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Differenzen und Passungen zwischen sportpädagogischem Anspruch und erhobener Wirklichkeit

9 Ergebnisse zur Wirklichkeit: Bestandsaufnahme auf Ebene der Lehrkräfte

9.3 Diskussion der Ergebnisse der Bestandsaufnahme

9.3.1 Differenzen und Passungen zwischen sportpädagogischem Anspruch und erhobener Wirklichkeit

In diesem Teilkapitel werden die Ergebnisse aus Sicht der Lehrkräfte (vgl. Kapitel 9.1) bzw. aus Sicht der Beobachter (vgl. 9.2) als sich ergänzende Sichtweisen auf die Wirklichkeit betrachtet und gemeinsam den sportpädagogischen Ansprüchen (Kapitel 8) gegenübergestellt.

Werden die quantifizierten Angaben zu den Hauptkategorien verglichen fällt auf, dass die Verteilung der Codings nahezu identisch ist. Diese Erkenntnis führt zu der Annahme, dass sich die Wichtigkeit der einzelnen Hauptkategorien zwischen sportpädagogischem Anspruch und sportunterrichtlicher Wirklichkeit nicht unterscheidet. Die qualitative Ausprägung der identifizierten Codings offenbart hingegen zum Teil erhebliche Unterschiede. Es lassen sich insgesamt sechs pointiert dargestellte Differenzen zwischen sportpädagogischem Anspruch und erhobener Wirklichkeit (aus Lehrkraft- und Beobachtersicht) zur Perspektive Gesundheit zusammenfassen:

(1) Erziehender Sportunterricht als konsensfähiges Konzept für Sportunterricht vs. traditionelles Verständnis von Sportunterricht im Sinne des Sportartenkonzeptes!

Bei der fachdidaktischen Orientierung werden insbesondere Differenzen gefunden: Während sich in der sportpädagogischen Diskussion eine klare Orientierung am Konzept des Erziehenden Sportunterrichts und damit an dem Prinzip der Mehrperspektivität herausstellt, zeigt sich bei der Mehrheit der Sportlehrkräfte ein eher traditionelles Verständnis des Sportunterrichts im Sinne des Sportartenkonzeptes, insbesondere im Hinblick auf Inhalte und Methoden. Dies zeigt sich deutlich in den exemplarisch beobachteten Sportunterrichtsstunden.

(2) Bewusste Ansteuerung der Perspektive Gesundheit vs. Automatismus von Gesundheit im Sportunterricht!

Damit geht einher, dass im sportpädagogischen Kenntnisstand eine bewusste pädagogisch geleitete Ansteuerung der Perspektive Gesundheit gefordert wird, was sich z.B. an den zahlreichen Publikationen zur Perspektive Gesundheit und vielen Autoren(-gruppen), die sich damit beschäftigen, zeigt. Aus den Interviews der Bestandsaufnahme kann festgestellt werden, dass Gesundheit für die Lehrkräfte ein wichtiges Thema ist. Allerdings findet das Thema nur schwer Eingang in die schulische Praxis. Einzelne Passungen zum sportpädagogischen Kenntnisstand finden sich in der Wirklichkeit beim Thema Fitness. Hier zeigt sich mitunter auch eine bewusste Ansteuerung. Andere Aspekte von Gesundheit betreffend zeigen sich jedoch Differenzen. Sowohl in den Interviews als auch in den Unterrichtsbeobachtungen, wird deutlich, dass von einer Art Automatismus bei der Ansteuerung des

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Themas Gesundheit im Sportunterricht ausgegangen wird, was mit einer im Vergleich zum Anspruch reduzierten Umsetzung von Zielen, Inhalten und methodischer Ausgestaltung von Sportunterricht zur Perspektive Gesundheit einhergeht.

(3) Breites Verständnis von Gesundheit vs. Reduktion des Themas auf Fitness und Bewegungszeit!

