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II.   Casanova reloaded

II.3.   Mythisierung und Entmystifikation Casanovas

II.3.1.   Der Abenteurer und die Sängerin – Untreue vs. Treue

Treue 

In seiner Analyse Familienmänner zum literarischen Ursprung moderner Männlichkeit  aus dem Jahr 2001 verbindet Walter Erhart die Themenkomplexe Männlichkeit, Familie  und Erzählen. Männlichkeit und Familie betrachtet Erhart als „Teile einer literarisch‐nar‐

rativen Struktur“272. Ausgehend vom europäischen Familienroman, über den Deutschen 

      

272 Zur Korrelation von Männlichkeit und Familie vgl. Erhart, 2001, S. 15. 

Familienroman bis hin zum Fin de siècle verfolgt Erhart das narrative Konstrukt ‚Männ‐

lichkeit‘ anhand von Familiengeschichten. Als Ergebnis der Analyse Fontanes Männer‐

Geschichten konstatiert er: 

Fontanes Männer‐Geschichten handeln allesamt von zerstörten, fragmentarischen und  abgebrochenen Familienromanen, und die ‚Halbheit‘ ihrer männlichen Figuren kündet  jeweils von der Unmöglichkeit, männliche Identität durch eine dafür vorgesehene fami‐

liale Struktur zu erhalten, fortzuführen und zum Abschluß zu bringen.273 

Erhart skizziert diese Entwicklung als „Ende paternaler Erzählungen“. Ich möchte dieses  Stichwort aufnehmen und vorschlagen, in Hofmannsthals Stück Der Abenteurer und die  Sängerin von einem Gegenentwurf zur paternalen Erzählung zu sprechen. Die von Erhart  konstatierte Bewegung im deutschen Familienroman hin zum Ende des paternalen Er‐

zählens um 1900 reflektiert die zunehmende Skepsis gegenüber dem Mann als Vater. 

Die Unterscheidung von Mann und Vater verdeutlicht, dass es sich vor allem um Refor‐

mations‐ und Modernisierungsprozesse von Männlichkeit handelt, in diesen Prozessen  das Prinzip hegemonialer Männlichkeit aber zu keiner Zeit hinterfragt wird.274 Vielmehr  wird der Patriarch als zeitgemäßer Repräsentant hegemonialer Männlichkeit zur Dispo‐

sition gestellt. Das sich in der Folge ausweitende Machtvakuum zur Mitte der zweiten  Jahrhunderthälfte fällt zusammen mit einem Geschlechterkampf, der sich unter ande‐

rem an der Bachofen‐Rezeption um 1880 nachvollziehen lässt. Bachofen spitzt in seinem  Werk Das Mutterrecht die Jahrtausende währende Menschheitsgeschichte auf einen  Geschlechterkampf zu, an dessen Ende er unweigerlich eine Frauenherrschaft aufziehen  sieht. Vor dem Eindruck dieses Schreckgespensts setzt eine intensive und breite Rezep‐

tion ein, die zu theoretischen Utopien auf beiden Seiten führt. 1902 veröffentlicht der  Völkerkundler Heinrich Schurtz mit Altersklassen und Männerbünde einen Gegenent‐

wurf zu den schwelenden Matriarchatsfantasien. In Rekurs auf die heteronormative Ge‐

      

273 Ebd., S. 197. 

274 „Ich möchte nun hervorheben, dass diese vermeintlichen ,Entthronungen‘ und ,Vatermorde‘ zwar tatsächlich zu bestimmten 

Veränderungen, die man Modernisierungen nennen könnte, führten, sie aber keineswegs der bürgerlich‐hegemonialen Männ‐

lichkeit einen finalen Todesstoß versetzten, deren Krisenhaftigkeit oft in einem Atemzug mit der Vaterlosigkeit zusammen mo‐

niert wird. Vielmehr könnte man [...] von einer Modernisierung bestimmter Männlichkeitskonzepte sprechen: Diese Moderni‐

sierung kann zumindest zu bestimmten Teilen als eine Emotionalisierung und Erotisierung der traditionell auf das rationale Ver‐

nunftsubjekt der Aufklärung reduzierten Männlichkeit gefasst werden.“ Claudia Bruns: Metamorphosen des Männerbundes. 

