II. Casanova reloaded
II.1. Einleitung: Das Vorbild Casanova
„Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie.“
Als Les Liaisons Dangereuses 1782 veröffentlicht werden, ist die historische Gestalt Gia‐
como Casanova bereits 58 Jahre alt. Seine größten Abenteuer liegen hinter ihm. Die Ge‐
schichte seiner Flucht aus den Bleikammern ist bereits eine Legende.200 Er stand zu die‐
sem Zeitpunkt wiederholt in Staatsdiensten, musste immer wieder vor der Polizei quer durch Europa flüchten und wurde mehrfach eingekerkert, galt als Spieler und war be‐
reits Direktor der französischen Staatslotterie. Er gehörte zu den reichsten Männern sei‐
ner Zeit und saß im Schuldgefängnis. Er philosophierte mit Voltaire, lehnte eine Anstel‐
lung bei Friedrich dem Großen ab, lernte Katharina die Große kennen. Sein Netzwerk an Reiserouten erstreckt sich 1782 im Westen von London über Paris bis nach Madrid; im Süden von Valencia über die gesamte nördliche Mittelmeerregion bis hin nach Istanbul und von dort zu seinen nordöstlichsten Reisezielen Moskau und St. Petersburg. Mit sei‐
nen 58 Jahren ist er des Reisens müde und froh, seit 1774 für eine für ihn außergewöhn‐
lich lange Zeit wieder in seiner geliebten Heimat Venedig zu sein. Doch wegen eines Pamphlets gegen einen Aristokraten, wird er ein final aus Venedig verbannt. An Opitz schreibt er am 22. September 1782:
Ich bin 58 Jahre alt, ich kann nicht zu Fuß gehen. Der Winter ist im Anzug, und wenn ich daran denke, wieder Abenteurer zu werden, muß ich bei einem Blick in den Spiegel la‐
chen.201
Laut seiner eigenen Aussage befindet er sich ein Jahr vor dem Beginn seines dritten und letzten Lebensaktes:
Der zweite endete bei meiner Abreise aus Venedig im Jahre 1783. Das Ende des dritten Aktes wird aller Wahrscheinlichkeit nach hier stattfinden, wo ich mich mit der Nieder‐
schrift dieser Memoiren vergnüge. Dann wird das Stück aus sein... Wenn man es aus‐
pfeift, hoffe ich, daß es mir nicht mehr zu Ohren kommt...202
Mit „hier“ meint Casanova 1785 bereits die nordböhmische Kleinstadt Dux, in der seine physischen Reisen durch Europa ein Ende nehmen und das Verfassen seiner Histoire de ma vie beginnt. Die historische Gestalt Giacomo Casanova rückt ab diesem Zeitpunkt
200 Casanova veröffentlicht die Geschichte zu seiner Flucht aus den Bleikammern allerdings erst 1788 zum Amusement seiner euro‐
päischen Leserschaft.
201 Giacomo Girolamo Casanova: 22. September. In: F. Kohl (Hg.): Ciacomo Casanova Briefwechsel mit J.F. Opitz. 1922 – Mit einem
Nachwort der Herausgeber und einigen Abb, Berlin 1922, hier S. 110.
202 Peter Quennel: Der Verführer in der Literatur. In: E. Loos, H. von Sauter (Hg.): Giacomo Casanova. Chevalier de Seingalt. Ge‐
schichte meines Lebens. Mit einem Essay von Peter Quennell 'Der Verführer in der Literatur'. Herausgegeben und eingeleitet von Erich Loos. Erstmals nach der Urfassung ins Deutsche übersetzt von Heinz Sauter, Berlin 1964, S. 9–39, hier S. 23.