Die Aussagen der Beiträge zum Anspruch des zugrundeliegenden Gesundheitsverständnisses sind sehr homogen. Implizit ist nahezu allen Beiträgen ein ganzheitliches, salutogenetisches und integratives Verständnis von Gesundheit gemeinsam. Dabei ist der Paradigmenwechsel zu erkennen, dass eine

„Abkehr von einem engen medizinisch und ausschließlich an objektiven Parametern orientierten Gesundheitsverständnis“ (Kottmann & Küpper, 1991, S. 142) gefordert ist und damit die beschriebene Abkehr zu einem integrativen Gesundheitsverständnis führt, das sowohl objektive als auch subjektive Aspekte berücksichtigt. Psychische und soziale Komponenten von Gesundheit werden nur vereinzelt in den Interviews erwähnt. Das zusammengefasste Gesundheitsverständnis der Lehrkräfte ist daher als sehr verkürzt einzuschätzen und zeigt Differenzen zum Anspruch auf. Die Aussagen der Sportlehrkräfte zu einer Schwerpunktlegung auf das Thema Fitness (in den Interviews expliziert und noch deutlicher in den Unterrichtsbeobachtungen zu sehen) und eine Gewährleistung von Bewegungszeit zeigen insgesamt betrachtet eine Reduktion des Themas Gesundheit auf objektive Aspekte und damit ein als verkürzt anzusehendes Verständnis von Gesundheit im Gegensatz zum im Anspruch formulierten Paradigmenwechsel. Basierend auf der Annahme, dass das Gesundheitsverständnis der Lehrkraft eine zentrale Grundlage für die Art und Weise der Thematisierung von Gesundheit im Sportunterricht darstellt, kann nachvollzogen werden, dass sich Ziele, Inhalte und Methoden dementsprechend ebenfalls auf einen kleinen Teil der im Anspruch beschriebenen Ziele, Inhalte und Methoden beschränken.

(4) Konkrete Formulierung von Zielen auf allen Ebenen vs. abstrakt gehaltene Ziele auf übergreifender und objektiver Zielebene!

Das zentrale Ziel von Sportunterricht unter der Perspektive Gesundheit bildet im sportpädagogischen Kenntnisstand die gesundheitsbezogene Handlungsfähigkeit von Schülerinnen und Schüler. Alle weiteren formulierten Ziele und Inhalte hängen eng mit diesem zusammen und betreffen sowohl objektive und subjektive als auch übergreifende und erweiternde Aspekte. Es zeigt sich, dass einzelne Sportlehrkräfte ebenfalls eine Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler als lohnenswertes Ziel ansehen, hierin also eine Passung zu erkennen ist, die Handlungsfähigkeit aber im Rahmen der Unterrichtsgestaltung wiederum keine Rolle spielt. Darüber hinaus werden Differenzen deutlich, da Lehrkräfte jedoch wenig konkrete Ziele nennen, die sie im Hinblick auf Gesundheit und Fitness im Sportunterricht verfolgen. Formulierte Ziele betreffen dabei eine sehr abstrakte Ebene und diese

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184 finden inhaltlich keinen Eingang in den Sportunterricht (z.B. übergreifende Ziele oder Ziele, die das Thema Hygiene betreffen). Dabei haben Lehrkräfte insbesondere die operative Handlungsfähigkeit in Verbindung mit einer Transfer- und Nachhaltigkeitserwartung (wie in Kapitel 2.1.1 beschrieben) im Kopf, während die reflexive Handlungsfähigkeit in den Interviews nicht thematisiert wird. Subjektive Aspekte von Gesundheit werden im Vergleich zu objektiven vernachlässigt.

(5) Perspektive Gesundheit in Bewegungsfeldern vs. Sportarten unter Berücksichtigung des Themas Gesundheit!

Im sportpädagogischen Kenntnisstand findet sich die Forderung nach der Thematisierung von Gesundheit an verschiedenen Bewegungsfeldern (v.a. Individualbereich und Trends), wobei die Perspektive Gesundheit Ausgangspunkt der Unterrichtskonzeption ist. Denn die Art und Weise der Ausgestaltung eines Themas und nicht um die Auswahl von Themen an sich stehen im Fokus.

