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2 Erziehender Sportunterricht

2.2 Erziehender Sportunterricht und Kompetenzorientierung

Bildungswissenschaftliche Kompetenzdiskussion

Hinsichtlich der Diskussion zum Begriff der Kompetenz können zwei Diskussionslinien unterschieden werden (Klieme & Hartig, 2007): Seit den 1970er Jahren wird ein erziehungswissenschaftlicher Ansatz (Roth, 1971) und seit den 2000er Jahren ein bildungswissenschaftlicher Ansatz diskutiert (Schaper, 2012). In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion werden Kompetenzen mit Bildung gleichgesetzt (Roth, 1971) und in die Trias Selbst-, Sach-, und Sozialkompetenz unterteilt. Schaper (2012, S. 16–17) definiert die Bestandteile wie folgt: „Selbstkompetenz: persönlich-charakterliche Grundfähigkeiten wie z. B. moralische Urteilsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft“, „Sach- und Methodenkompetenz:

allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit wie z.B. Problemlösungsfähigkeit oder Abstraktionsfähigkeit“,

„Sozialkompetenz: kommunikative und kooperative Fähigkeiten“. Dieses erziehungswissenschaftliche Verständnis wird jedoch zum einen aufgrund der mangelnden theoretischen Fundierung und fehlender überschneidungsfreier Operationalisierbarkeit kritisiert (Gogoll, 2011). Zum anderen fehlt eine domänenspezifische Ausrichtung bei der oben definierten überfachlichen Kompetenztrias, so dass Fachspezifika nicht berücksichtigt werden (Klieme & Hartig, 2007). Spätestens seit Ptack (2018) ist

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18 bekannt, dass in einzelnen Settings (z.B. berufliche Bildung oder Hochschulbildung) kein einheitliches Kompetenzverständnis vorherrscht. In den vergangenen Jahren zeigt sich jedoch vermehrt eine Abkehr vom erziehungswissenschaftlichen Kompetenzverständnis (vgl. Ahns, 2018) hin zum bildungswissenschaftlichen Verständnis.

Ausgangspunkt für das bildungswissenschaftliche Kompetenzverständnis ist u.a. der „PISA-Schock“

Anfang der 2000er Jahre: Deutsche Schülerinnen und Schüler lieferten in der OECD-Studie im internationalen Vergleich unterdurchschnittliche Ergebnisse v.a. bei der Bewältigung von Anwendungsaufgaben und traten damit eine Diskussion um mögliche Defizite des deutschen Schulsystems los. Daraufhin veranlasste die Kultusministerkonferenz im Rahmen der Klieme-Expertise die Entwicklung und Einführung von nationalen Bildungsstandards zur Anbahnung von Kompetenzen, also „anwendungsbezogenem Wissen und ganzheitlichem Können“ (Klieme & Hartig, 2007, S. 13).

Dadurch sollte die Problematik des „Trägen Wissens“ und „Blinden Könnens“ – welche als Ursache für die Probleme bei anwendungsbezogenen Aufgaben gesehen wurden – entgegenwirkt werden. Dabei ging es darum, allgemeine Bildungsziele zu definieren, die festlegen, „welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zur bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhalten erworben haben sollen“ (Kultusministerkonferenz, 2004, S. 9). Bildung richtet sich am Output aus: es ist nicht (mehr) entscheidend, welche Inhalte eine Lehrkraft für den Unterricht auswählt, sondern welche Inhalte ein Schüler oder eine Schüler gelernt hat. Im bildungswissenschaftlichen Kompetenzverständnis (z.B. Baumert, 2002, Weinert, 2001, Klieme & Leutner, 2006, Gogoll, 2011) sind Kompetenzen ein „pragmatisch bedeutsamer Kern“ (Baumert, 2002), d.h. Kompetenzen sind ein Teilaspekt von Bildung (Ptack, 2018). Kompetenzen bieten somit einen Zugang zu höherer Bildung (Klieme & Hartig, 2007) und werden folgendermaßen definiert:

„Kompetenzen sind die bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeit oder Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert, 2001, S. 27).

