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II.   Casanova reloaded

II.3.   Mythisierung und Entmystifikation Casanovas

II.3.3.   Casanovas Sohn

Während Hofmannsthals Text die Vermutung nahe legt, dass Cesarino sowohl das Talent  als auch den Willen mitbringt, in die Fußstapfen seines Erzeugers zu treten, gestaltet  sich die Nachfolge für die Casanova‐Figur in Rudolph Lothars Komödie Casanovas Sohn  als deutlich schwieriger. Bereits der Titel deutet auf die Stammhalter‐Thematik des Ver‐

führers hin.312 Als ‚würdiger Nachkomme‘ der großen Verführer inauguriert, tritt Kurt v. 

      

310 Vgl. Barbara Gutt: Emanzipation bei Arthur Schnitzler, Berlin 1978. Und auch Vanessa Trösch: Die Frau in den literarischen Ge‐

schlechterbeziehungen Arthur Schnitzlers. Verfügbar unter: http://www.uni‐due.de/genderportal/forschung_ude_abschlussar‐

beiten.shtml#vanessatroesch. Letzter Zugriff am: 28.11.2013. 

311 „Während der alte Verführer vollkommen abgetakelt vor unseren Augen erscheint, übernimmt eine kluge emanzipierte Frauen‐

figur seinen Part. Marcolina sind von ihrem Autor all die Gaben verliehen worden, die ursprünglich Casanova zustanden: Schön‐

heit, Intelligenz und ein freier Geist. Dieser Rollentausch von einer männlichen zu einer weiblichen Identifikationsfigur, den beide  Autoren vollziehen, stellt ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung dar [...].“ Lehnen, 1995, S. 216. 

312 Vgl. Sigrid Weigel: Genea‐Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur‐ und Naturwissenschaften, München 2006. 

Weyer als Typus des eleganten und vollendeten Kavaliers auf die Bühne. Carla v. Heif‐

fenberg, an ihren spielsüchtigen Mann gebunden, kommt mit einem deutlich formulier‐

ten Anliegen auf v. Weyer zu: 

Ich bin nicht da, weil sie der würdige Nachkomme Don Juans und Casanovas sind, son‐

dern weil ich es in meinem Leben nicht mehr aushalte, weil ich mich nach einer Hand  sehne, die mich packt und ins Freie führt. Heraus aus all meinen Gedanken, aus all dem  Häßlichen, das mich umgibt.313 

Auch bei Lothar fungiert die Casanova‐Figur als Abenteurer im Sinne Simmels.314 Es wird  gar einem Dienstleistungsverhältnis gleich von Weyer erwartet, ein Abenteuer als Aus‐

gang aus dem Alltag zu liefern. In seiner Überzeichnung wird der Verführer v. Weyer als  Gegenentwurf zum Ehemann schon zu Beginn der Komödie eingeführt. Als Grundbedin‐

gung für das episodenhafte Verhältnis zur Frau zeichnet sich v. Weyer, ähnlich wie Wei‐

denstamm, zunächst durch die Kunst zu enden aus. Seinem Diener Moritz, der seit 28  Jahren in seinen Diensten steht, verkündet er: 

Ich weiß im rechten Augenblick ein Ende zu machen. Ehe das Abenteuer langweilig und  die Dame unpünktlich wird. Und merk dir das, mein Sohn, nicht aller Anfang ist schwer,  sondern alles Ende ist schwer. Im Endspiel liegt die ganz Kunst. Beim Schach und in der  Liebe. Die Eröffnung kann man lernen, das Finale stellt immer neue Aufgaben. (CS, S. 6) 

Doch dieser – ganz unbeeindruckt – eröffnet ihm heiraten zu wollen und seine Dienste  aufzukündigen. Kurt v. Weyer ist entsetzt: 