mehr und mehr in den Hintergrund.203 Ab dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung 1822 tut es die Editions‐ und Wirkungsgeschichte der Memoiren ihrem Autor gleich und über‐
steigt die nationalen Grenzen. Die mannigfachen Ver‐ und Bearbeitungen Casanovas Memoiren im Bereich der Musik, der Literatur und des Films haben die historische Ge‐
stalt längst hinter den Mythos ‚Casanova‘ zurücktreten lassen.204
Der Zeitraum zwischen 1899–1933, beginnend mit Hugo von Hofmannsthals Casanova‐
Rezeption Der Abenteurer und die Sängerin, gilt für die literarische Rezeption im deutschsprachigen Raum als produktivste Epoche.205 Für diese Jahre zählt Carina Lehnen allein 25 Casanova‐Titel.206 Um 1900 ist es noch die sogenannte édition originale und deren Auswahlbearbeitungen, welche das Casanova‐Bild maßgeblich prägen.207
Es sind keine Dokumente vorhanden, die begründen, warum der Versuch scheiterte, ei‐
nen ersten Teil der Memoiren zu Lebzeiten zu veröffentlichen. Das in den Jahren zwi‐
schen 1790–1798 auf Schloss Dux von Casanova verfasste und vielfach überarbeitete Manuskript geht als Erbe an den Großneffen Casanovas, Carlo Angiolini, welcher es am 18. Januar 1821 an F. A. Brockhaus verkauft. Ludwig Tieck, der neben anderen das Werk prüft, bietet sich gar als Mitherausgeber an. Nach der Übersetzung ins Deutsche von Wilhelm Schütz erscheint der erste Band 1822. Der durchschlagende Erfolg dieses ersten Bandes sichert die folgende Bearbeitung und Herausgabe weiterer elf Bände bis zum Jahr 1828.208 Schon der erste Band regte etliche französische Übersetzungen an, so dass Brockhaus wenig später Jean Lafourge, einen Professor für Französisch, mit der franzö‐
sischen édition originale beauftragt. Unter dem Titel ‚Mémoires de J. Casanova de Sein‐
203 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Existenz der realen Person sogar ganz angezweifelt.: „Als die Memoiren dieser Persön‐
lichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum ersten Male veröffentlicht wurden, geschah es, daß manche besonders kritische Leser die Existenz Casanovas rundweg ableugneten und die Lebensgeschichte als literarische Erfindung betrachteten.“ Erich Loos: Einleitung des Herausgebers. In: E. Loos, H. von Sauter (Hg.): Giacomo Casanova. Chevalier de Seingalt. Geschichte meines Lebens. Mit einem Essay von Peter Quennell 'Der Verführer in der Literatur'. Herausgegeben und eingeleitet von Erich Loos.
Erstmals nach der Urfassung ins Deutsche übersetzt von Heinz Sauter, Berlin 1964, S. 39–63, hier S. 39. Das Amalgam von Lite‐
rarischem und Autobiografischem, welches der Lebensgeschichte Casanovas inhärent ist, fördert die darauf folgende Legenden‐
bildung und Mythisierung der historischen Figur bis hin zum Sinnbild des Verführers.
204 Für einen Überblick bis 1995 vgl. James Rives Childs: Casanoviana. An annotated world bibliogr. of Jacques Casanova de Seingalt
and of works concerning him. Gekürzte deutsche Übersetzung der einleitenden Darstellung. In: Memoiren, Bd. 3, Hamburg 1959, S. 306–321, hier S. 306–321.
205 Für Carina Lehnen setzt mit Hofmannstahls Casanova‐Bearbeitung eine ausführliche Rezeption der Memoiren in der Wiener Mo‐
derne ein. Mit dem Jahr 1933 endet für die deutschsprachige Rezeption die Epoche der breitesten Casanova‐Rezeption. In meiner Arbeit folge ich ihrer Begründung zur Eingrenzung des Forschungszeitraums. Vgl. Lehnen, 1995, S. 10–11 und ebd., S. 43.
206 Vgl. ebd., S. 10.
207 Für einen kurzen Überblick zur Editionsgeschichte des Original‐Manuskripts vgl. Loos, 1964, S. 40–43. „So ist die große Zahl von
Forschern, die sich um eine möglichst genaue Ausgabe der Memoiren und um die Klärung vieler Einzelfragen bemühten – die bisher jüngste und umfassendste Casanova‐Bibliographie von J. Rives‐Childs führt bis 1956 nicht weniger als 1937 Titel auf –, weit über ein Jahrhundert lang auf die fragwürdige édition originale von J. Lafourge angewiesen geblieben.“ Ebd., S. 43. Meine Darstellung der Editionsgeschichte geht im wesentlichen auf den kurzen Überblick von Loos zurück sowie auf die ausführliche Besprechung der édition originale von Gerd Forsch, vgl. Gerd J. Forsch: Casanova und seine Leser. D. Rezeption von Casanovas Histoire de ma vie in Deutschland, Frankreich u. Italien; with a summary in English, Reinbach‐Merzbach 1988, S. 22–42.
208 Es oblag dabei Wilhelm von Schütz für den Deutschen Leser zu anstößige Stellen einfach zu streichen. Vgl. Loos, 1964, S. 41.