Umgangssprachlich wird im Zusammenhang dieser Handlungskompetenz auch von der Trias Wissen, Können und Wollen gesprochen (Klieme & Hartig, 2007): Im Mittelpunkt stehen das Wissen und die Fähigkeit (sowie ggf. auch der Wille) Alltagsanforderungen bewältigen zu können. Damit wird gleichermaßen die Forderung gestellt, dass die konkrete Konzeptualisierung von Kompetenzen in die einzelnen Domänen verlagert wird, um spezifische Anforderungssituationen, Bildungsansprüche und Bildungsziele zu berücksichtigen (Klieme, 2004; Klieme & Hartig, 2007). Während die Einführung kompetenzorientierter Lehrpläne für die „PISA-Fächer“ in Folge des KMK-Beschlusses verpflichtend war, folgten die anderen Fächer – so auch Sport – mehr oder weniger freiwillig der Vorgabe. Diese

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führt in der Sportpädagogik zu kritisch-konstruktiven und kritisch-distanzierenden Diskussionen (Gogoll & Kurz, 2013; Kurz & Gogoll, 2010; Stibbe, 2010; Thiele, 2012). Einen Überblick über die Diskussionslinien liefert u.a. Töpfer (2017).

Erziehender Sportunterricht und Kompetenzen

Das sportpädagogische Konsens-Konzept des Erziehenden Sportunterrichts berücksichtigt die Diskussion um Kompetenzen auf den ersten Blick nicht. Allerdings gibt es Vorschläge, wie Kompetenzorientierung und Erziehender Sportunterricht anschlussfähig zueinander gedacht werden können: Dazu sollen die pädagogischen Perspektiven als Kompetenzbereiche aufgefasst werden (Balz, 2011b), wobei unter Kompetenzen ein Zusammenspiel aus Fähigkeiten und Fertigkeiten (Können), Kenntnissen (Wissen) und Haltungen (Wollen) verstanden (Kurz, 2009) wird. Insgesamt sollen motorische, kognitive und sozial-affektive Aspekte in den Sportunterricht einbezogen werden (ebd.).

Dabei muss es vor allem um das „Wie?” gehen: „We argue that it is not only what we teach in terms of knowledge about health that is of importance. It is much about how we teach in terms of student influence, problem solving, democratic participation and a critical society“ (McCuaig, Quennerstedt &

Macdonald, 2013, S. 122). In einem Literaturüberblick mit anschließender Experteneinordnung kommt Ptack (2018) zu sechs Kriterien eines kompetenzorientierten Unterrichts in Deutschland: kognitive Aktivierung, Offenheit, Reflexion, Lebensweltbezug, Individualisierung, Schülerorientierung. Diese Kriterien besitzen auch nach eigener Recherche Bedeutsamkeit in der internationalen Diskussion: Es zeigt sich in der aktuellen Diskussionen um die (indirekte) Verbindung von Lehrkraftverhalten und Schülerlernen, dass Lehrkräfte die Rolle eines Lernbegleiters einnehmen sollen, der eine kompetenzförderliche Lernumgebung schafft (Hodges et al., 2016; Zhang et al., 2014). Dazu ist es wichtig, dass Sportlehrkräfte gesundheitliche Aspekte explizit zum Thema machen und Schülerinnen und Schüler in ihrem Handeln, aber auch ihrem Denken, aktiv eingebunden sind. Dies wird oftmals untern den Begriffen „kognitive Aktivierung“ (Goodyear & Dudley, 2015; Hodges et al., 2016) und

„Reflexion“ (Goodyear & Dudley, 2015) subsummiert. Darüber hinaus legen Befunde anderer Studien nahe, dass eine gewisser „Lebensweltbezug“ und „Alltagsrelevanz" (Hassandra, Goudas & Chroni, 2003; McCuaig et al., 2013) sowie eine entsprechende „Individualisierung“ des Lernprozesses eine starke Verbindung zu einem höheren Interesse und damit verbunden einer höheren Motivation zum Lernen bereithalten (Goodyear & Dudley, 2015; Lee, Fredenburg, Belcher & Cleveland, 1999). Zuletzt sind die Aspekte „Offenheit“ und „Schülerorientierung“ (Byra & Jenkins, 1998; Goodyear & Dudley, 2015; Haerens, Kirk, Cardon & Bourdeaudhuij, 2011; Harris, 2001; Hassandra et al., 2003; McCuaig et al., 2013; Sallis et al., 2012; Tinning & Kirk, 1991) wichtige Aspekte für eine kompetenzförderliche Lernumgebung. Schon Francois Rabelais formulierte vor über 500 Jahren den Gedanken „Kinder wollen