Kurt (ganz konsterniert). Du heiratest? Bist du ganz verrückt geworden? [...] Und alles,  was du hier bei mir gesehen hast, hat dich nicht abgeschreckt? Keine einzige, die hierher  kam, war treu. [...] Treue ist ein hübsches Wort für Stagnation. Die Ehe aber ist die Selig‐

preisung der Stagnation. Und du willst in den Ehesumpf hinein? [...] Unsinn, ich kann  ohne dich nicht leben, ich brauche dich. Ich könnte mich nie an einen neuen Diener ge‐

wöhnen. Du kennst alle meine Gewohnheiten, weißt wie ich bin, vor dir geniere ich mich  nicht, mit dir rede ich, wenn mich was bedrückt, was ich niemanden sagen kann. Du hörst  mir zu und schweigst. Ich nehme sogar an, daß du taktvoll genug bist, mich gar nicht zu  hören. Aber grad das brauche ich. Neue Geliebte finde ich so viel ich will, aber einen  neuen Diener nicht auf der ganzen Erde. Mit einem Wort, das gibts nicht, du bleibst. (CS,  S. 6‐7) 

      

313 Rudolph Lothar: Casanovas Sohn. Eine Komödie in drei Aufzügen, Berlin 1920, S. 10–11. (Im Folgenden wird unter Angabe der 

Sigle CS und der Angabe der Seitenzahlen in Klammern direkt im Fließtext zitiert.) 

314 „Und zwar ist nun die Form des Abenteuers, im allerallgemeinsten: daß es aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt. [...] 

Indem es aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt, fällt es – dies wird sich allmählich erklären – gleichsam mit eben  dieser Bewegung wieder in ihn hinein, ein Fremdkörper in unserer Existenz, der dennoch mit dem Zentrum irgendwie verbunden  ist. [...] Das Abenteuer aber ist, seinem Sinne als Abenteuer nach, von dem Vorher und Nachher unabhängig, ohne Rücksicht auf  diese bestimmt es sich seine Grenzen. Eben da, wo die Kontinuität mit dem Leben so prinzipiell abgelehnt wird oder eigentlich  nicht erst abgelehnt zu werden braucht, weil von vornherein eine Fremdheit, Unberührsamkeit, ein Außer‐der‐Reihe‐Sein vor‐

liegt – da sprechen wir von Abenteuer. Ihm fehlt jene gegenseitige Durchdringung mit den benachbarten Teilen des Lebens,  durch die dieses ein Ganzes wird. Es ist wie eine Insel im Leben, die sich ihren Anfang und ihr Ende nach ihren eigenen Bildungs‐

kräften und nicht, wie das Stück eines Kontinentes, zugleich nach denen ihres Diesseits und Jenseits bestimmt.“ Georg Simmel,  1919, S. 7‐8. 

Dem Witz, die Ehegemeinschaft auf der einen Seite grundlegend abzulehnen und gleich‐

zeitig in einer Art eheähnlichem Verhältnis mit dem eigenen Diener zu leben, liegt die  von Claudia Bruns oben konstatierte Opposition von Ehegemeinschaft und Männerbund  zugrunde.315 Kurt repräsentiert das Paradigma des Anti‐Ehemannes, dessen Verhältnis  zur Frau sich auf die Episode beschränkt und der die gemeinschaftsbildende Kraft als  Ergebnis des Zusammenlebens zwischen Männern begreift. Ausgerechnet er, und da‐

rauf beruht die Handlungskomik des Stücks, läuft Gefahr auf seine alten Tage doch noch  in die ‚Fänge der Ehe‘ zu geraten. Sein Sohn Erich, das ganze Gegenteil seines Vaters, ist  verliebt in Carla. Kurt lässt ihn an seiner Statt mit Carla die Nacht verbringen. Inkognito  hält Erich in der Nacht, übermannt von seinen Gefühlen, um Carlas Hand an. Kurt, ganz  der Ehrenmann, sieht sich in der Folge nicht in der Lage, das von seinem Sohn an seiner  Statt gegebene Versprechen aufzukündigen. Bis zuletzt spielt das Stück mit dem Para‐

doxon, dass ausgerechnet der Nachkomme Casanovas zum Ende seiner Karriere doch  noch verheiratet wird. Die Tatsache, dass er auch dieses Mal davonkommt, markiert die  Geschichte zum Ende vermeintlich doch als eine weitere Frauenepisode, als ein weiteres  Abenteuer für den Verführer.316 Doch genauer betrachtet wird deutlich, dass sich die  Zweifel an der Verführungskompetenz, wie bei Schnitzler, vertieft haben. Bereits Hof‐

mannsthals Casanova‐Figur verrät an mehreren Stellen den Verlust der Verführungs‐

kompetenz auf Grund des drohenden Alters.317 Schnitzler stellt den Alterungsprozess als  Beginn des unvermeidbaren Niedergangs Casanovas in den Vordergrund. Lothar präsen‐

tiert nun in Kurt v. Weyer einen Verführer, der seinen Zenit ebenfalls überschritten hat. 