Andersherum ist es bei den interviewten Lehrkräfte: Sie denken ihre Unterrichtskonzeption inhaltlich von klassischen Sportarten aus und strukturieren ihren Sportunterricht dementsprechend. Dem Thema Gesundheit wird bei der Strukturierung und Planung von Sportunterricht zunächst keine Rolle eingeräumt, so dass eine klare Differenz konstatiert werden muss. Gesundheit läuft bei einigen Lehrkräften – so die Aussagen – eher im Hinterkopf mit und spielt daher auch eher implizit im Sportunterricht eine Rolle. Passungen sind – wie bereits bei den oben genannten Aspekten – bei objektiven Inhalten zu erkennen. Denn den bedeutsamen Kern der Inhalte von Sportunterricht unter der Perspektive Gesundheit bilden objektive Inhalte und dabei besonders physische Gesundheitsressourcen wie Ausdauer und Kraft, da sie nach Meinung der Lehrkräfte u.a. wichtig für Verletzungsprophylaxe sind und die Voraussetzung für die Erlernung von sportartspezifischen Fertigkeiten darstellen. Subjektivierende Inhalte werden (zumeist von weiblichen Lehrkräften) ergänzend in den Interviews genannt und teilweise zum Stundeausklang in den beobachteten Sportunterrichtsstunden umgesetzt. Übergreifende und erweiternde Inhalte spielen kaum eine Rolle.

In den Unterrichtsbeobachtungen verstärkt sich die beschriebene Verteilung der verschiedenen Gesundheitsaspekte noch in Richtung der physischen Gesundheitsressourcen. Das explizierte Gesundheitsverständnis, bei dem der Fokus auf objektiven Aspekte von Gesundheit liegt und die Begriffe Fitness und Gesundheit synonym verwendet werden, wird mit dargestellten Ausführungen zu Zielen und Inhalten bestätigt.

(6) Schülerorientierung vs. Lehrerzentrierung!

Differenzen zeigen sich ebenfalls hinsichtlich der Methoden. Während im sportpädagogischen Kenntnisstand besonders die methodischen Kriterien Schülerorientierung, Offenheit, Reflexion und kognitive Aktivierung eine wichtige Rolle bei der Anbahnung sportbezogener Gesundheitskompetenz

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von Schülerinnen und Schüler spielen, werden diese Kriterien im Interview kaum benannt. In beobachteten Unterrichtsstunden werden sie zwar teilweise umgesetzt, allerdings auf einem niedrigen Niveau. In den Interviews häufig benannte methodische Kriterien wie die Vorbildfunktion der Lehrkraft und eine gute organisatorische Strukturierung beim Thema Gesundheit scheinen für die Lehrkräfte insbesondere bei den Unterrichtsbeobachtungen ein handlungsleitende Aspekte darzustellen. Die weiteren in der Anspruchsanalyse entwickelten methodischen Kriterien Lebensweltbezug und Strukturierung lassen sich in den Interviews und Unterrichtsbeobachtungen zumeist nur in einer sehr abgeschwächten Form erkennen. So zeigt sich, dass die Lehrkräfte einer kognitiven Aktivierung generell Bedeutung beimessen, diese sich aber in der Umsetzung nur wenig anspruchskonform zeigt. Die Notwendigkeit einer aktiven Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit dem Unterrichtsgegenstand wird nicht berücksichtigt. Außerdem wird das Einholen von Feedback der Schülerinnen und Schüler oftmals mit Reflexion gleichgesetzt, womit dieses methodische Kriterium eine deutliche Verkürzung erfährt. Ähnlich verhält es sich beim im Anspruch geforderten Lebensweltbezug: Lehrkräfte berichten davon, dass ein gewisser Lebensweltbezug durch die Wahl des Themas per se gegeben ist und nicht expliziert werden muss. Bzgl. einer Individualisierung können nur abgeschwächte Formen, z.B. Vorgeben von Alternativübungen für schwächere Schülerinnen und Schüler (auffällig: keine zusätzlichen Aufgaben für stärkere Schülerinnen und Schüler), in den Unterrichtsausschnitten beobachtet werden.

Die Befunde der Differenzanalyse lassen sich insofern grob zusammenfassen, dass sich Passungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit in erster Linie im Hinblick auf ein grob salutogenetisches Gesundheitsverständnis sowie auf die Betrachtung des Gesundheitsausschnittes der objektiven Parameter feststellen lassen. Dass sich bzgl. der weiteren Aspekte Differenzen aufzeigen, wird in weiten Teilen durch bisherige Befunde zur Umsetzung erziehenden Sportunterrichts bestätigt.

Insgesamt zeigt sich, dass gefundene Differenzen besonders die beiden Punkte ‚inhaltliche Orientierung‘ [(1) bis (5)] sowie ‚methodische (Kompetenz-) Orientierung‘ [(6)] der Lehrkräfte betreffen.