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20 nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Fackeln entflammt werden“, der auf die Bedeutung der Schülerorientierung anspielt. Außerdem schließen beschriebene Aspekte nahezu nahtlos an die Diskussion um die methodische Gestaltung von Erziehendem Sportunterricht an (vgl. Kapitel 2).

Kompetenzmodelle für das Fach Sport

In Folge der Diskussion um Bildungsstandards in der Sportpädagogik wurden mehrere Kompetenzmodellentwürfe für das Fach Sport modelliert, z.B. Zeuner & Hummel (2006), Franke (2008), Gissel (2014), Gogoll (2013) oder Messmer (2014). Bisher wurde keines der Modelle empirisch überprüft. Eine Übersicht über die Modelle findet sich bei Gogoll (2009). Töpfer (2017) ordnet die genannten fünf Modelle hinsichtlich der Kriterien Passung zum Konsenskonzept des Erziehenden Sportunterrichts (insbesondere Handlungsfähigkeit und Mehrperspektivität) sowie Anschlussfähigkeit an die empirische Bildungsforschung (insbesondere Kompetenzkonstrukte im Sinne von Weinert (2001) und Struktur der Modelle). Dabei stellt er heraus, dass bisher keines der Modelle allen Forderungen gerecht wird. Das Modell von Gogoll (2013) jedoch als einziges Modell in großen Teilen anschlussfähig an die Bildungsziele des Erziehenden Sportunterrichts und die Forderungen der empirischen Bildungsforschung ist.

Das Modell der sport- und bewegungskulturelle Kompetenz von Gogoll (2013) folgt der Leitidee der Handlungsfähigkeit im Sport (Kurz, 2003) und sieht die sport- und bewegungskulturelle Kompetenz als

„funktional-pragmatische Grundlage“ von Bildung (Gogoll, 2011, S. 51). Dazu definiert er sport- und bewegungskulturelle Kompetenz als

„die Fähigkeit, die körperlichen, sozialen, dinglich-materiellen und intentionalen Bezüge sportbezogenen Handelns zu erkunden, zu erschließen, zu ordnen und zu beurteilen sowie in der Lage zu sein, das daraus gewonnene Handlungswissen unter dem Einsatz weiterer, auch körperlicher und motorischer Leistungsdispositionen zu nutzen, um im Bereich Sport und Bewegung selbstbestimmt und verantwortlich handeln zu können“ (Gogoll, 2013, S. 16).

Auf dieser Basis modelliert Gogoll (2013) ein dreidimensionales Modell, das Kompetenzbereiche, Anforderungsniveaus und Themenkomplexe unterscheidet (vgl. Abbildung 2).

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Abbildung 2: „Modell der sport- und bewegungskulturellen Kompetenz“ (Gogoll, 2013)

Auf Ebene der Kompetenzbereiche unterscheidet er zwischen den drei Bereichen „Erkunden und Erschließen“, „Ordnen und Deuten“ sowie „Entscheiden und Planen“. In Anlehnung an Bernholt, Parchmann & Commons (2009) berücksichtigt er die fünf Anforderungsniveaus „unreflektiertes Erfahrungswissen“, „Fakten“, „Prozessbeschreibungen“, „Lineare Kausalität“ und „Multivariate Interdependenz“. Schließlich differenziert er sechs Themenkomplexe auf Basis der pädagogischen Perspektiven im Sinne von Kurz (2004), d.h. in „Sport und Gesundheit“, „Sport und Leistung“, „Sport und Wagnis“, „Sport und Eindruck“, „Sport und Miteinander“, „Sport und Ausdruck“.

2.3 Empirische Befunde zur Umsetzung des Erziehenden Sportunterrichts in der