So wird er beschrieben als „schöner eleganter Mann zwischen 50 und 60, glattrasiert,  mit silberweißem Haar“ (CS, S. 5). Immer deutlicher wird im Verlauf des Stückes, dass  Kurt ein Opfer seines Rufes wird. Nach all den Dekaden der seriellen Verführung in der  Funktion als Casanovas Sohn, ist sein Salon berühmt, sein Schlafzimmer noch berühm‐

ter.318 Sein Diener Moritz ist nach 28 Jahren des sich immer wiederholenden Schauspiels 

      

315 „Nicht mehr Mann und Frau, matriarchale Mutter und patriarchaler Vater traten gegeneinander an, sondern ,Männerbund‘ und 

,Familie‘. Diese kleine Modifikation erweist sich bei genauerer Betrachtung als nicht unerheblich – sägte sie doch [...] am patri‐

archalen Stuhl des mächtigen ,Übervaters‘ und bestritt heimlich dessen Schöpfungskraft zugunsten eines neuen Konzepts vom  Kollektiv, dem nun entsprechende Fähigkeiten zu eigen sein sollten und welches auf den einen, den Vater zu verzichten wusste.“ 

Bruns, 2010, S. 101. 

316 Dass sich Kurt wohl nicht gänzlich dem Treueschwur seines Sohnes verpflichtet fühlt wird auch klar: „Carla. [...] Könnten Sie es 

sich versagen, mich zu betrügen? / Kurt. Sie unterschätzen meine Klugheit und meine Vorsicht. Sie würde es nie merken.“ (CS, S. 

68) 

317 „[W]as den alten Abenteurer zu einer Widrigen oder, stillosen Erscheinung macht; es wäre nicht schwer, das ganze Wesen des 

Abenteurers daraus zu entwickeln, daß es die dem Alter schlechthin nicht gemäße Lebensform ist.“ Simmel, 1919, S. 22. 

318 „Moritz (brummend). Ja, ja, neugierig sind sie alle; diesen berühmten Salon und (mit dem Daumen nach dem Schlafzimmer zei‐

gend) das noch berühmtere Schlafzimmer des Herrn Grafen zu sehen.“ (CS, S.5) 

müde, will seinen Dienst quittieren und heiraten. Und für die von ihrem Leben gelang‐

weilte Carla scheint Kurt die letzte Hoffnung auf ein Abenteuer zu sein. Die Bestätigung  der Lesererwartung und die Formelhaftigkeit des ersten Treffens rückt Kurt verdächtig  nah an die Figur des in den 1920er Jahren aufkommenden „Gigolos“319, dessen guter Ruf  ihm vorauseilt, der aber letztlich nur zur Unterhaltung seiner Kundin dient. Carla positi‐

oniert sich als Freier, der sich ein Abenteuer erhofft.320 Die Komödie treibt mittels der  Reflexion traditioneller literarischer Texte die Verführung in die Ironie, so dass dadurch  der schmale Grad zwischen Verführer und Gigolo ausgelotet wird. Mit der Professiona‐

lität eines Dienstleisters für Abenteuer bemüht sich Kurt so um die Kundenzufriedenheit  Carlas: 

Kurt. Und doch hatten Sie den Mut, zu mir zu kommen. 

Carla. Ja, den Mut der Verzweiflung. Kopfüber in ein Abenteuer. Warum nicht? Vielleicht  macht mich dieses Abenteuer wieder froh, vielleicht gibt es mir, was ich verloren habe,  die Heiterkeit. 

