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2 Erziehender Sportunterricht

2.3 Empirische Befunde zur Umsetzung des Erziehenden Sportunterrichts in der

Es gibt einige Studien, die sich explizit oder implizit mit der Umsetzung Erziehenden Sportunterrichts in der Sportunterrichtswirklichkeit befassen. Dazu zählen zum einen Studien zur Umsetzung in Lehrplänen und in der Sportunterrichtspraxis und zum anderen solche, die sich mit interpersonellen Unterschieden zwischen Lehrkräften und einzelnen Perspektiven (hier von Interesse: Perspektive Gesundheit) beschäftigen. Diesen vier Bereichen folgend, werden die Befunde zusammengefasst.

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22 Umsetzung von Erziehendem Sportunterricht in deutschen Lehrplänen

Befunde der SPRINT-Studie zeigen, dass sich nahezu alle neueren Lehrplänen (etwa ab der Jahrtausendwende) an dem Doppelauftrag des Erziehenden Sportunterricht und der Mehrperspektivität orientieren (Prohl & Krick, 2006), obgleich teilweise ein nur impliziter Verweis gegeben ist. Beispielsweise verwendet der Bayrische Lehrplan zur Strukturierung der Kompetenzerwartungen die Lernbereiche „Gesundheit und Fitness“, „Fairness und Kooperation“,

„Freizeit und Umwelt“ und „Leisten, Gestalten, Spielen“ (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung Bayern). Diese Lernbereiche weisen in einem zweiten Blick große Übereinstimmungen mit den pädagogischen Perspektiven von Kurz (2004) auf. Insbesondere die Perspektiven Leistung, soziales Miteinander und Gesundheit werden in nahezu allen Lehrplänen thematisiert (Prohl & Krick, 2006). Neuere Lehrpläne orientieren sich zudem an Bewegungsfeldern und nicht mehr nur am klassischen Sportartenkanon (z.B. Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, 1995). Eine konkrete Empfehlung zur mehrperspektivischen Unterrichtsgestaltung findet sich in Lehrplänen generell nur selten (Stibbe, 2004). Vor dem Hintergrund der zusammengefassten Befunde der Lehrplananalysen verschiedener Bundesländer Deutschlands kann also resümiert werden, dass Erziehender Sportunterricht auf Lehrplanebene längst Eingang in die Sportunterrichtswirklichkeit gefunden hat (u.a. Hessisches Kultusministerium, 2010; Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, 1995; Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2016).

Umsetzung von Erziehendem Sportunterricht in der Sportunterrichtspraxis

Allerdings wird immer wieder daran gezweifelt, ob Erziehender Sportunterricht auch in der konkreten Sportunterrichtspraxis Umsetzung findet: Blotzheim & Kamper (2007, S. 107) konstatieren beispielswiese, dass ein „an institutionalisierten Sportarten orientierter Unterricht, (…) weitgehend aus eingefahrenen Ablaufroutinen und (…) methodisch einseitigen Inszenierungsformen“ besteht.

Neumann (2018, S. 290) führt weiter aus, dass mehrperspektivischer Sportunterricht als „Phantom der Schulsportpraxis“ gelten kann. D.h. ein zentrales Prinzip Erziehenden Sportunterrichts scheint in der Praxis des Sportunterrichts keine Umsetzung zu finden. Mögliche Gründe hierfür sieht u.a. Kurz (2009, S. 38) darin, dass eine Orientierung am Sportartenkonzept/an der konservativen Position

„bescheidener, klarer und machbarer“ scheint. Denn die Umsetzung von Erziehendem Sportunterricht sei aufwändiger und erfordere eine gewisse Distanz zur eigenen Sportsozialisation (Neumann & Balz, 2011). Dies wiederum könnte zu einer Überforderung und Ablehnung der Lehrkräfte des Erziehenden Sportunterrichts und dessen Umsetzung gegenüber führen (Gogoll, 2006). Hapke (2017) gibt einen detaillierten Überblick zu empirisch gesichertem Wissen zu genannten Vermutungen bzw. zur Umsetzung eines Erziehenden Sportunterrichts in der Sportunterrichtswirklichkeit. Dazu werden

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Befunde aus Evaluations- und Schulsportstudien sowie der Sportlehrer- und Lehrplanforschung zusammengetragen. Nachfolgend werden die zentralen Erkenntnisse zusammengefasst:

