• Keine Ergebnisse gefunden

Genese und charakteristische Merkmale des 36-Gassen-Gebiets

Im Dokument Stadtentwicklung von Hanoi (Seite 59-64)

2. Geschichtliche Entwicklung Hanois von den Anfängen bis 1954

2.1 Die vorkolonialen Phasen

2.1.5 Genese und charakteristische Merkmale des 36-Gassen-Gebiets

soge-nannte Phuong unterteilt (vgl.: LE 1995: 90). Der Begriff Phuong stammt aus China und bezeichnet dort einen städtischen Block23. Er stellte in Hanoi damals die kleinste Verwaltungseinheit innerhalb der Grenzen des äußersten Befestigungswalls dar. Die Phuong bestanden aus einem Dorf oder mehreren kleinen Dörfern, von denen sich die meisten entweder auf die Produktion von bestimmten agrarischen Produkten, auf ein spezielles Handwerk oder auf den Handel spezialisiert hatten (vgl.: ORN/PHE 1994:

5/PHUC: 11.10.1999). Diese Spezialisierung der Dörfer verlieh dem Begriff Phuong im Laufe der Zeit eine zweite Bedeutung, die sich am ehesten mit Gilde oder Innung (hier in der Bedeutung als Vereinigung von Personen gleichen Berufs) übersetzen lässt (PHUC: 11.10.1999). Während sich die Handwerks- und Handelsdörfer eher auf das Gebiet um den Zusammenfluss der verschiedenen Arme des Roten Flusses mit dem To Lich-Fluss, also um das damalige Marktareal östlich der Kaiserstadt konzentrierten, lagen die Agrardörfer innerhalb des äußersten Stadtbefestigungswalls weit gestreut vor allem im Gebiet westlich der Kaiserstadt bis hin zur heutigen Kim-Lien-Region im Süden (DINH 1997: 1/PHUC: 11.10.1999).

Als Folge eines Prozesses des Zusammenwachsens und der fortschreitenden Verdich-tung der Dorfstrukturen entwickelte sich in der Zeit der Le-Dynastie im 15. Jahrhundert langsam eine Dauersiedlung auf dem Marktgebiet zwischen der Zitadelle der Kaiser-stadt und dem Roten Fluss (vgl.: PÉDELAHORE 1986: 112f.). In einer historischen Schrift von 1464 taucht erstmals der Begriff der sogenannten „36 Pho Phuong“ auf, wobei sich vereinfacht Pho mit Straße bzw. Gasse und Phuong mit den genannten zwei Bedeutungen übersetzen lässt (NISHIMURA/PHE 1990: 1; nach PHUC 1979). Diese

23 Noch heute bezeichnet Phuong die kleinste räumlich-administrative Verwaltungseinheit in vietnamesischen Städten.

zeichnung deutet darauf hin, dass sich ein Straßenmuster aus Gewerbegassen ähnlich dem der mitteleuropäischen Zunftstraßen des Mittelalters herausgebildet hatte.

Die Zahl 36 bezog sich hierbei auf eine unter der Le-Dynastie erfolgte räumliche Neu-gliederung der Verwaltungseinheiten des gesamten städtischen Gebiets24 und war in Verbindung mit dem entstehenden Handwerks-, Handels- und Marktviertel eher von symbolischer Bedeutung, da sie mit Sicherheit nicht die exakte Zahl der damals existie-renden Strassen wiedergab (PHUC: 1999). Die Bezeichnung „36-Gassen-Gebiet“ hat sich jedoch über Jahrhunderte hinweg durchgesetzt und wird auch noch heute – obwohl das Areal mittlerweile über 70 Strassen einschließt – verwendet.

Im 36-Gassen-Gebiet war jede Straße (pho) durch eine eigene Handwerks-, Verkaufs- oder Handelstätigkeit gekennzeichnet. Als erste europäische Beobachter weisen bereits BARON und DELAPORTE auf diese für viele asiatische Städte typische Warensortierung nach Straßen hin (vgl.: BARON 1954: 60/DELAPORTE 1954: 208).

Die Bewohner einer Gewerbegasse waren zumeist Migranten eines bestimmten Dorfes aus dem Rote Fluss Delta, mit dem sie weiterhin enge Beziehungen pflegten (vgl.:

PÉDELAHORE 1986: 101). Dies äußerte sich u.a. darin, dass nur Personen aus dem je-weiligen Herkunftsdorf die Erlaubnis hatten, ihre Produkte in der betreffenden Gasse anzubieten (vgl.: BARON 1954: 60/DELAPORTE 1954: 208). Reiche Händler waren in der Regel auch Großgrundbesitzer in ihren Heimatdörfern (NISHIMURA/PHE 1990: 6).

