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Hawai‘i: Paradies in der Südsee?

1. Einleitung

1.1 Hawai‘i: Paradies in der Südsee?

„Fünf Stunden Flug entfernt von der nordamerikanischen Westküste liegen in der Mitte des Pazifischen Ozeans die idyllischen Sonnenin-seln von Hawaii, die eigentlich die Gipfel einer über 3000 km langen Gebirgskette unter der Oberfläche des Pazifiks bilden. Die Inselgrup-pe besteht aus mehr als 20 Inseln. Acht davon bilden den Staat Ha-waii: Oahu mit der Hauptstadt Honolulu, Kauai, Maui, Hawai‘i und die kleineren Inseln Molokai, Lanai, Niihau und Kahoolawe. In ganz Hawaii sagt man ‚Aloha’, denn dieses Wort hat mehrere Bedeutun-gen. Es sagt nicht nur schlicht ‚Hallo’, sondern auch ‚Auf Wiederse-hen’ und ‚Ich liebe Dich’. Hawaiianer lassen Blumen sprechen und als Ausdruck besonderer Herzlichkeit werden dem Besucher beim Empfang ‚Leis’, so heißen die bunten Blumenkränze, umgehängt“.1 Als einer der mehr als 6 Millionen Besucher, die während der 1990er jedes Jahr auf die hawaiischen Inseln kamen, traf ich 1995 an einem späten Abend in Honolulu ein.2

1 Informationsbroschüre des Hawaii Visitors Bureau in Deutschland, ca. 1994.

Es sollte mein erster Aufenthalt auf diesen Inseln sein, die in der Vorstellung vieler – und in einem gewissen Maße auch in meiner eigenen – für paradiesische Landschaften und unbeschwertes Leben standen bzw. stehen. Ich erreichte diese fernab der Kontinente liegenden Inseln nicht unvorbereitet:

schließlich sollte die Reise der Vorbereitung meiner Forschungsarbeit über das

„Hawaiian Sovereignty Movement“ und dessen Forderungen nach politischer und kultureller Unabhängigkeit dienen. Ich hatte Literatur über die traditionelle

2 Diesem ersten sechswöchigen Forschungsaufenthalt 1995 folgten 1997 und 2006 zwei weitere sechs bzw. acht Wochen dauernde Reisen nach Hawai‘i.

hawaiische Gesellschaft und ihre Transformation im Laufe des 19. Jahrhun-derts ebenso gelesen wie die politische Geschichte des Archipels nach dem Untergang des hawaiischen Königreichs und der Machtübernahme durch US-amerikanische Geschäftsleute. Soweit dies von Deutschland aus möglich war, hatte ich mich zudem mit der Struktur und den politischen Ansprüchen der hawaiischen Bewegung befasst und erste Gesprächstermine mit Wissenschaft-lern und Vertretern hawaiischer Institutionen vereinbart. Mir war natürlich bekannt, dass der „American Way of Life“ das Leben im US-Bundesstaat Hawai‘i prägte und dass die Suche nach der Südseeidylle, wie sie sich trotzdem in meiner Vorstellung fand, wohl vergeblich sein würde.

Der amerikanische Schriftsteller und Reisende Mark Twain beschrieb Hawai‘i als „the loveliest fleet of islands that lies anchored in any ocean“.3

Hawai‘i ist bis heute kein eindeutiger Ort: Schon meine erste Taxifahrt vom Flughafen zu dem angemieteten Apartment in den Bergen oberhalb Honolulus, in einem Tal mit dem exotisch klingenden Namen Nu‘uanu (hier führte und gewann Kamehameha I. mit seinen Kriegern im Jahre 1795 die ent-scheidende Schlacht gegen die Verteidiger der Insel O‘ahu und legte damit die Grundlage für das vereinigte hawaiische Königreich), lieferte widerstreitende Eindrücke. Das selbstverständlich amerikanisch anmutende Taxi fuhr über einen mehrspurigen Highway aus Betonplatten, und Verkehrsschilder und Leit-planken gestalteten eine Szenerie, die ebenso gut nach Illinois oder New York gepasst hätte. Zugleich strömte aber die laue Luft einer pazifischen Nacht durch die heruntergelassenen Fenster und merkwürdig unpassende Kokospal-men reckten zwischen flachen Industriebauten ihre Fiederblätter in den dunklen Himmel.

Bis heute gehört dieser Satz zum Kernbestand der Hawai‘i-Werbung – steht er doch, gewissermaßen in kondensierter Form, für eine paradiesische Einzigar-tigkeit dieser nördlich des Äquators gelegenen Inseln. Im Werk Mark Twains, der 1866 als Korrespondent vier Monate auf den Inseln verbrachte und in spä-teren Jahren noch einmal dorthin zurückkehrte, findet sich mehr als einmal dieser verklärte und verklärende Blick auf die hawaiischen Inseln. Doch Twain verweist in seinen Texten auch auf die Veränderungen, die Hawai‘i im 19.

