I. Weibliche Aneignungsformen des libertinen Verführungswissens
I.2. Les liaisons dangereuses als Urtext
I.2.2. Vier Aneignungsformen von Verführungswissen
I.2.2.2. Das Human‐Experiment
Die Marquise läßt auch die zitternden Hände nicht aus und führt Valmont buchstäblich vor Augen, daß er, ebenso wie Prévan einem Paradigma gehorchend, das Codierte und das Verstellte als das Natürliche verkennt: ‚Me voyez‐vous, Vicomte, dans ma toilette legére, marchant d'un pas timide et circonspect, et d'une main mal assurée ouvrir la porte à mon vainqueur?‘ [...] Damit spricht sie ihm seine ,heureuse adresse‘ ab und bringt im nachhinein seine Deutungen der Tränen Tourvels ins Schwanken.110
Die „profondes obsérvations“ dienen beiden Verführern – dem männlichen, wie dem weiblichen – als Aneignungspraktiken des Verführungswissens. Sie gehören zu den not‐
wendigen Aufmerksamkeitsprozessen des Beobachtungslernens. Objekte ihrer Be‐
obachtungen sind Mimiken und Gestiken, um deren Katalogisierung und Interpretation sie bemüht sind. Merteuils Praktik der Verstellung – selbst eine Verführungspraktik – verweist auf die Arbitrarität der Zeichen, welche eine eindeutige Interpretation unmög‐
lich macht. Während die „profondes observations“ der Zeichen habhaft zu werden ver‐
suchen, arbeitet die Verstellungskunst dagegen an und entzieht die Zeichen der unzwei‐
felhaften Deutung. Es wird deutlich, dass eine reine Steigerung der Aufmerksamkeits‐
prozesse als Teil des Beobachtungslernens nicht hinreichend ist für den Erwerb des Ver‐
führungswissens. Während auf die Verstellung später noch einzugehen sein wird, soll hier schon festgehalten werden, dass sie der Marquise das Beobachtungslernen erst er‐
möglicht. Denn nur über die Verstellung des Körpers entgeht ihre Aneignung von Ver‐
führungswissen durch Beobachtungslernen dem, auf ihr als Frau haftenden, kontrollie‐
renden Blick. Der Zweck der Verstellung ist also ein zweifacher. Zum einen ermöglicht sie die Aneignung von Wissen, zum anderen markiert sie den Status dieses Wissens als ungenau und unsicher.
ein Verfahren, das in einer Verschmelzung von performativen und repräsentativen Ver‐
fahren Kenntnisse hervorbringt — und zwar, Kenntnisse, die sich einer bestimmten pro‐
vozierten Erfahrung verdanken.113
Nikolas Pethes knüpft die Bedingungen der Möglichkeit einer Untersuchung der Wech‐
selbeziehung zwischen Experiment und Literatur an die Unterscheidung von Probe, Prü‐
fung, Wette und Gottesurteil auf der einen und Experiment auf der anderen Seite. Die Literaturgeschichte des Menschenexperiments setzt als ‚konkretes Projekt der empiri‐
schen Wissenschaften vom Menschen‘ seit Ende des 16. Jahrhunderts ein. Die episte‐
mologische Wende nach Bacons Novum Organum114
führt dazu, dass als Experiment im engen Sinn nur eine Serie von Beobachtungen von gezielt hervorgerufenen Reaktionen innerhalb einer kontrollierten Umgebung, die pro‐
tokolliert und ausgewertet werden, gilt. Die damit angesprochenen Operationen kann man modellartig in die Reihenfolge Isolation (d.h. die Abgrenzung eines Laborraums), Irritation (d.h. die Zuführung gezielter Stimuli), Observation (d.h. die Beobachtung der zugehörigen Reaktionen), Dokumentation (d.h. das schriftliche Protokoll des Ver‐
suchsablaufs) und Interpretation (d.h. der Bezug der Ergebnisse auf die ursprüngliche Hypothese) bringen.115
Die ‚provozierten Erfahrungen‘ in den Liaisons Dangereuses lassen sich vor allem vor dem Hintergrund einer neuzeitlichen Anthropologie verstehen, in der der Mensch zu‐
gleich Subjekt und Objekt der empirischen Beobachtung ist. Das Experiment etabliert sich zu dieser Zeit transdisziplinär als epistemologisch notwenige Bedingung für Wissen überhaupt. Die Fallgeschichten der Psychologie und Medizin sind eine Konsequenz der Übertragung des experimentellen Verfahrens zur Wissensgewinnung auf den breitange‐
legten Bereich der neuzeitlichen Anthropologie.116 Im Mittelpunkt der Beobachtungen steht der Körper zum einen als „individuell reagierender Körper“ und zum anderen als Ort der Erkenntnis. Diese Ambivalenz des Körpers spitzt sich im Selbstversuch – einem Sonderfall des Humanexperiments – insofern zu, als dass sich hier ein ‚kognitives System über sich selbst beugt‘.117 Hierfür sind nach Jeannie Moser drei Aspekte konstitutiv: 1.