Kurt. Ich werde mein Möglichstes tun, um ihren Wünschen zu entsprechen. (CS, S. 12) 

Doch vor allem das Unmögliche fordert Carla. Der Text spielt mit dem Mythos Casanova  und dessen Verführungskunst als Zauberkunst, über die noch Hofmannsthals Weiden‐

stamm verfügte: 

Carla. Das Möglichste ist viel zu wenig. Ich brauche das Unmögliche. Ich müßte mich in  Sie verlieben. Ja, vielleicht dann ‐ [...] 

Aber glauben Sie deswegen nicht, daß ich mich Ihnen und Ihrer Kunst entziehe. Ihrer  Kunst, die mir den Himmel auf Erden verspricht. Nur bitte ich Sie, diese Zauberkunst au‐

ßerhalb des traditionellen Rahmens zu üben.  

Kurt. Wie Sie befehlen. Wenn Sie also gestatten, werde ich Sie – 

Carla. Bitte, um Himmelswillen, sprechen sie nicht zu Ende. Nur das nicht! Ich könnte  mich nie entschließen – so mit einem dichten Schleier, wie es wohl üblich ist – nein, nein,  niemals – 

Kurt. Ja, aber verehrteste, schönste Frau, ich kann doch nicht aus dem Meer eine Zaube‐

rinsel aufsteigen lassen – 

Carla. Warum können Sie das nicht? 

Kurt. Weil ich kein Hexenmeister bin. 

      

319 „,Die Masken des Begehrens‘ bzw. die ‚Masken der Sexualität‘ treten nirgends deutlicher zutage als im Bereich der Literatur, die 

schon immer ein Spiel mit fiktiven Identitäten war und daher nicht zufällig das Maskerade Thema aufgreift. [...] Andere Autoren  haben andere Masken gewählt: die des Dandys des müden Jünglings, des kalten Zynikers oder des charismatischen Helden, der  alte Masken heroischer Männlichkeit und Autorschaft wiederbelebt – um nur einige Maskierungen moderner Autorschaft im 20. 

Jahrhundert zu nennen. Renate Berger hat in ihrer Biographie über den Tänzer und Schauspieler Rudolfo Valentino (2003) ge‐

zeigt, wie sich durch den Film die Masken des Männlichen nicht zuletzt durch den effektiven Einsatz von Frauen als Managerin‐

nen, Stylistinnen etc. zwar enorm vervielfältigt haben, dass hinter allen Maskierungen das ambivalente Bild des ‚Gigolo‘ – des  begehrten und zugleich verachteten ‚schönen Mannes‘ – jedoch immer als melancholische Figuration erkennbar bleibt.“ Ste‐

phan, 2003, S. 23. 

320 Die noch von Lacan konstatierte „Ontologie des Geschlechterverhältnisses“ dreht sich hier um, wenn Weidenstamm der „Selbst‐

affirmation“ der Frau dient. Vgl. „Don Juan wie Casanova repräsentieren in unterschiedlichen Varianten dasjenige, was Freud  wie Lacan die konstitutionelle Untreue des Mannes nennen, als sei diese ein Gesetzt der Natur. [...] Als Hure ist die Frau die  bedeutungslose Hülle männlicher Selbstaffirmation, die nur dauert, wenn man den Akt der Verführung und Erniedrigung endlos  wiederholt, von Frau zu Frau, genauer, von Idol zu Hure. Auch diese Dynamik wird von Freud wie Lacan zur Ontologie des Ge‐

schlechterverhältnisses stilisiert.“ Böhme, 2003, S. 124–125. 

Carla. Und ich bildete mir ein. Sie wären einer. Ich wollte mich bezaubern lassen, wollte  dem Alltag entfliehen – und statt der Insel Cythere bieten Sie mir die platte Alltäglichkeit. 

(CS, S. 12‐13) 

Der ‚Dienstleister‘ Kurt bricht mit den Erwartungen, die Carla gegenüber dem Mythos  des Verführers hat. Dem Anspruch, der seinem Ruf vorauseilt kann er nicht gerecht wer‐

den. Gerade durch den Aufprall von Mythos und Dienstleistung wird deren Differenz  sichtbar und Kurt offenbart sich nicht als „Hexenmeister“, sondern vielmehr als alternde 

‚Servicekraft‘, die bemüht ist, ihr Alter zu verstecken: 

Kurt. Ja, trotz meiner weißen Haare und meiner sechzig Jahre. Man bleibt eben so lange  jung, als man an Wunder glaubt. Das Alter heißt dann, sich unter die Wirklichkeit ducken,  unter die wunderlose Alltäglichkeit. 