Befunde zum Begriffsverständnis, verfolgten Zielen, Inhalten und methodischen Erwägungen lassen eine gewisse Diskrepanz zwischen normativer Idealvorstellung und konkreter didaktischer Umsetzung erkennen: Das Begriffsverständnis (z.B. zum sozialen Miteinander) von Lehrkräften ist zumeist wesentlich weniger differenziert als in der sportpädagogischen Diskussion (Bähr & Fassebeck, 2007;

Fischer, 2006; Heim, 2006; Müller, 2003). Bzgl. verschiedener Ziele von Sportunterricht stimmten Lehrkräfte prinzipiell fachübergreifenden Zielsetzungen (insbesondere zu dem Doppelauftrag unter den Perspektiven Miteinander, Leistung und Gesundheit) des Erziehendes Sportunterrichts zu.

Allerdings deuten Studienergebnisse darauf hin, dass die Differenz zwischen dem, was Sportlehrkräfte als sinnvoll erachten und dem, was sie in Planung und Durchführung leitet, sehr groß ist. So orientieren sich Lehrkräfte bei ihrer Planung und Durchführung insbesondere an traditionellen Sportarten und der Verbesserung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, d.h. an einer Erziehung zum Sport (Bähr & Fassebeck, 2007; Fischer, 1996; Heim, 2006; Müller, 2003). Das setzt sich bzgl. der Auswahl von Inhalten dergestalt fort, dass traditionelle Sportarten Ausgangspunkt für Planung und Durchführung von Unterricht sind, obwohl Lehrkräfte in Fragebögen angeben, Bewegungsfelder gegenüber theoretisch nicht abgeneigt zu sein (Böcker, 2010; Heim, 2006; Hofmann & Kleine, 2011). Während Lehrkräfte in Interviews angeben, eine methodische Öffnung von Sportunterricht zu begrüßen (Neuber, 2007), bestätigt sich in Unterrichtsbeobachtungen die von Neumann (2004) vermutete Hilflosigkeit der Lehrkräfte bzgl. der Umsetzung mehrperspektivischen Sportunterrichts. Störquellen werden nach Möglichkeit vermieden, statt diese produktiv zu nutzen und Unterricht wird am Ziel der Ökonomisierung im Sinne maximaler Bewegungszeit ausgerichtet (Bähr, 2009; Bähr & Fassebeck, 2007; Bund, 2009). Das Prinzip der Mehrperspektivität spielt dabei keine bedeutende Rolle (Burrmann et al., 2012; Neumann, 2018). Die methodische Inszenierung richtet sich vielmehr an sport- und bewegungsbezogenen Zielen (bspw.

Verbesserung einer bestimmten Fertigkeit) aus, statt sich auf die systematische Anbahnung pädagogisch-sozialer Zielsetzungen (z.B. Kennenlernen und erweitern eigener Grenzen [Wagnisperspektive]) zu fokussieren. Dementsprechend finden bei einigen Lehrkräften zwar Reflexionen statt, jedoch in erster Linie im Dienste der Verbesserung der motorischen Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler und nicht im Hinblick auf pädagogisch-soziale Ziele.

Damit ist ein konkreter Bezug zu einer bestimmten Perspektive bei diesen Lehrenden kaum erkennbar (Böttcher, 2017).

Die generelle Einstellung von Sportlehrkräften Erziehenden Sportunterrichts gegenüber kann also als gut eingeschätzt werden (Altenberger et al., 2005; Neuber, 2007; Oesterreich & Heim, 2006;

Wuppertaler Arbeitsgruppe, 2012). So lassen die Ergebnisse der Wuppertaler Arbeitsgruppe (2012, S.

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24 358) zur Frage „In welcher Weise hat sich Ihre Einschätzung zum Schulsport im Kontext Ihrer beruflichen Sozialisation entwickelt?“ (Wuppertaler Arbeitsgruppe, 2012, S. 358) die Antworten auf eine gewisse Öffnung der Einstellung von Lehrkräften zu Sportunterricht durch die beruflichen Sozialisation schließen. Die Tendenzen werden folgendermaßen zusammengefasst: „von genormten Sportarten zur Bewegungsvielfalt“, „von der Lehrer- zur Schülerorientierung“, „von einseitiger Leistungsorientierung zur Mehrperspektivität“ und „von Fertigkeitsvermittlung zur Persönlichkeitsentwicklung“ (Wuppertaler Arbeitsgruppe, 2012, S. 359). Allerdings offenbart sich bei genauerem Blick, dass Lehrkräfte beispielsweise bei der Planung ihres Sportunterrichts von traditionellen Sportarten ausgehen und weniger eine Themenorientierung – wie sie im Erziehenden Sportunterricht angedacht ist – verfolgen (Böcker, 2010; Schmoll, 2005).