Verläuft der Akt der Wissensgewinnung selbstreferentiell. 2. Dienen die induzierten Er‐
fahrungen zur Generierung allgemeiner Regeln und 3. Nimmt die Provokation von Aus‐
nahmezuständen des Selbst den Weg über den Körper.118
113 Ebd., S. 11.
114 Vgl. Michael Gamper: Dichtung als ‚Versuch‘. Literatur zwischen Experiment und Essay. In: Zeitschrift für Germanistik Neue Folge
17, 2007, S. 593–611, hier S. 593–611.
115 Nicolas Pethes: Versuchsobjekt Mensch. Gedankenexperimente und Fallgeschichten als Erzählformen des Menschenversuchs. In:
M. Gamper, S. Azzouni (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, S. 361–384, hier S. 364.
116 Zu Fallgeschichten in Medizin und Psychologie vgl. ebd., S. 368.
117 Zu den Spezifika des Selbstversuchs vgl. Jeannie Moser: Selbstversuche. Die Experimentalisierung von Geist, Seele und Sinnen am
eigenen Körper. In: M. Gamper, S. Azzouni (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien, Göttingen 2010, S.
384–403, hier S. 384–386.
118 Vgl. ebd.
Um einen Selbstversuch als Sonderfall des Humanexperiments handelt es sich auch bei dem Bildungsprozess der Marquise, der ebenfalls den Weg über den Körper nimmt.119 Der Bildungsprozess dient zur „Perfektionierung des weiblichen Körpers und seiner Ver‐
stellung.“120 Körperlichkeit, im Sinne ihrer Praktiken in der Gestalt von Gestiken und Mi‐
miken, wird als performativ verwandelbares Konstrukt verstanden. Es geht um den Kon‐
struktcharakter des weiblichen Körpers. Im Gegensatz zur männlich bestimmten Weib‐
lichkeit, wie sie anhand der Erziehung Céciles durch Valmont nachzuvollziehen ist, han‐
delt es sich bei den Experimenten der Merteuil um ein selbstbestimmtes Konstrukt als Gegenentwurf zum männlich bestimmten Frauenbild. Die Selbstversuche der Marquise dienen ihr zur Aneignung eines Körperwissens in Hinsicht auf dessen Wirkung und Kon‐
trolle. Sie entzieht sich nicht nur dem männlichen Konstrukt weiblicher Identität, son‐
dern entzieht auch ihren Körper der Interpretation des männlichen Blicks und eignet sich Wissen vom eigenen Körper als Teil eines Verführungswissens an. Im Sinne einer literarischen Anthropologie ist die poetologische Inszenierung dieser Selbstversuche als wissenschaftliche Experimente von Bedeutung. Ganz explizit beschreibt Merteuil die Kenntnisse, die sie sich über ihre Selbstversuche anzueignen gedenkt, zusammenfas‐
send als eine ‚Wissenschaft‘.121 Ihre „curiosité“ und ihr „goût de l’étude“ kennzeichnen sie als selbstbestimmte Forscherin der Verführung mit intrinsischer Motivation: „je ne désirais pas de jouir, je voulais savoir; le désir de m'instruire m'en suggéra les moyens.“
(LD, LXXXI, S. 206). Nicht hedonistische Erfahrung, sondern Wissbegierde treibt Merteuil an. Die Isolation auf dem Lande, die durch ihr gezieltes Körperverhalten ausgelösten ‚Ir‐
ritationen‘ sowie die Observation derselben am eigenen und fremden Körper im Sinne eines Beobachtungslernens werden als ‚Operationen des Experiments‘ (s.o.) im 81. Brief dokumentiert. Als Ergebnis ihrer immer breiter angelegten Versuche notiert sie: „Ce fut là, surtout, que je m'assurai que l'amour, que l'on nous vante comme la cause de nos plaisirs, n'en est au plus que le prétexte.“ (LD, LXXXI, S. 207). In dem Moment, in dem die Liebe nicht mehr als Ursache, sondern vielmehr als Vorwand des Vergnügens inter‐
pretiert wird, erschüttert das Phänomen der Kontingenz das Liebeskonzept der amour passion. Die Frage nach dem Status der Liebe zeugt von der hochkomplexen hermeneu‐
tischen Herausforderung, die der Liebescode im Zeichen von Galanterie und Koketterie
119 ‚Zur Bildung des weiblichen Körpers und Geistes‘ vgl. Vedder 2002, S. 86–91.