Carla. Sechzig Jahre? Ich hätte Ihnen keine fünfzig gegeben. Trotz ihres großen Sohnes. 

(CS, S. 13) 

Bereits hier stigmatisiert der „große Sohn“ Kurt als „alt“. Die bloße Existenz Erichs lässt  die „wunderlose Alltäglichkeit“ zu Tage treten. Die Vaterschaft wird zum Stigma des Al‐

ters. Und so ist es auch ausgerechnet Erich, der Carla von allem Wunderglauben gegen‐

über seinem Vater befreit: 

Carla. Nicht so laut, er könnte uns hören. 

Erich. Seien Sie unbesorgt, jetzt schläft mein Vater, er kann auf sein Nachmittagsschläf‐

chen nicht verzichten; die Zigarre war nur die Ausrede. Er hat noch nie auf etwas verzich‐

tet. Nicht auf sein Schläfchen, nicht auf seine Zigarre, nicht auf das Weib, das er haben  wollte, nicht auf die Freiheit, ohne die er nicht leben kann. (CS, S. 62) 

Erich ermordet seinen Vater – den vermeintlich junggebliebenen Verführer.321 Übrig  bleibt ein gealterter Mann, der die für ihn entscheidende Kompetenz der Verführung  eingebüßt hat. Die Fähigkeit geht auf seinen Sohn über: 

Ich will Ihnen sagen, warum ich mich in Ihren Vater verliebt habe: Weil er so wurde, wie  Sie jetzt sind. Genau so.  Ich habe mich in den Jüngling verliebt, der in ihm steckt und der  plötzlich unvermutet, unerwartet zum Vorschein kam. Das Alter viel von ihm ab wie ein  Mantel, seine Weisheit wurde zur liebesheißen Torheit, zu Ihrer Torheit, Erich, und seine  Ueberlegenheit wurde zu jener Unterordnung, die die Frau erhöht und ohne die sie nicht  lieben kann. Glauben Sie mir, man kann nur einen Mann lieben, wenn man die Augen  senkt, nicht wenn man sie aufschlägt. 

Carla. [...] Nicht Ihren Vater, Sie habe ich geliebt, ohne es zu wissen. Nur solange Ihr Vater  Sie war, habe ich ihn geliebt. Und wenn er sich nicht nochmal in Sie verwandeln könnte,  wäre er mir ein Fremder, den ich schließlich hassen müßte, weil er nicht das Wunder  vollbringen kann, auf dem ich mein Leben aufbauen wollte. (CS, S. 66‐67) 

      

321 „Ich möchte nun hervorheben, dass diese vermeintlichen ,Entthronungen‘ und ,Vatermorde‘ zwar tatsächlich zu bestimmten 

Veränderungen, die man Modernisierungen nennen könnte, führten, sie aber keineswegs der bürgerlich‐hegemonialen Männ‐

lichkeit einen finalen Todesstoß versetzten, deren Krisenhaftigkeit oft in einem Atemzug mit der Vaterlosigkeit zusammen mo‐

niert wird. Vielmehr könnte man [...] von einer Modernisierung bestimmter Männlichkeitskonzepte sprechen: Diese Moderni‐

sierung kann zumindest zu bestimmten Teilen als eine Emotionalisierung und Erotisierung der traditionell auf das rationale Ver‐

nunftsubjekt der Aufklärung reduzierten Männlichkeit gefasst werden.“ Bruns, 2010, S. 96–97. 

Kurt und Erich treten als Antipoden auf.322 Doch nicht der naiv‐romantische Erich muss  von seinem Vater lernen und ihn imitieren. Vielmehr beruht der vermeintliche Erfolg  von Kurt auf der beabsichtigten Verwechslung zwischen ihm und seinem Sohn. Die Tor‐

heit seines Sohnes zieht Carla seinem Don Juan haften, kühl kalkulierendem Wesen vor. 

