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III.  Verlorene Söhne

III.4.   Gattungsverortung

The Game selbst erwähnt unterschiedliche Werke verschiedenster Gattungen vom  Kochbuch, über das Internetdokument bis hin zum Klassiker der Weltliteratur. Wenn  auch eine eindeutige Einordnung nicht möglich ist, so soll doch der Versuch unternom‐

men werden, den Zwischenraum einzugrenzen, in dem sich der Text selbst ansiedelt. 

Dabei geht es vor allem um das Aufzeigen der Inszenierungen von Gattungsstrategien,  die verwendet werden. Das ermöglicht eine Herleitung verschiedener Hypothesen für  den Anspruch des Textes, die Durchmengung von unterschiedlichen ästhetischen Ver‐

fahren sowie für die Rezeption der Erzählung. Am nächsten kommt der Text der von  David Oels vorgeschlagenen Definition des „populären Sachbuchs“: 

Das populäre Sachbuch ist kein Fachbuch, in dem wissenschaftliche Ergebnisse nah an  jener Komplexität abgehandelt werden, mit denen sie in hoch spezialisierten Forschungs‐

disziplinen entwickelt worden sind. Gleichwohl hat das populäre Sachbuch immer auch  den Anspruch, Fachwissen zu recherchieren, aufzubereiten und so zu übersetzen [...] Das  populäre Sachbuch ist aber auch kein Lehrbuch, in dem diese Übersetzungsleistung da‐

rauf angelegt ist, den Lesern prüfungs‐ oder praxisrelevantes Wissen zu vermitteln. 

Gleichwohl macht es immer den Eindruck, den Leser an einem Wissen teilhaben zu las‐

sen, dass man in einem ganz weiten Sinn als „lebensrelevant“ bezeichnen kann: Es muss  eben etwas mit dem Leben des Lesers zu tun haben und ihm für die eigene Lebensführung  irgendetwas anbieten, um sein Interesse zu wecken und ihn bei der Stange zu halten.485 

Auch The Game verwendet „Plotstrategien“486 unterschiedlicher Gattungen, denen hier  nachgegangen wird, um den Text genauer zwischen Fach‐ und Lehrbuch zu verorten. 

Zunächst handelt es sich um das Spiel mit der Lesererwartung gegenüber der Gattung  Roman. Der autodiegetisch‐extradiegetische Erzähler Neil Strauss berichtet von seiner  Transformation vom AFC zum Pickup Artist.487 Die erzählte Zeit der elf Lektionen umfasst  ungefähr zwei Jahre. Bisweilen lösen andere Pickup‐Artists als intradiegetische Sprecher  den Rahmenerzähler ab. Die Handlung wird chronologisch erzählt, abgesehen von der  ersten Lektion, welche eine Prolepse darstellt. Zahlreiche Verweise auf die Authentizität  des Erlebten und Beteuerungen der Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren sich in ih‐

rer Summe als Teil einer Authentifizierungs‐ und „Kredibilisierungsstrategie“, die auf  Grund ihrer Expliziertheit wiederum fiktionalen Charakter erhält. Im Mittelpunkt dieser  Strategien steht der Autor als Träger eines Erfahrungswissens, der sich bewusst vom 

      

485 David Oels: Vorwort der Herausgeber. Auf dem Weg zu einem Sachbuchkanon. In: Non Fiktion. 2007/4, S. 108–115, hier S. 110. 

486 „Das aber erreicht das Sachbuch nicht zuletzt dadurch, dass es seine Leser unterhält. Zwar ist es kein Krimi, kein Thriller, kein 

Abenteuerroman, kein Science Fiction, keine Liebesgeschichte, keine Familiensaga. Gleichwohl übernehmen Sachbücher gerade  aus diesen literarischen Genres ihre Plotstrategien.“ Ebd. 

487 Wenn es sich auch um einen extradiegetischen Erzähler handelt entfernt er sich doch nie weit von der Handlungsebene. 

Akademiker als „Experte“ abzusetzen versucht.488 Die daraus resultierende „Hyperwis‐

senschaftlichkeit hat zur Konsequenz, dass im populären Sachbuch auf unkontrollierte  Weise das wilde Wissen wuchert.“489 Die Textstrategie verfolgt hierzu eine Authentifi‐

zierung des Autors und seiner Expertenrolle. In die Nähe des autobiografischen Berichts  rückt das Narrativ insofern, als dass es sich um einen autodiegetischen Erzähler handelt. 