120 Ebd., S. 87.
121 „et je ne me trouvais encore qu'aux premiers éléments de la science que je voulais acquérir.“ LD, LXXXI, S. 206.
an Männer und Frauen stellt.122 Merteuils Erkenntnis ihrer Selbstversuche thematisiert die Simulationen und Dissimulationen, die den epistemologischen Status der ‚amour passion‘ zunehmend oszillieren lassen.123 Simulation und Dissimulation als unendliches Spiel der Libertinage mit dem Liebescode der amour passion führen zwangsläufig zum Status hermeneutischer Unsicherheit des Verführers als Interpreten körperlicher und schriftlicher Zeichen. In der Folge dieses Einbruchs von Kontingenz ist der Verführer auf das epistemologische Modell des Experiments angewiesen, um sich der korrekten Deu‐
tung und angemessenen Produktion der Zeichen zu vergewissern. Die Selbstversuche der Merteuil speisen sich jedoch nicht nur aus einer ins Oszillieren geratenen Semantik der Liebe, sondern auch aus einem Zustand gesellschaftlich gesetzter weiblicher Unwis‐
senheit in Liebesangelegenheiten.124 Die im 81. Brief unter Begriffen wie „ce travail sur moi‐même“, „ce genre d’étude“ und „mes experiences“ beschriebenen Selbstversuche der Merteuil zeugen von der Aneignung von Verführungswissen als Weg aus der fremd‐
verschuldeten Unmündigkeit. Die Verführungsexperimente am eigenen Körper zielen auf ein anthropologisches Wissen ontologischen Charakters: „Descendue dans mon coeur, j'y ai etudié celui des autres. J'y ai vu qu'il n'est personne qui n'y conserve un secret qu'il lui importe qui ne soit point dévoilé.“ (LD, LXXXI, S. 210) Aus den beobachte‐
ten Phänomenen der ‚provozierten Erfahrungen‘ am eigenen Körper wird auf eine all‐
gemeine Erkenntnis geschlossen. Selbst die Hochzeitsnacht wird für Merteuil zum Expe‐
riment.
Cette première nuit, dont on se fait pour l'ordinaire une idée si cruelle ou si douce, ne me présentait qu'une occasion d'expérience: douleur et plaisir, j'observai tout exactement, et ne voyais, dans ces diverses sensations, que des faits à recueillir et à méditer. (LD, LXXXI, S. 207)
In der Isolation der provozierten Hochzeitsnacht observiert Merteuil die Reaktionen ih‐
res eigenen Körpers. Neben dieser Art von Selbstexperimenten gibt es eine zweite Form von Humanexperimenten, welche sowohl einen anderen epistemologischen als auch ei‐
nen anderen narrativen Status besitzen. Es handelt sich um die Fallgeschichten Cécile de
122 Zur Begrifflichkeit von Galanterie und Koketterie vgl. Hiltrud Gnüg: Der erotische Roman. Von der Renaissance bis zur Gegenwart.
Universal‐Bibliothek, Bd. 17634, Stuttgart 2002, S. 82‐84.
123 Rohde erkennt hierin bereits eine Vor‐ bzw. Frühform der Kontingenz der Herzen, die als Phänomen eigentlich erst im 19. Jahr‐
hundert aufkommt. Carsten Rohde: Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Flau‐
bert, Tolstoi, Fontane). Germanisch‐Romanische Monatsschrift, Beiheft, Bd. 43, Heidelberg 2011, S. 42‐45.
124 „Entrée dans le monde dans le temps où fille encore, i'étais vouée par état au silence et à l'inaction, j'ai su en profiter pour
observer et réfléchir. Tandis qu'on me croyait étourdie ou distraite, écoutant peu a la verité les discours qu'on s'empressait à me tenir je recueillais avec soin ceux qu'on cherchait à me cacher.“ LD, LXXXI, S. 205. Und „Vous jugez bien que, comme toutes les jeunes filles, je cherchais à deviner l'amour et ses plaisirs: mais j'ayant jamais été au Couvent, n'ayant point de bonne amie, et surveillée par une mère vigilante, je n'avais que des idées vagues, et que je ne pouvais fixer [...].“ LD, LXXXI, 206.
Volanges und Dancenys, die beide als Versuchsobjekte der Verführungsexperimente der Merteuil und des Vicomtes dienen.