Handwerker und Händler des 36-Gassen-Gebiets nahmen weiterhin an Dorffesten ihrer Heimatgemeinden teil und leisteten für diese Abgaben oder legten ihre Gewinne dort in Ackerland an, was TUAN (1997: 9) zu der These veranlasst, sie seien keine Städter ge-worden, sondern hätten im Grunde ihren „ländlichen Charakter beibehalten“ (vgl.: auch DINH 1997: 3f./PHE 1997: 3). Auch FRANCHINI (1994: 122f.) betont den ruralen Cha-rakter Hanois, indem er sogar so weit geht zu behaupten, dass die vietnamesischen Städte in vorkolonialer Zeit im Prinzip nur eine Ansammlung von Dörfern gewesen seien: „Le village est une réunion de maisons comme la ville est une réunion de villa-ges“.

Der Grad der Autonomie in den jeweiligen Gassen war sehr hoch: Jeder pho wurde ei-genständig verwaltet, es gab eigene Pagoden (den) sowie ein eigenes Gemeinschafts- oder Versammlungshaus (dinh25), in dem die Notabeln tagten und wo sich die Schule

24 Die Einteilung des städtischen Gebiets in 36 Phuong blieb bis Ende des 18. Jahrhunderts erhalten (vgl.:

LE 1995: 90).

25 Näheres zu Rolle und Funktion der dinh im Rote Fluss Delta vgl.: ENDRES (2000: 44ff.).

befand. Die Schutzheiligen (than thanh hoang), in der Regel die gleichen wie in den Herkunftsdörfern, wurden in Tempeln (chua) geehrt. Jede Gasse stellte also zu jener Zeit ein mehr oder weniger autonomes Sozialgebilde dar, innerhalb der sich das Leben der Dorfgemeinschaft im Prinzip fortsetzte, so dass die simple Übersetzung von pho mit Gasse oder Straße die viel weitreichendere Bedeutung der pho bei weitem nicht erfasst (AZAMBRE 1955: 359). Die Autonomie der Gassen war so hoch, dass erst nach Ein-setzen der französischen Kolonialherrschaft im Jahre 1888 eine den pho übergeordnete Stadtverwaltung gegründet werden konnte26 (vgl.: AZAMBRE 1955: 359).

Die Eigenständigkeit der pho visualisierte sich auch räumlich durch Tore aus Mauer-werk oder Holzlatten, die die Gassen an ihrem Anfang und Ende voneinander trennten.

Diese wurden nachts geschlossen. Die Portale der größten Gassen waren mit Inschriften versehen, die entweder auf das in dieser Gasse vorzufindende Gewerbe hinwiesen oder mit 'Glücksprüchen' in chinesischen Schriftzeichen bemalt waren. AZAMBRE (1955:

359) weist darauf hin, dass bis zum Jahre 1886 die meisten dieser Portale noch exis-tierten. Ein bekanntes Gemälde aus dem Jahre 1884 zeigt das imposante, aus Ziegelstein errichtete Portal am Ende der Hang Ngang-Str. (vgl.: VUONG/LONG 1977: 130/VN 6.08.1999), welches den Eingang zum damaligen Chinesenviertel darstellte.

Die Handwerks-, Verkaufs- oder Handelstätigkeit kann man an der Namensgebung der Gassen ablesen: Hang bedeutet Ware(n) und ist den Namen der meisten Gassen als Prä-fix vorangestellt: Zum Beispiel arbeiteten in der Pho Hang Dao die Seidenfärber, in der Pho Hang Bac lebten die Silberschmiede und in der Pho Hang Duong wurden Zucker- und Backwaren verkauft. Noch immer ist hang den meisten der Straßennamen des 36-Gassen-Gebiets vorangestellt. Vielfach decken sich allerdings die Namen nicht mehr mit den heute verkauften Waren27.

26 Auch für die Dörfer im Rote Fluss Delta, die Herkunftsorte der Gewerbegassenbewohner, war der hohe Autonomiegrad typisch für die vorkoloniale Zeit, was durch das ‚vielzitierte’ Sprichwort „Das Gesetz des Kaisers weicht dem Brauch des Dorfes“ (phe vua thua le lang) illustriert wird (vgl.: JAMIESON 1993:

28f./GROßHEIM 1997A: 73). GROßHEIM (1997A: 73) weist allerdings darauf hin, dass dieses Sprichwort erst mit der Emanzipation des Dorfes als autonomes Sozialgebilde im 18. und 19. Jahrhundert seine

weitgehende Gültigkeit gewann.

27 Eine vollständige Liste aller Strassen, deren Namen auf ein traditionelles Gewerbe hinweist, ist dem Anhang unter der Tab. Nr. 15 beigefügt. Nähere Informationen zur Geschichte und Entwicklung der traditionellen Gewerbegassen finden sich u.a. bei BURKE (2001).