galt écrits par lui‐même‘ erscheinen die ersten vier Bände zwischen 1826–1827. Es fol‐
gen die Bände fünf bis acht bis 1832. 1838 liegen alle zwölf Bände in französischer Spra‐
che vor. Doch Laforgues Verständnis seiner édition originale verdeutlicht, dass seine Ausgabe deutlich vom Original abweicht. So erklärt er in seinem Vorwort, Italianismen und Latinismen sowie grammatikalische Fehler des Italieners Casanova korrigieren und in Anbetracht des erforderten „Zartgefühls seiner Zeitgenossen“ einige kritische Stellen auslassen und verschleiern zu müssen. Erst mit der in den Jahren 1960–1962 veröffent‐
lichten zwölfbändigen französischen édition intégrale, welche abgesehen von Orthogra‐
phie und Interpunktion unverändert dem Original‐Manuskript folgt, beginnt die Ausei‐
nandersetzung mit der Urfassung Casanovas Lebensgeschichte. Das von deutschen und französischen Zensurbehörden als unmoralisches Machwerk angegriffene Original‐Ma‐
nuskript war seit der Leipziger Buchmesse 1827 vom angesehenen Verlag Brockhaus un‐
ter Verschluss gehalten worden, was die Auseinandersetzung mit der Biografie nur noch steigerte. Die viel zitierte Casanova‐Bibliographie von J. Rives‐Childs zählt im Jahr 1956 1037 Titel unter denen die deutschen Ausgaben mit 104 Bearbeitungen noch vor den französischen mit 91 und englischen mit 43 rangieren.209 Zu den von Lafourge in der Einleitung seiner édition originale geäußerten Argumenten für eine ‚Korrektur‘ des Ma‐
nuskripts heißt es in der ersten zwölfbändigen deutschen Ausgabe unter dem Titel Gia‐
como Casanova. Chevalier de Seingalt. Geschichte meines Lebens herausgegeben von Erich Loos aus dem Jahr 1960 im Vorwort des Herausgebers:
Derartige Grundsätze für die Herausgabe eines literarischen Textes müssen nicht nur den Philologen abenteuerlich anmuten, sondern werden heute jedem Interessierten unglaub‐
lich erscheinen. Da sich der Verlag F. A. Brockhaus vor wenigen Jahren entschlossen hat, die so wohlbehütete Urfassung endlich zugänglich zu machen, sehen wir nun, daß Casa‐
novas Französisch gewiß eigenwillig, aber keineswegs fehlerhaft ist, daß sein Stil ein durchaus persönliches Gepräge hat und keiner Glättung und Korrektur bedarf. [...] Wäh‐
rend Casanova stets klar und kurz auch verfängliche Situationen beschreibt, besteht La‐
fourges Technik darin, solche Szenen durch scheinbare Verhüllung in so raffinierter und genießerischer Weise auszumalen, daß im Grunde das Gegenteil der vorgeblichen Ab‐
sicht erreicht wird. [...] Und diese sogenannte „Original‐Ausgabe“ ist das Fundament der ganzen Casanova‐Forschung seit mehr als einem Jahrhundert gewesen und geblieben [...].210
Auch das Casanovabild der Wiener Moderne geht zu großen Teilen auf Lafourges édition originale zurück. Nur allzu gut passt die schwüle Erotik Lafourges‘ Ausgabe zur vorherr‐
209 Vgl. ebd., S. 43–44.
210 Ebd., S. 42–43.
schenden öffentlichen sexuellen Restriktion des 19. Jahrhunderts und führt zu einer ‚dis‐
kursiven Explosion‘.211 Viele der von Rives‐Childs aufgezählten Ausgaben erscheinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sammlungen bzw. Auswahlen insbesondere der „scènes amoureuses avec trop de détail“ wie Gerd. J. Forsch das Vorwort der Amours et Aventures de Jacques Casanova, eine der erfolgreichsten Editionen seiner Zeit, zi‐
tiert.212 Casanovas Memoiren werden für pornografische Sammlereditionen kleiner Auf‐
lagen benutzt und auf ihre sexuellen Inhalte reduziert. Sie dienen vor allem dem wach‐
senden Interesse am Wissen über die männliche Sexualität als diskursive Folie und prä‐
gen das Bild von der ‚weiblichen Psyche‘:
Den zweideutigen Ruf Casanovas weiter zu verfestigen, waren jene Erotica indes bestens geeignet, wobei man aus heutiger Sicht freilich wird sagen müssen, daß sich an ihrer Beliebtheit das vorrangige Interesse des 19. Jahrhunderts gerade an der männlichen Se‐
xualität deutlich dokumentiert. Unzählige ‚Männergespräche’, die unter kaum bewußter Geringschätzung der Frau um ‚das eine Thema’ kreisten, möchten den legendären Vene‐
zianer als Kronzeugen anführen und manch braver Familienvater war durch die Kenntnis der Ableger seiner berüchtigten Memoiren in die Lage versetzt, sich als genießerischer Kenner der weiblichen Psyche zu gefallen.213
Im Umgang des Wilhelminismus mit der Sexualität beginnt sich der Name Casanova von der historischen Figur zu lösen und zum Mythos zu werden. Auf der Bühne dienen Casa‐
novas sexuelle Eskapaden als banales und seichtes Sujet zur Belustigung der einfachen Bevölkerung. Casanova wird im deutschsprachigen Raum zum Synonym des Schürzenjä‐
gers. Erst das Junge Wien setzt sich im Zuge der Psychoanalyse und Lebensphilosophie wieder auf intellektuelle Art und Weise mit Casanovas Leben in seinen Werken ab 1899 auseinander.