Protagonist und heterodiegetischer Erzähler sind nahezu gleich. Die Berichte von Begeg‐

nungen der Protagonisten mit Personen des öffentlichen Lebens dienen als Versicherun‐

gen der Wahrhaftigkeit und sind Teil der Authentifizierungsstrategie der Erzählung. Die  aus der realen Welt bekannten Tom Cruise, Courtney Love, Britney Spears und Paris Hil‐

ton werden in die Geschichte als Realitätsindikatoren eingebunden.490 Im Gegenzug bil‐

den die Acknowledgments eine Brücke zwischen histoire und Historie, insofern hier vom  Leben der Personen der Geschichte jenseits der erzählten Zeit berichtet wird. Ebenso  zählen Verweise und Hintergrundinformationen zu real existierenden Orten, zu Zei‐

tungsartikeln  und  Filmen  zur  Authentifizierungsstrategie.  Diese  plausibilisiert  die  Behauptung des Epigraphs: 

THE FOLLOWING IS A TRUE STORY. IT REALLY HAPPENED. 

Men will deny it,  Women will doubt it,  But I present it to you here,  Naked, vulnerable, and  disturbingly real. 

I beg you for your forgiveness in advance. 

 

DON'T HATE THE PLAYER...HATE THE GAME. (TG, P. 10) 

Es handelt sich dem „Paratext“491 gemäß also um eine wahre Geschichte. Wieder und  wieder wird bezeugt, dass diese wirklich passiert sei. Das lädt den folgenden Inhalt mit        

488 „Bei allen anderen populären Sachbüchern gilt: Bloß keine akademischen Titel nennen! Hier werden vor allem die Paratexte 

genutzt, um im Gegenteil dem jeweiligen Text zu bescheinigen, anti‐, neben‐, über‐ oder hyperwissenschaftlich zu sein und ge‐

rade deshalb einen unverstellten Blick auf die Wirklichkeit und deshalb einen unmittelbareren Zugriff auf die Wahrheit zu haben. 

Diese Ausrichtung auf Anti‐, Neben‐, Über‐ oder Hyperwissenschaftlichkeit hat zur Konsequenz, dass im populären Sachbuch auf  unkontrollierte Weise das wilde Wissen wuchert. Zwar sind die Sachbuchautoren immer auch Experten [...]. Doch leben die  Bücher zugleich davon, in ihnen immer auch viel gemeint, geahnt, geglaubt, vermutet, aber dennoch in starken Behauptungen  vorgeführt wird. Gestärkt werden diese Behauptungen zum einen durch den Verweis auf persönliche Erfahrungen und Recher‐

chen des Autors. Zum anderen werden sie gestärkt von dem, was aus anderen [...] abgeschrieben, paraphrasiert, montiert, über‐

setzt, weitergesponnen, auf jeden Fall mehr oder weniger unkommentiert integriert wird.“ Ebd., S. 112. 

489 Ebd. 

490 „Damit ist nicht gesagt, daß die jeweils offensichtlichsten Vertreter einer hegemonialen Männlichkeit auch die mächtigsten Män‐

ner sind. Sie können Vorbilder sein, zum Beispiel Filmschauspieler, oder auch Phantasiegestalten wie Filmfiguren.“ Connell, 2006,  S. 98. Und „,Die Masken des Begehrens‘ bzw. die ,Masken der Sexualität‘ treten nirgends deutlicher zutage als im Bereich der  Literatur, die schon immer ein Spiel mit fiktiven Identitäten war und daher nicht zufällig das Maskerade Thema aufgreift. [...] 

Andere Autoren haben andere Masken gewählt: die des Dandys des müden Jünglings, des kalten Zynikers oder des charismati‐

schen Helden, der alte Masken heroischer Männlichkeit und Autorschaft wiederbelebt – um nur einige Maskierungen moderner  Autorschaft im 20. Jahrhundert zu nennen. Renate Berger hat in ihrer Biographie über den Tänzer und Schauspieler Rudolfo  Valentino (2003) gezeigt, wie sich durch den Film die Masken des Männlichen [...] zwar enorm vervielfältigt haben, dass hinter  allen Maskierungen das ambivalente Bild des ,Gigolo‘ – des begehrten und zugleich verachteten ‚schönen Mannes‘ – jedoch  immer als melancholische Figuration erkennbar bleibt.“ Stephan, 2003, S. 23. 

491 Oels, 2007, S. 112. 

Spannung auf und lässt, schon bevor die eigentliche Handlung einsetzt, selbige zwischen  faktualer und fiktionaler histoire changieren. 

Gleichzeitig tritt der dritte Eckpunkt des Zwischenraums hervor – die Dokumentation. 