Die Familienverbände wohnten, arbeiteten und verkauften die von ihnen handwerklich hergestellten Produkte in sogenannten Tunnel- oder Rohrhäusern28, die noch heute cha-rakteristisch für das 36-Gassen-Gebiet sind. Dieser traditionelle Haustyp weist eine sehr schmale Straßenfront von zwei bis vier Metern, aber eine Länge zwischen 20 und 60 Metern (in einigen Fällen von sogar bis zu 150 Meter) auf (MOC/INSTITUTE ON

ARCHITECTURE 1999: 18). In vorkolonialer Zeit hatten die Tunnelhäuser in der Regel zur Straßenseite hin ein Stockwerk29. Der Vorderraum erstreckte sich über die gesamte Fassadenbreite und diente tagsüber als Verkaufsfläche und nachts als Schlafraum. In der Vertikalen war dieser häufig durch ein über eine Bambusleiter erreichbares, aus Holz gebautes Zwischengeschoss (Mezzanine) unterteilt, welches als Schlaf-, Lager- oder als Fluchtraum bei Überschwemmungen diente (vgl.: Abb. Nr. 10). In einem Tunnelhaus lebten drei bis vier Generationen einer Familie unter einem Dach.

Abb. Nr. 10: Mezzanine und Innenhof in einem Tunnelhaus Typisches Zwischengeschoß eines

Tunnelhauses

Quelle: verändert nach: Nishimura/Phe 1990. S. 35.

Traditioneller Innenhof eines Tunnelhauses

Eigene Aufnahme, März 1998.

In der Horizontalen wurden die Tunnelhäuser durch ein bis drei Innenhöfe unterteilt, die bei den wohlhabenderen Handwerkern und Händlern häufig mit Zierpflanzen ge-schmückt wurden (vgl.: Abb. Nr. 10). Die Innenhöfe spielten (und spielen auch heute noch) eine wichtige Rolle: Sie dienten der Ventilation, als Tageslichtquelle, als

28 In der Literatur wird je nach Autor eine dieser beiden Bezeichnungen für den gleichen Haustyp synonym verwandt. Im Folgenden wird vom Verfasser ausschließlich die Bezeichnung Tunnelhaus gebraucht.

29 NISHIMURA/PHE (1990: 4) weisen darauf hin, dass erst nach Einsetzen der französischen Kolonialherrschaft eine Abkehr von der bislang dominierenden einstöckigen hin zur zweistöckigen Bauweise der Tunnelhäuser erfolgte (siehe Kap. 2.3.3).

gangswege, als Erholungsräume sowie auch als Ort für die täglichen häuslichen Akti-vitäten (PÉDELAHORE 1986: 118/MOC/INSTITUTE ON ARCHITECTURE 1999: 18).

Über die Genese der Tunnelhäuser existieren verschiedene Theorien: Manche Historiker führen sie auf über Jahrhunderte fortwährende Grundstücksteilungen im Zuge der Erb-folge zurück, andere haben die Theorie entwickelt, dass sie sich aus Marktständen ent-wickelt haben, die über Nacht oder zwischen Marktzeiten nicht genutzt wurden, da die Händler oder Handwerker in Dörfern außerhalb des Marktgebiets lebten (vgl.:

NISHIMURA/PHE 1990: 6/18/COHEN: 1994). Andere Theorien geben an, dass Steuern in Abhängigkeit von der Fassadenbreite zur Entstehung der Tunnelhäuser geführt haben und dass das Verbot, Häuser höher als die Bauten der Kaiserlichen Paläste zu errichten, überwiegend eingeschossige Bebauung zur Folge hatte (vgl.: COHEN: 1994/LOGAN

1994: 50/MOC/INSTITUTE ON ARCHITECTURE 1999: 19). Der Architekt THU geht in seiner Dissertation von einem bäuerlichen Anwesen als Keimzelle aus, welches sich im Verlauf verschiedener Entwicklungs- und Ausbauphasen vom 15. bis zum 20.

Jahrhundert zum Tunnelhaustyp modifiziert habe (vgl.: Abb. Nr. 11) (vgl.: THU 1991:

32f./TUAN 1995: Abb. 03).

Tunnelhäuser sind im Übrigen keine Besonderheit Hanois, sondern tunnelhausähnliche Haustypen entstanden - gekoppelt an Marktorte - in vielen städtischen Gebieten Viet-nams sowie Ost- und Südostasiens (NISHIMURA/PHE 1990: 18).

Abb. Nr. 11: Entwicklungsphasen eines städtischen Tunnelhauses

Die Entwicklungsphasen eines städtischen Tunnelhauses vom 15. bis zum 20. Jahrhundert

1. Phase 2. Phase:

3. Phase 4. Phase

(15.-16. Jh.): Wohnhäuser mit Laden in der Stadt

(17. Jh.): Lückenbebauung, Grundstücksteilungen durch Aufteilung des Erbes (18. Jh.): Weitere Verkleinerung der Grundstücke

(19.-20 Jh.): Weitere Grundstücksteilungen, Aufstockungen Quelle: verändert nach: Schnepf-Orth/Thu 1998: 42; nach: Thu 1991. S. 32.

Neben den Vietnamesen, die innerhalb des 36-Gassen-Gebiets vor allem im Handwerks-sektor und im Einzelhandel die maßgebenden Akteure waren, spielten auch die ein-gewanderten Chinesen eine sehr wichtige Rolle im Wirtschaftsleben.

Im Dokument Stadtentwicklung von Hanoi (Seite 59-64)