Das Leserwissen entlarvt Kurt als impotenten Verführer. Mit dem Mythos Casanova hat  er nichts gemein. Die Lust am Genuss verkommt bei ihm zum bürgerlichen Ritual des  heimlichen Zigarre Rauchens. Seine Vitalität offenbart sich als Illusion, seine Kenntnis  der Frauen als fehlerhaft.323 Seine Abenteuerlust scheint lang erloschen und zum Zynis‐

mus verkommen. Die Wandlungsfähigkeit, das Schauspieltalent, welche sowohl Don  Juan als auch Casanova auszeichnen, bleiben dem alternden Nachkommen der großen  Verführer versagt. Kurt v. Weyer wirkt nicht wie Casanovas Sohn, sondern wie ein in die  Jahre gekommener Dienstleister, der sich noch etwas dazu verdienen muss, eigentlich  aber schon lange keine Lust mehr hat auf diese Art von Gelderwerb. Insbesondere seine  rational kalkulierende Art und seine nahezu misogynen Anwandlungen rücken ihn näher  an die Figur Don Juans als an die Casanovas. So begeht nicht nur Erich Vatermord, indem  er den Ruf seines Vaters als genialen Verführer widerlegt. Der Text selbst ruft den Tod  des Mythos Casanova aus. Es bleibt offen, ob darunter auch ein Angriff auf die Glaub‐

würdigkeit des Protagonisten in Casanovas Memoiren zu verstehen ist. Eindeutig ist je‐

doch, dass dessen Epigonen seinem Mythos nicht gerecht zu werden vermögen. Auch  aus einem ‚Sohn‘ Casanovas ist bereits ein alter Mann geworden. Für den alternden Ver‐

treter des Mythos wird es Zeit abzutreten. Eine neue Generation wartet, die eine Nach‐

folge Casanovas nicht mehr anzustreben scheint.324 Die kurze Hochphase des Verfüh‐

rers, als Träger eines alternativen Narrativs zur paternalen Erzählung, ist endgültig be‐

endet. 

   

      

322 „Nicht selten erscheinen daher Gründungsakte der Moderne im Nachhinein als Phasen einer kollektiven Revolte gegen den ‚Über‐

Vater‘, die allerdings – so könnte man hinzufügen – im  Gewand einer ,krisenhaften Männlichkeit‘ daherkam und oft erst im  wissenschaftlichen Rückblick als mehr oder weniger traurige, wenn nicht traumatische ,Vaterlosigkeit‘ thematisiert wird.“ Bruns,  2010, S. 96. 

323 Bis zum Schluss leistet sich Kurt immer wieder Fehleinschätzungen der Situation: „Kurt (leise zu Erich). Jetzt beiß die Zähne zu‐

sammen, mein Junge, jetzt fliegen wir raus. / Carla (sich steigernd). Aber dann ‐ dann ‐ dann warst du's ja, Erich! Warst du es? /  Erich (so tapfer als möglich). Ja. /Carla. Bin ich verzaubert – bin ich verrückt – ist das alles nur ein Traum – wie war es nur möglich  – ? / Erich (niederknieend) Verzeih – / Kurt (ebenfalls niederknieend) Verzeihen Sie – / Carla. Ah – jetzt verstehe ich alles – Sie  erfuhren von der Liebe Ihres Sohnes – Sie verzichteten aus Edelmut –du wagtestest nicht die Wahrheit zu gestehen  – aus Be‐

scheidenheit, mein armer Junge –? / Kurt. Die Frauen finden doch immer das richtige Wort.“ (CS, S. 96) 

324 „Die ,Vaterlosigkeit‘, die in den 1950er Jahren und in psychologischen Erziehungsberatern bis heute oft beklagt und zur Ursache 

vielfacher Fehlentwicklungen (insbesondere der Söhne) erklärt wird, stellt sich um 1900 als ein erwünschter, geradezu ersehnter  Zustand dar, den besonders die bürgerliche Jugendbewegung sehr schnell zum provokativen Teil ihres Programms erhob. Diese  Sehnsucht, die wilhelminischen Patriarchen zu entthronen und mit ihnen ein vermeintlich verknöchertes, obrigkeitshöriges, an  militärischem Prunk und äußerem Schein orientiertes System gleich mitzuentsorgen, war außerordentlich stark.“ Bruns, 2010, S. 

96.