Vom patriarchalen Vater zum bündisch‐dionysischen Führersohn. In: D. Thomä (Hg.): Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart  einer fixen Idee. 1. Ausgabe, Berlin 2010, S. 96–123, hier S. 96–97. 

schlechterordnungen verfällt Schurtz in die bipolare Aufteilung von männlich – gesell‐

schaftsbildend – produzierend und weiblich – familienorientiert – gebärend.275 Bei ihm  heißt es: 

Ein Blick auf die Zustände des wirklichen Lebens läßt denn auch die geringere gesell‐

schaftsbildende Kraft des weiblichen Geschlechts in überzeugender Weise erkennen. Von  den gesellschaftlichen Verbänden sekundärer Art, die sich in unendlicher Menge finden,  ist die erdrückende Mehrzahl von Männern gebildet: die wenigen Verbände, zu denen  Angehörige des weiblichen Geschlechtes zusammengetreten sind, [...] sind fast niemals  ganz selbstständige Schöpfungen der Frauen.276 

Nicht die Familie, sondern der Männerbund birgt für Schurtz die „gesellschaftsbildende  Kraft“. Als Schutzraum etabliert er vor dem Hintergrund der bekannten Gefahren der  Moderne den Männerbund als Ersatzfamilie, die als Brutstätte modernisierter hegemo‐

nialer Männlichkeit dient.277 Als Konsequenz des Wunsches den „Status des autonom  handelnden männlichen Subjekts aufrechtzuerhalten“ reduziert die Aufteilung von  weiblich‐familiär und männlich‐öffentlich die zwischengeschlechtliche Beziehung zur  Episode: 

In Wahrheit ist die Frau immer die Vertreterin des Geschlechtslebens und der auf ihm  beruhenden Verbände, während der Mann dem rein geselligen Dasein, das Gleiches mit  Gleichem zu erhöhter Kraftentfaltung und gesteigertem Lebensbewußtsein vereinigt,  aus seinem innersten Wesen heraus huldigt und die Liebe zum Weibe als Episode be‐

trachtet.278 

Es verwundert deshalb nicht, dass sich ausgerechnet anhand der Casanova‐Rezeption  der Wiener Moderne die Überlagerung von Geschlechterkampf und Generationenkon‐

flikt nachvollziehen lässt. Insbesondere der aventureske Mythos Casanova bietet um  1900 genügend Projektionsfläche, um als Träger eines narrativen Gegenmodells zum pa‐

ter familias in Frage zu kommen. Trotz aller psychologischen Tiefenschärfe repräsentiert  Hofmannsthals Casanova‐Figur Weidenstamm den Mann als „autonom handelndes 

      

275 „Trotz der wissenschaftlich weniger ausgefeilten Begründung der weiblichen Unfähigkeit zur Gesellschaftsbildung bezogen die 

Texte von Schurtz eine starke Attraktion, Anerkennung und Glaubwürdigkeit aus ihrem antifeministischen Rekurs auf die polare  Geschlechterordnung, die den Gleichheitsforderungen der Frauenbewegung entgegengesetzt werden konnte.“ Ebd., S. 100. 

276 Zitiert nach Bruns Heinricht Schurtz: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. Mit 

einer Verbreitungskarte, Berlin 1902, S. 18. 

277 „Insofern präsentierte sich der Männerbund als ein Ort zwischen einer weiblich‐familiär codierten Privatheit und einem öffentli‐

chen Raum, der sich zunehmend nicht mehr auf bewährt patriarchale Weise kontrollieren ließ. [...] Er war ein Angebot, die mo‐

derne Atomisierungserfahrung aufzuheben und dennoch den Status des autonom handelnden männlichen Subjekts aufrechtzu‐

erhalten. Mit dem Konzept des Männerbunds wurde somit nicht nur das alte Modell des pater familias abgelöst, sondern eine  modernisierte Form hegemonialer Männlichkeit formuliert, die sich als Reaktion auf ein Unbehagen an der Moderne wie auch  auf einen zweifachen Machtverlust gegenüber dem anderen Geschlecht und den unteren sozialen Schichten fassen lässt.“ Bruns,  2010, S. 102. 

278 Schurtz, 1902, S. 99–100. 

männliches Subjekt“279. Dessen Kunst zu Vergessen und zu Beginnen begründet sein epi‐

sodenhaftes Verhältnis zur Frau. Seine Vaterlosigkeit – im Sinne ohne Vater zu sein und  kein Vater seien zu wollen – markiert seine Autonomie gegenüber familiärer Pflichten. 

Die Distanz zur Vaterrolle unterstreicht seine Rolle als Erzeuger im wörtlichen und auch  übertragenen Sinn.280 Teil dieser Funktion ist auch seine Mentorschaft gegenüber Cesa‐

rino. Ohne ihm Vater zu sein, gibt er dem begeisterten Cesarino dennoch den Schlüssel  in die Hand, es ihm gleich zu tun.281