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4.1 Fragestellung und Aufbau der Studie

Ist die soziale Struktur der Abgeordneten des Deutschen Bundestages repräsentativ oder selektiv? Diese Frage wird im empirischen Teil dieser Arbeit in zwei Schritten beantwortet.

Im ersten Teil wird die soziale Struktur der Abgeordneten mit den Repräsentierten (der Bevölkerung und den Parteimitgliedern) verglichen. Die deskriptive Repräsentationstheorie dient dabei als Richtschnur: Die soziale Zusammensetzung der Abgeordneten muss dem Querschnitt der Bevölkerung entsprechen und die soziale Struktur der einzelnen Fraktionen muss die Struktur der Parteimitglieder adäquat widerspiegeln. Nur auf der Basis der reprä-sentativen Vertretung aller Gruppen und Interessen kann ein Optimum an politischer Repräsentation erreicht werden.1

Die dabei relevanten Strukturmerkmale werden aus der rezipierten Literatur abgeleitet. Die verschiedenen Autoren beschreiben die soziale Struktur der Abgeordneten anhand des Alters,2 des Geschlechts,3 der Bildung,4 des Berufes5 und der Mitgliedschaft in verschiedenen Organi-sationen.6 Allerdings beschränken sie sich auf die Analyse der Abgeordneten und untersuchen nicht, ob die Ausprägungen der verschiedenen Merkmale repräsentativ für die Bevölkerung sind. Allenfalls einzelne Merkmale werden gegenübergestellt: Dahrendorf vergleicht die soziale Schichtung des 4. Deutschen Bundestages (1961) mit der Bevölkerungsstruktur von 1955 (Dahrendorf 1977, S. 266). Müller untersucht die Entwicklung des Bildungsniveaus im Bundestag und in der Bevölkerung von 1949 bis 1987 (Müller 1988b). Rebenstorf vergleicht in erster Linie die Berufsstruktur von Bundestagsabgeordneten, Parteimitgliedern und Be-völkerung von ca. 1955 bis 1990 (Rebenstorf 1995).

In dieser Arbeit werden im Gegensatz dazu die Ausprägungen aller Merkmale sowohl für die Abgeordneten als auch für die Parteimitglieder und die Bevölkerung erhoben und mit-einander verglichen, um systematisch zu überprüfen, ob die soziale Struktur der Abgeord-neten repräsentativ für die Repräsentierten ist. Im Anschluss daran kann klar beschrieben werden, wo es zu Abweichungen in der sozialen Struktur kommt, d.h. welche sozialen

1 vgl. Kapitel "2.1 Repräsentativität als Element politischer Repräsentation" in dieser Arbeit.

2 Das Alter wird von Kaack, Müller und Dahrendorf berücksichtigt.

3 Müller berücksichtigt das Geschlecht in allen zitierten Arbeiten. Darüber hinaus gibt es spezielle Arbeiten zu weiblichen Abgeordneten, z.B. von Hoecker 1987 und 1994, sowie Fülles 1969.

4 Vgl. insbesondere Müller 1988 und Dahrendorf 1977.

5 Vgl. beispielsweise Kaack 1988 und Rebenstorf 1992.

6 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Müller.

Gruppen nicht ausreichend repräsentiert werden oder gar keine Berücksichtigung finden und welche Bevölkerungsteile überrepräsentiert sind.

Auf der Basis dieser Ergebnisse wird im zweiten Teil der empirischen Arbeit die Rekrutierung der Bundestagsabgeordneten genauer analysiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, aufgrund welcher weiteren Faktoren die Abgeordneten in den Bundestag gewählt wurden. In der Literatur werden dazu drei verschiedene Erklärungsmodelle angeboten. Kaack führt die Rekrutierung auf die Politiknähe der zuvor ausgeübten beruflichen Tätigkeit zurück.