Jahrhundert erfuhr (Twain 1990) – und benutzt ja selbst in dem so häufig wie-dergegebenen Bild von den paradiesischen Inseln die Metapher einer vor Anker liegenden Flotte: „... oceanic symbols of progress, commerce, the American Navy in the Pacific, and civilization in general“ (Sumida 1991:55).

Am Morgen nach meiner Ankunft wanderte ich entlang des Pali High-ways von den Bergen an die Küste – der Weg führte aus einer amerikanischen Vorstadtsiedlung, vorbei an architektonischen Zeugnissen der hawaiischen Geschichte, in die von Hochhausarchitektur geprägte Innenstadt von Honolulu,

3 Zitiert nach Sumida 1991:55.

1. Einleitung 13 wo der in einem nachempfundenen Rokoko-Stil erbaute, 1882 fertig gestellte

‘Iolani Palast an das letzte Jahrzehnt des Königreichs Hawai‘i erinnert. Im his-torischen Zentrum um den Palast drängten sich Touristen aus Japan und den USA, die ansonsten aber kaum im Stadtbild auffielen – verbrachten doch die meisten von ihnen ihren Aufenthalt außerhalb organisierter Besich-tigungsfahrten in Waikīkī, dem heutigen Touristenviertel der Millionenstadt Honolulu. Allerdings blieb auf meiner Wanderung auch das „Hawaiische“ zu-nächst seltsam fern: überall wurde amerikanisches Englisch gesprochen, die Menschen schienen überwiegend asiatischer oder euro-amerikanischer Her-kunft zu sein und abgesehen von den allgegenwärtigen „Aloha Shirts“ (oder

„Hawai‘i Hemden“, wie sie in Deutschland bekannt sind) sowie vereinzelten Muumuus, den bis zum Knöchel reichenden, bunt gemusterten und an die von den protestantischen Missionaren propagierte Frauenkleidung erinnernden Baumwollkleidern, entsprach die Kleidung der vorbeieilenden Passanten dem, was in jeder beliebigen amerikanischen Großstadt auch nicht anders zu erwar-ten gewesen wäre.

Die von mir empfundene Ambivalenz des Ortes, die Diskrepanz zwi-schen einer hawaiizwi-schen Vergangenheit, von der Literatur und architektonische Zeugnisse berichten, und der Gegenwart des Geschäftszentrums von Honolulu hat ihre Ursache in den tief greifenden Veränderungen der Gesellschaft Hawai‘is seit der europäischen Entdeckung der Inseln durch James Cook im Jahre 1778. Schon mit den ersten europäischen Seefahrern kamen bis dahin unbekannte, sich verheerend auswirkende Krankheiten auf die Inseln; christli-che Missionare brachten eine neue Religion, die – gefördert durch den hawaii-schen Adel – bald die ideologische Grundlage des Gemeinwesens bildete; neue Rechtsvorstellungen ersetzten die traditionelle Rechtsordnung, euro-amerikanische Pflanzer und Geschäftsleute machten Zucker zum Hauptwirt-schaftsgut der Inseln und führten Hawai‘i in die ökonomische und politische Abhängigkeit von den USA. Die neu entstehenden Plantagen benötigten Ar-beitskräfte, die man aus Asien holte und die auf den Inseln eine neue Heimat fanden, was die Bevölkerungsstruktur Hawai‘is grundlegend verändern sollte.

Unter Mitwirkung von US-Streitkräften stürzten im Jahre 1893 amerikanische Geschäftsleute die letzte hawaiische Monarchin: Der entscheidende Schritt zur Verdrängung der Hawaiier von den Schaltstellen der Macht und zur Integration Hawai‘is in die USA war damit getan.

Im heutigen US-Bundesstaat Hawai‘i sind die indigenen Hawaiier eine wachsende, hinsichtlich ihrer Abstammung und sozialen Zugehörigkeit sehr heterogene Minderheit, deren sozio-ökonomische Kennzahlen sie aber noch immer als eine sozial marginalisierte Gruppe innerhalb der Gesamtbevölkerung Hawai‘is ausweisen. Auch wenn hawaiische Musik die Käufer in jedem Su-permarkt berieselte, hawaiische Ortsbezeichnungen und Straßennamen ein spezifisches Lokalgefühl suggerierten, Versatzstücke traditioneller hawaiischer

Kultur in Souvenirläden, Restaurants und Hotelanlagen omnipräsent waren und die beiden großen Tageszeitungen fast täglich die politischen Forderungen hawaiischer Gruppierungen meldeten und kommentierten, blieben die indige-nen Hawaiier für mich doch zunächst auf seltsame Weise verborgen.