Der Schlüssel zur Erklärung dieses zunächst gegensätzlichen erscheinenden Ergebnisses liegt in den Erhebungsmethoden: So zeigt sich, dass die gewählten Erhebungsmethoden einen entscheidenden Einfluss darauf haben, wie kompatibel die Sicht von Lehrkräften auf Sportunterricht mit dem des Erziehenden Sportunterrichts sind: Werden Sportlehrkräfte (rein) anhand von Fragebögen und Interviews zu deren Einstellung zum Erziehenden Sportunterricht befragt, gehen diese weitgehend konform mit dessen Leitgedanken zum Doppelauftrag, der Handlungsfähigkeit und dem Prinzip der Mehrperspektivität (Altenberger et al., 2005; Oesterreich & Heim, 2006). Wird konkret nach der Planung von Sportunterricht gefragt und werden Planungsdokumente der Lehrkräfte analysiert, relativiert sich die Zustimmung (Böcker, 2010; Heim, 2006; Schmoll, 2005). Wird konkretes didaktisches Handeln im Sportunterricht durch Beobachtung erfasst, weicht dieses zumeist deutlich von Leitgedanken des Erziehenden Sportunterrichts ab (Bähr, 2009; Hapke & Sygusch, 2011).

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass hinsichtlich der normativen Idealvorstellung eine Nähe zum Erziehenden Sportunterricht vorzuliegen scheint, die sich jedoch hinsichtlich der konkreten didaktischen Umsetzung nicht zeigt.

Unterschiede zur Umsetzung Erziehenden Sportunterrichts zwischen Sportlehrkräften

Befunde zu Unterschieden bzgl. verschiedener demografischer Variablen von Lehrkräften zeigen zunächst, dass den Variablen Alter und Geschlecht, berufliche Entwicklungsphase, Bundesland bzw.

Schulform, in dem bzw. an der die Lehrkraft arbeitet, einen gewissen Einfluss darauf haben, wie

„konzeptnah“ die Lehrkräfte sich bezogen auf das Konzept des Erziehenden Sportunterrichts positionieren: Obgleich Erkenntnisse zu Alters- und Geschlechtsunterschieden nicht eindeutig sind, lässt sich in der Mehrheit der Studien tendenziell erkennen, dass jüngere bzw. weibliche Lehrkräfte sowie Lehrkräfte aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen sich konzeptnäher als ältere bzw.

männliche Lehrkräfte und Lehrkräfte aus neuen Bundesländern positionieren (Bähr & Fassebeck, 2007;

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Böcker, 2010; Hapke, 2017; Hummel, Erdtel & Adler, 2006; Neuber, 2007; Vorleuter, 1999). Studien zu Unterschieden bzgl. der Schulform zeigen, dass Sportlehrkräfte am Gymnasium eine größere Konzeptdistanz aufweisen als Lehrkräfte anderer Schulformen (Bähr & Fassebeck, 2007; Oesterreich &

Heim, 2006; Süßenbach & Schmidt, 2006). Zusätzlich zeigen verschiedene Studien, dass einerseits der Erfahrung und Reflektion der eigenen Biografie sowie wie Art und Umfang von Aus- und Weiterbildung eine entscheidende Bedeutung dabei zukommt, wie Erziehender Sportunterricht umgesetzt wird (Bähr

& Fassebeck, 2007; Balz & Fritz, 2008; Becker, 2014; Bund, 2009). In diesem Zusammenhang identifiziert Miethling (2011) drei verschiedene Entwicklungsphasen von Sportlehrkräften und damit zusammenhängende Unterschiede (z.B. in ihrer wahrgenommen Belastung): Berufsanfang (erstes und zweites Berufsjahr nach dem Referendariat), berufliche Fort- und Weiterentwicklungsphase, Berufsausklang (letzten Berufsjahre). Andererseits beeinflussen aber auch weitere berufliche Anforderungen, Rahmenbedingungen und institutionelle Vorgaben sowie das Verhalten von Schülerinnen und Schüler die Umsetzung von Erziehendem Sportunterricht (Bähr & Fassebeck, 2007;

Becker, 2014; Bund, 2009).