Personen, die einen politiknahen Beruf ausgeübt haben, sind für die Abgeordnetentätigkeit besonders qualifiziert und ihre Kandidatur für ein öffentliches Amt verläuft deshalb meist erfolgreich (Kaack 1981, Kaack 1988b). Bei Herzog ist die politische Erfahrung der Bundes-tagsabgeordneten für deren Rekrutierung ausschlaggebend. D.h. nahezu alle Abgeordneten haben schon vor ihrer Kandidatur für das Bundestagsmandat politische Ämter in der Partei und verschiedenen öffentlichen Gremien wahrgenommen und sich auf diesem Weg für das Bundestagsmandat qualifiziert (Herzog 1975). Rebenstorf führt die Rekrutierung der Abgeordneten auf das Kapitalvolumen und die Kapitalstruktur zurück. Nur Personen mit einem hohen sozio-ökonomischen Status und ausreichend politischem Kapital können sich im politischen Feld durchsetzen und werden in den Bundestag gewählt.

Alle drei Erklärungsmodelle werden anhand der empirischen Ergebnisse überprüft, um schließlich bestimmen zu können, nach welchen Mustern die Rekrutierung der Abgeordneten tatsächlich verläuft.

Zur Klärung der Frage, ob die soziale Struktur der Abgeordneten repräsentativ oder selektiv ist, tragen die Ergebnisse beider Teile bei. Anhand der Resultate des ersten Teils wird dargestellt, welche sozialen Gruppen durch die Abgeordneten nicht ausreichend repräsentiert werden. Durch den zweiten Teil wird erklärt, wie die soziale Struktur der Abgeordneten ent-steht, sich verändert und wie hoch die Chance für eine repräsentative Zusammensetzung der Abgeordneten ist.

4.2 Untersuchungszeitraum

Um für beide Teile aussagekräftige Ergebnisse erzielen zu können, müssen mehrere Legislaturperioden untersucht werden. Nur dann können feste Muster oder gegebenenfalls Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung und Rekrutierung nachgewiesen werden.

Aus diesem Grund werden in dieser Studie die Bundestagsabgeordneten aus vier aufeinander-folgenden Legislaturperioden (11. bis 14. Legislaturperiode, 1987 bis 1998) untersucht.

Nicht nur aus Gründen der Aktualität ist der Zeitraum von 1987 bis 1998 besonders interessant. Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung ergeben sich in erster Linie bei Stimmengewinnen bzw. -verlusten einzelner Parteien (vgl. Kaack 1971). Anhand dieser Ver-änderungen kann man erkennen, welche Gruppen nur im günstigen Fall des Stimmengewinns der eigenen Partei Zugang in das Parlament haben. Gleichzeitig kann gezeigt werden, welche Gruppen bei Verlusten aus dem Bundestag ausscheiden. In den vier zu untersuchenden Legislaturperioden gibt es deutliche Verschiebungen in den Stimmenanteilen: In der 11.

Wahlperiode (WP) sind mit der Christlich Demokratischen Union (CDU), der Christlich-Sozialen Union (CSU), der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Freien Demokratischen Partei (FDP) und den Grünen fünf Parteien vertreten. In der 12. WP tritt erstmals die Partei des Demokratische Sozialismus (PDS) in den Bundestag ein. Dagegen scheitern die westdeutschen Grünen in dieser Legislaturperiode an der Fünf-Prozent Hürde und werden nur durch die ostdeutsche Listenvereinigung Bündnis90/Die Grünen weiter ver-treten. Für die 13. WP treten Bündnis90/Die Grünen (Grünen) in Ost und West gemeinsam zur Wahl an und schaffen den Sprung in den Bundestag. Durch die Ergebnisse der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag (BT) wird die Regierung von CDU/CSU und FDP durch die neue Koalition von SPD und Grünen ersetzt. Die Verschiebungen in den Stimmenanteilen ver-ändern die Mandatsverteilung im Bundestag und es ist zu erwarten, dass sich dadurch Wandlungen in der sozialen Struktur des Bundestages ergeben.

4.3 Entwicklung der Hypothesen

Die Frage der repräsentativen oder selektiven Repräsentation wird in zwei Teilen unter-sucht: Zum einen wird die soziale Struktur der Repräsentanten (der Bundestagsabgeordneten) mit der sozialen Struktur der Repräsentierten (Parteimitglieder und Bevölkerung) verglichen.

