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Exodus und Ankunft in Europa

Im Dokument Dikhen amen! Seht uns! (Seite 54-57)

Verschiedene Forschungen belegen, dass Vorfahren der Rom*nja die nord-westindischen Gebiete um das Jahr 1.000 verließen und innerhalb von 50 Jahren das Byzantinische Reich er-reichten. Aber was waren die Beweg-gründe für diesen Exodus?

Eine der am meisten verbreiteten The-orien für die Vertreibung der Rom*nja ist die Annahme, dass die Invasion der Truppen Sultan Mahmuds von Ghazni der Hauptgrund für den Aufbruch eines Teils der Bevölkerungsgruppen gewesen ist, welche die Vorfahren der Rom*nja waren. Demnach floh ein Teil der Bevöl-kerung vor der Eroberung Nordindiens durch die Ghaznawiden (https://en.wiki-pedia.org/wiki/Ghaznavids). Sie er-reichten dann Byzanz (Hancock, 2007).

Andere Theorien legen nahe, dass die Vorfahren heutiger Rom*nja nach ihrer Versklavung für die ghaznawidischen Truppen gekämpft haben. Das beruht darauf, dass die Wörter des Roma-nes, die dem Sanskrit näher sind, einem militärischen Wortschatz entstammen.

Zudem gehen die herkömmlichen Hand-werksberufe der Rom*nja auf Tätigkei-ten zurück, die in Bezug zu HilfsarbeiTätigkei-ten für die Armee standen. Zusammenge-nommen mit serologischen Studien, die zeigen, dass die Rajputs (indische Krieger*innen) genetische Ähnlichkeiten mit Rom*nja aufweisen, spricht das für die Erklärung, dass Rom*nja Teil dieser Armeen waren. Nach ihrer Gefangen-nahme durch die Ghaznawiden waren sie als Krieger*innen oder

Hilfsarbei-ter*innen tätig und hatten unterschied-liche soziale Positionen (Carmona, 2013).

Diese Menschen wurden durch die Ghaznaviden in Kriegsgefangenschaft genommen und sie schlossen sich der Armee an, auch um militärische Hilfsar-beiten zu machen oder um als versklavte Krieger*innen zu kämpfen. In dieser Hinsicht setzten sich die Vorfahren der heutigen Rom*nja aus Personen zu-sammen, die unterschiedlichen sozialen Positionen angehörten. Diese beiden Theorien fordern Erzählungen heraus, welche durch bestimmte orientalisti-sche Hochschulen eingeführt wurden, die aufgrund ihrer Vorurteilsbehaftung Rom*nja als Nachfahren der unte-ren Kasten der indischen Gesellschaft klassifizieren.

Entweder als Ergebnis ihrer Flucht vor den Ghaznawiden oder als Gefan-gene der Seldschuken – einer Dynas-tie, welche die Ghaznawiden besiegte und deren Kriegsgefangene erneut in Gefangenschaft nahm, erreichten die Rom*nja in der zweiten Hälfte des 11.

Jahrhunderts Byzanz. Über ihre Sprache und Kultur erlangten sie dort großen Einfluss. Von dort aus starteten die verschiedenen Rom*nja Communities ihre Auswanderung nach Europa über verschiedene Routen. Rom*nja lebten etwa zweieinhalb Jahrhunderte im By-zantinischen Reich. Von dort flohen die Rom*nja erneut, nachdem das Osma-nische Reich ins ByzantiOsma-nische Reich eingefallen war, und sie kamen ab 1300 in Europa an (Lee, 2009). Verschiede-ne Thesen beVerschiede-nenVerschiede-nen die Ankunft der Türk*innen als Hauptgrund für die Ver-drängung der Rom*nja aus Anatolien, ob als Krieger*innen, die die osmanischen

Truppen begleiteten, als ihre Sklav*in-nen oder auf der Flucht vor ihSklav*in-nen.