Bald sollte sich zeigen, dass die Ambivalenz des Ortes „Hawai‘i“, wie er bei meiner ersten Begegnung wahrgenommen wurde und wie er in freilich anderer Weise im Werk Mark Twains begegnet, sich gewissermaßen in der zunehmend in mein Blickfeld tretenden hawaiischen Bevölkerung selbst spie-gelte – auch wenn die „Hawaiians“ im Sprachgebrauch des Inselstaates termi-nologisch klar von der übrigen Bevölkerung abgegrenzt sind bzw. sich selbst von ihr abgrenzen.4

Bisweilen kann Musik die Annäherung an ein Thema erleichtern, zu-mal in den Texten der hawaiischen Popmusik der 1990er Jahre häufig Themen der politischen Gegenwart im Vordergrund standen. Der 1997 verstorbene Isra-el Kamakawiwo‘ole, einer der bekanntesten hawaiischen Sänger, sprach in seinem 1993 veröffentlichten Lied „Hawai‘i ’78“ zahlreiche Themen an, die im Diskurs über die hawaiischen Forderungen nach kultureller und politischer Eigenständigkeit einen hohen Stellenwert haben.

Jenseits der sprachlichen Bestimmung fehlt jedoch jegliche Eindeutigkeit: der allergrößte Teil der Hawaiier kann auf multiethnische Zuge-hörigkeiten verweisen, Hawaiier gehören zu allen Bevölkerungsschichten und sind bei politischen und sozialen Auseinandersetzungen häufig in allen betei-ligten Konfliktparteien vertreten.

Er lässt die hawaiischen Monarchen der Vergangenheit – gemeint sind wohl Kamehameha I. und Lili‘uokalani, die letzte Vertreterin der hawaiischen Monarchie und der erste Herrscher über den gesamten Archipel – für einen Tag in die Gegenwart Hawai‘is kommen und konfrontiert sie mit dem modernen Inselstaat: „Could you just imagine if they were around / and saw highways on their sacred grounds / how would they feel about this modern city life. / Tears would come from each others eyes / as they would stop to realize / that our people are in great, great danger now.“ 5

Liest man den Text jedoch auf eine andere Weise, so zeigen sich eben-so einige der zahlreichen Brüche, die die jüngere Geschichte der Hawaiier kennzeichnen: Als Kamehameha den Archipel eroberte und das Königreich Sie sähen Autobahnen, die über die Überreste alter Tempelanlagen führen; Land, das sich nicht mehr im Besitz der hawaiischen Bevölkerung befindet und den wirtschaftlichen Zielen von Speku-lanten geopfert wird sowie den Verlust von traditionellem Lebensstil und alter Religion.

4 Die Begriffe „Hawaiier“ und „hawaiisch“ verwende ich in dieser Arbeit – so wie auch in Hawai‘i üblich – ausschließlich in Bezug auf jenen Teil der Inselbevölkerung, der seine Ab-stammung auf die polynesischen Bewohner des Archipels vor 1778, dem Jahr der europäischen Entdeckung, zurückführt.

5 Israel Kamakawiwo‘ole, Facing Future (The Mountain Apple Company 1993).

1. Einleitung 15 begründete, tat er dies gegen den erbitterten Widerstand der (hawaiischen) Be-wohner auf den übrigen Inseln; die offizielle Religion mit ihren Göttern und organisierten Priesterschaften löste der hawaiische Hochadel noch vor der An-kunft der ersten amerikanischen Missionare auf; der hawaiische Adel war in entscheidendem Maße an der Privatisierung des Landes beteiligt; und schließ-lich sind es auch die Hawaiier selbst, die den modernen Lebensstil, zu dem auch die Autobahnen in Honolulu gehören, pflegen und nicht mehr missen mögen. Menschen hawaiischer Abstammung finden sich nicht nur auf Seiten der Bewegung für politische und kulturelle Autonomie, die Bewegung agiert vielmehr in einem Umfeld, in dem auch auf der Gegenseite Hawaiier stehen oder, in der Vergangenheit, für die Entstehung der beklagten Missstände zu-mindest mitverantwortlich zeichnen müssen.

Der Text verweist vor allem aber auch auf die großen Konfliktfelder und Politikbereiche, die für das „Hawaiian Sovereignty Movement“ bis heute von zentraler Bedeutung sind: so steht das Bild von der gefährdeten hawaii-schen Bevölkerung für die Benachteiligungen, die von den Hawaiiern als Min-derheit im Staat Hawai‘i bis heute erfahren werden – und damit letztlich für die Frage nach der Verantwortlichkeit für diese Entwicklung. Ebenso liefern die politischen, rechtlichen und sozialen Aspekte der nach wie vor ungelösten Landrechtsfragen immer wieder neuen Konfliktstoff. Schließlich stellt der Ver-such der Wiedererlangung politischer Macht und kultureller Deutungshoheit eine Triebfeder der politischen Bewegung dar. Im Folgenden werde ich meine Untersuchung der hawaiischen Bewegung und ihres historischen, politischen und kulturellen Umfeldes näher vorstellen.