Zum anderen wird untersucht, welche Faktoren die Rekrutierung der Abgeordneten entschei-dend beeinflussen. Für beide Teile werden zunächst die Hypothesen und die dafür notwendigen Variablen bestimmt. Im Anschluss daran werden diese Variablen operationalisiert.

4.3.1 Repräsentativität der Abgeordneten

Beim Vergleich von Abgeordneten, Parteimitgliedern und Bevölkerung werden folgende Variablen berücksichtigt: Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf und Mitgliedschaft in Organisationen. Es wird überprüft, ob die verschiedenen Merkmale durch die Abgeordneten

proportional zur Bevölkerung bzw. den Parteimitgliedern repräsentiert werden. Daher werden folgende Hypothesen erstellt:

H1: Die soziale Struktur der Bundestagsabgeordneten entspricht der sozialen Struktur der deutschen Wahlbevölkerung.

H2: Die soziale Struktur der Parteimitglieder der im Bundestag vertretenen Parteien entspricht der sozialen Struktur der Abgeordneten der entsprechenden Fraktionen.

4.3.2 Rekrutierung der Bundestagsabgeordneten

Drei Erklärungsmodelle zur Rekrutierung der Bundestagsabgeordneten werden überprüft:

Das Konzept der politiknahen Berufe (vgl. Kaack 1991, Kaack 1998b), die Qualifikation über politische Erfahrung (vgl. Herzog 1975) und die Rekrutierung nach sozialen Klassen (vgl.

Rebenstorf 1995).

Kaack stellt für den 9. Bundestag fest, daß "92 Prozent aller Bundestagsabgeordneten einer Berufsgruppe angehören, für die eine spezifische Politiknähe nachgewiesen werden kann"

(Kaack 1981, S. 189). Folglich wird folgende Hypothese zur Überprüfung seines Modells erstellt:

H3: Von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages üben vor der Übernahme des Bundestagsmandates ca. 90 Prozent einen politiknahen Beruf aus.

In seiner Arbeit über politische Karrieren gelangt Herzog zu dem Ergebnis, dass nur ca.

zehn Prozent aller Spitzenpolitiker "ohne vorherige Erfahrung und Bewährung in ehren-amtlichen politischen Positionen in einer Partei oder im öffentlichen Leben, in eine haupt-berufliche politische Position gelangen" (Herzog 1975, S. 151). Alle anderen Berufspolitiker haben demnach vor dem endgültigen Wechsel in die Politik bereits politische Ämter und Mandate in der Partei oder der Öffentlichkeit übernommen. Um dieses Modell von Herzog zu überprüfen, wird folgende Hypothese erstellt:

H4: Vor der Übernahme des Bundestagsmandates haben ca. 90 Prozent der Bundestags-abgeordneten durch die Ausübung von Parteiaufgaben und öffentlichen Ämtern politische Erfahrung und Kompetenz erworben.

Rebenstorf stellt in ihrer Studie zur politischen Klasse in Deutschland fest, dass bei der Rekrutierung der Bundestagsabgeordneten nicht nur die politische Erfahrung, sondern auch die Klassenzugehörigkeit der Abgeordneten ausschlaggebend ist. Ihr Erklärungsmodell trifft zu, wenn die folgende Hypothese über die empirischen Ergebnisse bestätigt wird:

H5: Die Bundestagsabgeordneten stammen zu ca. 90 Prozent aus der herrschenden Klasse oder verfügen über politisches Kapital.

Zur Überprüfung der dritten Hypothese, werden die beruflichen Tätigkeiten der Abgeordneten in die Kategorien 'politiknah' und 'politikfern' unterteilt. Im Rahmen der vierten Hypothese müssen die Dauer der Parteimitgliedschaft, frühere Parteimandate und öffentliche Wahlämter der Bundestagsabgeordneten erfasst werden. Diese Angaben fließen auch bei der Kontrolle der fünften Hypothese ein, da über sie das politische Kapital gemessen werden kann. Zudem werden die Abgeordneten nach verschiedenen sozialen Klassen unterteilt.