Der autodiegetische Erzähler nimmt sich hier zurück und beansprucht das Folgende 

„[n]aked,  vulnerable,  and  disturbingly  real“  zu  präsentieren.  „Don’t  hate  the  player...hate the game“ – nicht von sich selbst berichte er, sondern vielmehr vom Titel  gebenden Game. Damit verdeckt er seine eigene Bedeutung in Bezug auf die poetische  Funktion. Vielmehr inszeniert er das Narrativ als schonungslosen dokumentarischen Be‐

richt. Neil Strauss‘ Text verknüpft geschickt die Funktion des Erzählers mit der des Au‐

tors, der im richtigen Leben auch als Journalist für den Rolling Stone tätig ist. Die Inter‐

views mit Tom Cruise, Courtney Love und Britney Spears dienen also nicht nur als Reali‐

tätsindikatoren, sondern beglaubigen auch die Rolle des Autors wahrer Geschichten. 

Den dokumentarischen Charakter prägen auch die zitierten MSN‐Group Protokolle, ei‐

gens geschriebenen Gedichte und sonstige zitierte Quellen. Doch auch sie wurden se‐

lektiert und kombiniert und auch hinsichtlich der poetischen Funktion editiert. An zahl‐

reichen Stellen thematisiert Neil Strauss seine zweifache Rolle und reflektiert kritisch  den Konflikt, der sich auf Grund seines Doppellebens als Journalist und Pickup Artist  ergibt. Auslöser für den Konflikt ist schließlich sein Artikel in der New York Times über  die Subkultur der Seduction Community, dessen Erscheinen in die Periode der erzählten  Zeit fällt. Die Reflexion der Konsequenzen des Artikels sowie die Exposition als journa‐

listischer Autor verstärken die dokumentarische Färbung des autodiegetischen Berichts. 

Der Untertitel „PENETRATING THE SECRET SOCIETY OF PICKUP ARTISTS“ offenbart au‐

ßerdem, dass es sich um eine Dokumentation handelt, die auch ein voyeuristisches In‐

teresse einer Klientel bedient, die insbesondere nichts mit der der Pickup Coaches ge‐

meint hat. Deren Interesse richtet sich auf unterschiedliche Aspekte. Zum einen mag es  das Klischee vom bedürftigen Mann bedienen, dem jedes Mittel recht ist, eine Frau für  seine egoistischen Zwecke zu verführen. Zum anderen fasziniert der Umstand, dass der  vermeintlich natürliche und ungezwungene Flirt in der Bar vor einiger Zeit nicht so un‐

gezwungen und natürlich war wie vermutet. Dass also Zwischenmenschliches decodiert 

und erlernbar ist. Der von den Mitgliedern der Seduction Community ausgehende ‐Sta‐

tus von Sonderlingen ist sicherlich ein weiterer Grund, sich für eine schonungslose Do‐

kumentation über sie zu interessieren.492 

Der letzte Eckpunkt des Zwischenraumes, in dem der Text zu verorten ist, bildet das  Genre des Ratgebers als Sonderform des Lehrbuchs. Auch wenn auf The Game noch ein  weiteres Buch namens The Rules of the Game493 folgt, so finden sich doch bereits in The  Game selbst genügend implizite wie explizite Tipps, Tricks und Hinweise, die eine Ein‐

ordnung des Textes in den Bereich der Ratgeberliteratur rechtfertigen. Anhand der klas‐

sischen Transformationsgeschichte des autodiegetischen Erzählers inszeniert der Text  über die elf Lektionen hinweg eine additive Akkumulation von Verführungswissen. Die  Gestaltung des Hauptcharakters Neil Strauss als Average Frustrated Chump zu Beginn  des Romans bietet insbesondere der Kernleserschaft der Pickup Coaches eine Identifi‐

kationsfigur. Der Text verspricht diesem Publikum als autodiegetischer Bericht, ein Rat‐

geber in Verführungsangelegenheiten zu sein. Als solcher lässt er den Leser an den po‐

sitiven und negativen Erfahrungen des Protagonisten teilhaben und verheißt eine Erwei‐

terung des Erfahrungswissens durch den Leseakt. Die Klientel wird erweitert, bezie‐

hungsweise die Verwertbarkeit des er‐lesenen Erfahrungswissens wird dadurch legiti‐

miert, dass an mehreren Stellen darauf verwiesen wird, dass die Erkenntnisse im Laufe  der Transformation durchaus auch jenseits der klassischen Verführung genutzt werden  können – beispielsweise um die eigene Karriereaussichten zu steigern. Das geht über  das Verführungswissen hinaus und dient der übergeordneten Transformation der Pro‐

tagonisten. 

In diesem Zwischenraum also, zwischen romanhaften Inszenierungsstrategien des auto‐

biographischen Autors, der Dokumentation und des Ratgebers, ist der Text als „Bas‐

tardliteratur“494 zu verorten. Er ist lokalisiert an den Grenzen faktualer und fiktionaler  Erzählungen, zwischen persönlichem Erlebnisbericht und Dokumentation, zwischen his‐

      

492 In Deutschland ist die Wahrnehmung der Pickup‐Community von einem Diskurs geprägt die den Pickup als  Sonderlings präsen‐

tiert. Als solche wird er beispielsweise im 2013 erschienen Film „Die Verführungskünstler“ vor‐, oder aber auch im Abendpro‐

gramm von Pro7 in der Sendung Circus Halligalli ausgestellt: Vgl. Johanna Bentz: Die Verführungskünstler, 13. Filmfest Frauen‐

Welten vom 20. bis 27. November 2013 in Tübingen 2013 und ZDFneo: neoParadise ‐ Olli Schulz Pickup Artist Teil 1 (25.10.). 