Verschiedene Zeugnisse legen nahe, dass es im späten Mittelalter kei-ne offekei-nen feindseligen Reaktiokei-nen auf Rom*nja gab. Das zeigt sich durch verschiedene sogenannte freie Gelei-te, welche vom Adel und Klerus (den mächtigsten Institutionen dieser Zeit) erteilt wurden. Diese offizielle Erlaubnis gestattete den Rom*nja, sich frei über den europäischen Kontinent zu bewe-gen und die verschiedenen Communities überall zu verbreiten. Die Fähigkeit, wel-che Rom*nja für bestimmte Berufe, wie das Schmiedehandwerk, die Waffenher-stellung oder die Musik hatten, erlaubte es ihnen zu überleben und Wohlwollen von Teilen der Bevölkerung zu erhalten.

Doch diese Toleranz hielt nicht lange an und schon bald wurden Rom*nja als Spion*innen oder Wilde beschuldigt und für unmoralische und heidnische Praxen angeklagt. Diese Anschuldigungen waren unbegründet und gingen zurück auf die Vorstellungswelt derGadje*a, die mit Rom*nja Kontakt aufnahmen.

Die Ankunft der Rom*nja in Europa prallte mit der Entstehung und Er-schaffung des modernen Staates und seiner Herausbildung als rassistisches System zusammen. Gesetze, welche die Staatsbürger*innen vor der äußeren

„Bedrohung“ schützen sollten, wurden eingeführt. Rom*nja galten als äußere Bedrohung (Garcés, 2016). Um diese

2 Ein Begriff, der von Edward Said geprägt wurde. Dieser Begriff bezieht sich auf die falsche und herablassende Darstelllung, welche die westliche Zivilisation über Gesellschaften des mittleren Ostens und asiatische sowie af-rikanische Gesellschaften geschaffen hat. Der Begriff kann auch in Bezug auf die Darstellung beobachtet werden, welche die westliche Zivilisation über Indigene, Rom*nja und andere Bevölkerungsgruppen erschaffen hat.

Bedrohung zu rechtfertigen, wurde ein orientalistisches2 und exotisches Bild der „Anderen“ geschaffen, welches der Selbstdarstellung der Gesellschaft und dessen, was die Gesellschaft nicht sein durfte, gegenüberstand. All dies wurde als Ausgangspunkt dafür genutzt, die systematisch-rassistische Herrschaft über Rom*nja zu rechtfertigen. Die Vorurteile und rassistischen Ideologien wurden verwendet, um die Ausgren-zung, Diskriminierung und Beherr-schung der Rom*nja Communities durch die Gadje*a zu begründen (Fernández, 2019). All dies fand in dem Kontext der Entwicklung des modernen Staates statt, wo die Macht der Königshäuser sank und neue und kompliziertere Me-chanismen der Regierung entstanden.

Gleichzeitig fand die Vereinheitlichung der Bevölkerung und eine große Kont-rolle über sie statt. Diese Entwicklung ging mit neuen philosophischen Heran-gehensweisen und Konzepten einher, wie Vernunft, Fortschrittsdenken und Aufklärung. Diese ordneten Europa sowie seine Visionen und Sichtweisen über die Welt als die einzig gültigen ein.

Diese Haltung bestimmte seitdem die Beziehungen Europas mit dem Rest der Welt. Es entwickelten sich Mechanis-men der Kontrolle und Beherrschung über alle, die als „Wilde“, „Unterentwi-ckelte“ galten und „erleuchtet“ werden mussten. Auf diese Art und Weise wur-den unter anderem die Kolonisierung anderer Gebiete, die Versklavung

ande-rer Menschen, die Vorherrschaft über Rom*nja, die Vertreibung von Muslim*as und Juden*Jüdinnen gerechtfertigt.