Die eingangs angesprochene Vielfalt sportdidaktischer Konzepte schlägt sich auch in der Vielfalt der Orientierung der Lehrkräfte nieder. So nähern sich einige Studien der Beschreibung der Sportunterrichtswirklichkeit dadurch, dass sie Lehrkrafttypen identifizieren, die sich jeweils bzgl. ihres didaktischen Handelns voneinander unterscheiden, aber hohe Übereinstimmungen zu sportdidaktischen Konzepten aufweisen. Hapke (2017) arbeitet eine Dreiteilung ihrer untersuchten Lehrkräfte heraus und benennt diese mit intermediärer, inkonsistenter und konservativer Typ. Dabei

„zeigt sich, dass der konservative Typ erhebliche und der inkonsistente Typ teilweise Differenzen [zum sportpädagogischen Anspruch] aufweisen (…). Mit dem intermediären Typ zeigt sich aber auch, dass es innerhalb der Wirklichkeit des Sportunterrichts durchaus Lehrkräfte gibt, die die normativen Leitideen der fachdidaktischen Diskussion fast bruchlos umsetzen“ (Hapke, 2017, S. 354). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in der Studie der Wuppertaler Arbeitsgruppe (2012), die neben einem konservativen und intermediären Typ noch einen alternativen Typ findet. Dieser alternative Typ zeichnet sich durch eine große Übereinstimmung mit der alternativen Position aus. Neuber (2007) identifiziert hinsichtlich des methodischen Vorgehens einen modernen (Alter der Lehrkräfte unter 45 Jahren; Schülermitbestimmung wichtig, distanziert sich von straffer Unterrichtsführung und traditionellen Formen des Sportunterrichts) und einen traditionellen (Alter der Lehrkräfte über 45 Jahre; geringe Schülermitbestimmung, für straffe Unterrichtsführung und traditionellen Sportunterricht) Lehrkrafttyp.

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26 Umsetzung der Perspektive Gesundheit

Perspektivspezifische Erkenntnisse zur Perspektive Gesundheit machen deutlich, dass Sportlehrkräfte dem Thema Gesundheit eine gewisse Bedeutung zumessen (Altenberger et al., 2005; Oesterreich &

Heim, 2006), sich die Vermittlung aber auf sportartspezifische Fähigkeiten und Kompetenzen konzentriert und damit auf ein sportimmanent-funktionales Erziehungsverständnis bezieht (Fischer, 2006). Gesundheitsförderung im Sportunterricht wird zumeist darauf reduziert, Schülern Bewegungszeit zu gewährleisten (Kastrup, 2009), nicht aber zielgerichtet Gesundheitskompetenz zu vermitteln. Diese Befunde zeigen sich auch bei Poweleit & Ruin (2016), die eine reale Gefahr darin sehen, dass die Gesundheitsperspektive in der Umsetzung auf Fitnessorientierung reduziert wird. Dies deutet sich aus deren Sicht in analysierten schulinternen Lehrplänen an. Die in diesen Studien beschriebene Spannung des „Healthism“, der davon ausgeht, dass körperliche Aktivität mit Fitness und wiederum mit Gesundheit gleichgesetzt wird, wird sich in naher Zukunft lösen (müssen), so Balz (2013, S. 121): „Angesichts zunehmender gesellschaftlicher Gesundheitsprobleme, steigender schulischer Belastung und besonderer Bedingungen des Ganztags wird die Gesundheitsförderung im Schulsport an Bedeutung gewinnen können oder aber auf kompensatorische Bewegungsangebote reduziert werden“. Einige aktuelle Studien konzentrieren bereits auf die Messung von Bewegungszeit und deklarieren die restliche Zeit als „Verlustzeit“ (Randl & Thienes, 2017; Rath, Kolb, Dobiasch, Tschan &

Baca, 2017). Es geht in diesen Studien vermehrt um direkte Gesundheitseffekte durch sportliches Training im Sportunterricht. Dabei werden Schülerinnen und Schüler trainiert und kognitive Aktivierungsphasen bleiben unberücksichtigt.

Didaktisches Handeln und handlungsleitende Kognitionen von Sportlehrkräften __________________________________________________________________________________

3 Didaktisches Handeln und handlungsleitende Kognitionen von