ZDFneo (Reupload). neoParadise, http://neoparadise.zdf.de (27.10.2012) 2012. 

493 Neil Strauss: Rules of the Game, New York 2007. 

494 „Weil Sachbücher also immer auch (mehr oder minder nachdrücklich) wissenschaftlich sind, aber keine Fachbücher sein wollen; 

weil sie immer auch anwendbares Wissen vermitteln, aber keine Lehrbücher sein wollen; weil sie wie Krimis oder Abenteuerer‐

zählungen unterhalten, aber weder Krimis noch Abenteuererzählungen sein wollen, sind sie – nicht zu Unrecht – als „Bastardli‐

teratur“ bezeichnet worden: eigentümliche Zwitterwesen, die man nicht wirklich genau bestimmen kann, weil sie sich nicht an  Grenzen halten und eher davon leben, dass sie vom experimentellen Grenzübertritt leben.“ Oels, 2007, S. 111. 

toire und Historie, zwischen Konfessions‐Literatur und Pickup‐Ratgeber. Gerade in die‐

ser Amalgamierung von Gattungen mag der Erfolg dieses „populären Sachbuchs“ liegen. 

Zum „parasitären“495 Charakter des populären Sachbuchs schreibt Oels: 

Weil durch diese Strukturmechanismen neben der Adaptionsgeschwindigkeit auch die  Produktionsgeschwindigkeit für populäre Sachbücher hoch gehalten werden muss, wird  hier neben einem bestimmten Thementyp auch ein ganz besonderer Autorentyp bevor‐

zugt: Der muss gegenwartsorientiert und trendbewusst sein. Er muss den Leser im Blick  haben. Er darf weder im Hinblick auf die Recherche noch im Hinblick auf die Ausarbeitung  skrupulös arbeiten. Er muss im Gegenteil ein abgeklärter Schnell‐ und Vielschreiber sein  (oder die Anlage dazu haben), der seine Aufträge  professionell erledigt. Dementspre‐

chend ist es dann eben auch kein Zufall mehr, dass es vor allem die Journalisten und nur  in seltenen Fällen die etablierten Wissenschaftler sind, die erfolgreiche populäre Sach‐

bücher schreiben.496 

Das mag sowohl ein Erklärungsansatz für den Stil des Textes sein. Interessant ist, wie  sehr der Autor um eine Verschränkung von erlebter und erzählter Ebene als Journalist  bemüht ist. Der dokumentarische Charakter dient, ähnlich wie der autobiografische Be‐

richt, der Beglaubigungsstrategie des zu vermittelnden Wissens. Der Text inszeniert in  den zahlreichen Praxisbeispielen der Verführung im Roman, dass es sich nicht um ein  theoretisches, sondern um ein praktisches Wissen handelt. Das How‐To‐Knowledge be‐

steht den Praxistest in der erzählten Zeit. Die oben erwähnten Realitätsindikatoren, das  Changieren zwischen histoire und Historie sowie die Doppelrolle des Autors, beteuern  die Kredibilität des Erzählten. Der Text ist daher glaubwürdiger als ein akademisches  Lehrbuch, das nur theoretisches Wissen vermitteln würde. Als autobiografischer Bericht  ist er auch glaubwürdiger als ein fiktionaler Roman. Er beansprucht die Wahrheit über  das Wissen von der Verführung zu vermitteln und die wahre Geschichte von Neil Strauss  zu  erzählen,  der  sich  durch  die  Aneignung  von  Verführungswissen  vom  Average  Frustrated Chump angeblich zu einem der größten Verführungskünstler der Welt entwi‐

ckelt. Die Poetologie ist einzig und allein auf die Beglaubigung dieses Plots ausgerichtet.

      

495 „Was im populären Sachbuch steht, ist deshalb niemals wirklich neu, sondern eben immer adaptiert: Es wird aufgenommen, 

erweitert, verbreitert und dabei mit anderen Diskursen verknüpft. Deshalb ist auch kein Zufall, dass Sachbücher als ‚parasitär‘ 

bezeichnet worden sind. Eigenständig sind sie nur, insofern sie sich von Bestehendem nähren können, das sie dann eigenverant‐

wortlich weiterbearbeiten.“ Ebd., S. 109. 

496 Ebd.