In diesem Klima kamen verschiedene Maßnahmen der Unterdrückung und Gewalt auf, die sich in verschiedenen Vorhaben, Bestimmungen und Gesetzen äußerten, welche sich gegen Rom*nja als nicht-weiße und vermeintlich heidnische und wilde Feinde richteten.

Rom*nja sollten mit allen notwendigen Mitteln zivilisiert werden. Die Beispiele sind zahlreich: bereits 1427 wurden sie aus Paris vertrieben, 1496 beschuldigte sie der Reichstag in Landau und Freiburg als Verräter*innen, was ihre Ächtung zur Folge hatte, 1499 erfolgte ihre Zwangs-sesshaftmachung durch die Katholi-schen Könige in Spanien, 1568 wurden sie aus dem Herrschaftsbereich der rö-misch-katholischen Kirche durch Papst Pius V. ausgeschlossen und 1774 wurden in Ungarn die Gesetze Maria Theresias von Österreich-Ungarn eingeführt. Es gibt hunderte weitere Beispiele. Wir bräuchten viel mehr als einen Artikel, um all diese Maßnahmen zu analysieren.

Die Maßnahmen hatten unterschied-lichen Charakter. Zunächst waren sie auf bestimmte Aspekte der Kultur und Lebensweise der Rom*nja bezogen, wie das Reisegewerbe, die Sprache, die Kleidung oder spirituelle Praktiken. Die-se Aspekte brachen mit der modernen absolutistischen Idee einer einheitlichen Gesellschaft. Die Entstehung der Natio-nalstaaten führte zur Assimilierung und Eingliederung der Bevölkerungsgruppen, welche als Wilde betrachtet wurden, deren Praktiken der europäischen Wel-tanschauung widersprachen. Die Folgen dieser Entwicklung sind verschieden:

Vertreibung, Mord, Jagen, Erhängen bis hin zum Genozid.

Um den Stellenwert und die Reichweite dieser Maßnahmen zu verstehen, sollten wir zwei der am zerstörerischsten und schmerzhaftesten Maßnahmen gegen Rom*nja vor dem Porajmos hervorhe-ben. Eine davon ist die Versklavung der Rom*nja in Rumänien. Rom*nja, wel-che in der zweiten Hälfte des 14. Jahr-hunderts im Gebiet der Walachei und Moldawiens ankamen, wurden für mehr als 500 Jahre versklavt. Ganze Familien gehörten dadurch dem Adel, den Klös-tern oder Einzelpersonen. Sie konnten verkauft und weitergegeben werden. Die Eigentümer*innen hatten uneingeschränk-te Rechuneingeschränk-te über die Sklav*innen. Es wurde ein gut ausgebautes System eingeführt, welches dazu führte, dass Rom*nja als nicht legale Personen kategorisiert wurden, die einfach das Eigentum von anderen waren (Hancock, 1987).

Zusammen mit der Sklaverei gibt es den Fall des ersten Genozids an den Rom*nja in Spanien im 18. Jahr-hundert. Dort gab es den Versuch, sie biologisch auszulöschen. Dieses Vorhaben wurde von den spanischen Autoritäten erdacht und unter dem Zuspruch der katholischen Kirche umgesetzt. Es bestand aus der Tren-nung von Männern und Kindern über sieben Jahren, von Frauen und Kin-dern unter sieben Jahren. Männer und Kinder über sieben Jahren wurden in Gefängnisse und in Arbeitslager (auf Galeeren und in Minen) gesen-det. Frauen wurden gemeinsam mit den jüngeren Kindern in Gefängnisse oder in Klöster gebracht, wo sie von der katholischen Kirche indoktriniert

wurden. Dieser Prozess dauerte 14 Jahre an. Während dieser Zeit wurden zwischen 9.000 und 12.000 Rom*-nja Opfer von Gefangennahme und Inhaftierung, viele von ihnen starben und es beeinträchtigte das Leben von Rom*nja in all seinen Bereichen sehr stark.

Deutschland: Der Weg zum

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