in Deutschland (Eimeren, Frees 2010). In den letzten Jahren beruht dieser Zuwachs hauptsächlich auf Frauen und Menschen

über 60 Jahren. So gleicht sich die Struktur der Internetnutzer immer mehr der Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland an. Aber nicht nur die Verbreitung, sondern auch die Zeit, die für das Internet investiert wird, hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. 1997 gingen die deutschen Internetnutzer an durchschnittlich 3,3 Tagen pro Woche für 71 Minuten online. 2010 hatten sich diese Werte auf 136 Minuten an 5,7 Tagen erhöht. Die mittlere Onlinezeit der deutschen Internetnutzer hat sich von 3,9 Stunden pro Woche auf 12,9 Stunden pro Woche erhöht (Eimeren, Frees 2010). Europaweit liegt der durchschnittliche Internetkonsum ebenfalls bei circa 12 Stunden pro Woche. Die Gruppe der 14- bis 24-jährigen nutzt das Internet mit durchschnittlich 14,7 Stunden pro Woche mittlerweile sogar häufiger als das Fernsehen mit 13,4 Stunden pro Woche (EIAA 2007).

Wenn man sich diese Entwicklung vor Augen hält, muss man die Daten von Studien zum Thema Internetabhängigkeit aus den letzten 15 Jahren immer in ihrem jeweiligen Kontext betrachten. Die ersten Studien, die sich mit diesem Themengebiet beschäftigten, konnten hauptsächlich Daten zu zeitlichen Aspekten der Online-Aktivitäten vorstellen. Die Schätzung einer Prävalenz des Phänomens gestaltete sich meist sehr schwierig, da die Untersuchungen entweder als Online-Fragebogen oder an zu kleinen Stichproben durchgeführt wurden. Dennoch geben auch diese Studien interessante Hinweise auf die Ausprägung dieses Phänomens.

Die durchschnittliche wöchentliche Onlinezeit der als internetabhängig eingestuften Nutzer variiert innerhalb der bekannten Studien erheblich (Tab. 1.4.1). Die wöchentlichen Online Zeiten schwanken in den bekannten Studien zwischen 19 bis 38,5 h / Woche (Brenner 1997, Kratzer, Hegerl 2008, Young 1999, Chou, Condron

& Belland 2005, Seemann 2000, Leung 2004, Hahn, Jerusalem 2001b, Black, Belsare & Schlosser 1999, Shapira et al. 2000, Yang, Tung 2007). Die meisten dieser Arbeiten sind allerdings schon einige Jahre alt.

Zudem sind sehr unterschiedliche Umfragetypen und -kollektive vertreten. Aktuellere Zahlen sind momentan nicht bekannt.

Tabelle 1.4.1: Durchschnittliche wöchentliche Onlinezeit der internetabhängigen Nutzer verschiedener Studien

Studie Anzahl der

Teilnehmer

Wöchentliche Onlinezeit der Internetabhängigen in Stunden

Umfragetyp und -kollektiv

Young, 1996 596 38,5 Telefon- u. Onlineumfrage, Allgemeinbevölkerung

Brenner, 1997 563 19 Onlineumfrage, Allgemeinbevölkerung

Black, 1999 21 27,0 Persönliche Befragung, Allgemeinbevölkerung

Chou, 1999 910 20 Paper-and-pencil-survey, Studenten

Shapira, 2000 20 27,9 Persönliche Befragung, Allgemeinbevölkerung

Seemann, 2000 2341 20,8 Onlineumfrage, Allgemeinbevölkerung

Hahn, 2001 8266 34,6 Onlineumfrage, Allgemeinbevölkerung

Leung, 2004 699 34,8 Telefoninterview, Allgemeinbevölkerung

Yang, 2007 452 21,2 Paper-and-pencil-survey, Schüler

Kratzer, 2008 61 31,6 Persönliche Befragung, Allgemeinbevölkerung

Anhand dieser uneinheitlichen Ergebnisse lässt sich bisher keine eindeutige Einteilung vornehmen, ab welcher Konsumdauer von Internetabhängigkeit gesprochen werden kann. Zudem hat sich bei der wissenschaftlichen Betrachtung des Phänomens in den letzten Jahren gezeigt, dass anhand rein quantitativer Merkmale keine Aussage über den Schweregrad der Problematik getroffen werden kann. Allerdings zeigte sich in allen oben aufgeführten Studien, dass die Probanden mit pathologischer Internetnutzung signifikant länger online waren als die beschwerdefreien Kontrollgruppen.

Ähnlich uneinheitlich wie die Terminologie und die kritische Zeitspanne, ab der man von pathologischem Internetgebrauch sprechen kann, präsentieren sich auch die Daten bezüglich der Prävalenz des Phänomens (Tab. 1.4.2). In Youngs erster Veröffentlichung erfüllten noch fast 80 % der Studienteilnehmer ihre Kriterien für Internetabhängigkeit (Young 1998). In ihren späteren Arbeiten geht Young noch von einer Prävalenz von 20 % aus (Young 1999). In weiteren Studien findet sich eine Prävalenz für Internetabhängigkeit zwischen 3,2 % bis 30,8 % (Eichenberg, Ott 1999, Scherer 1997, Zimmerl, Panosch & Masser 1998, Morahan-Martin, Schumacher 1999, Greenfield 1999, Seemann 2000, Hahn, Jerusalem 2001b, Yang, Tung 2007, Ha et al.

2007)

Tabelle 1.4.2: Prävalenz der Internetabhängigkeit in verschiedenen Studien Schülern (Yang, Tung 2007, Ha et al. 2007) oder Studenten durchgeführt wurden (Scherer 1997). Andere Studien hingegen schlossen alle Altersgruppen mit ein (Eichenberg, Ott 1999, Young 1996, Brenner 1997, Zimmerl, Panosch & Masser 1998, Seemann 2000, Hahn, Jerusalem 2001b). Auch der Befragungsmodus scheint zum Teil erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse zu haben. Ein eindrückliches Beispiel für die selbstselektive Verzerrung von Online-Studien zum Thema Internetabhängigkeit liefert Young mit einem Anteil von 80% Internetabhängigen unter den 496 Teilnehmern (Young 1996). Betroffene beteiligen sich tendenziell immer stärker an solch einer Umfrage als Unbeteiligte (Hahn, Jerusalem 2001a).

Andererseits zeigt sich auch, dass durch die uneinheitlichen diagnostischen Kriterien eine präzise Quantifizierung des Phänomens schwierig ist. Denn selbst wenn man die bisherigen Studien als methodisch unausgereift und verzerrt ansieht und lediglich von einer Prävalenz von nur 2 % der Internetnutzer ausgeht, wären das allein in Deutschland schon zwischen 800.000 und 1.000.000 Betroffene. Für die USA geht Block von bis zu 9 Millionen Personen mit pathologischer Computernutzung aus (Block 2007). Insbesondere aus dem asiatischen Raum kommen in den letzten Jahren vermehrt Studien, die eine deutliche Zunahme der Problematik besonders bei Kindern und Jugendlichen feststellen (Ha et al. 2007, Ko et al. 2008, Yen et al.

2008a). Bei aller Diskrepanz von Methodik und Ergebnissen der bisherigen Forschung steht außer Frage, dass exzessive Internetnutzung ein Problem von zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung ist.