• Keine Ergebnisse gefunden

Dominanz der traditionellen Buchstabiermethode, neue Elemente spielerischen Lesenlernens

Im Dokument Schule der Gesellschaft (Seite 78-84)

2.2 Lesen und Auswendiglernen 1771 und 1799

2.2.2 Dominanz der traditionellen Buchstabiermethode, neue Elemente spielerischen Lesenlernens

Nicht nur die Frage, was und wozu lesen gelernt werden sollte, wurde von Bildungsreformern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Auch die Frage, wie das Lesen am besten eingeübt werde, war Gegenstand von Debatten mit heftiger Kritik an der traditionellen Buchsta-biermethode. Doch die Buchstabiermethode blieb in der alltäglichen Unter-richtspraxis bis 1799 überall unangetastet. Sogar die reformierte gesetzliche Grundlage des Schulunterrichts auf der Zürcher Landschaft hielt mit der

47 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Elgg und Bachs, B. b. 3.

48 Für eine neue ausführliche Darstellung der Zürcher Schulreformdiskurse im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Berner, Vernunft und Christentum.

ordnung von 1778 an der traditionellen Buchstabiermethode fest.49 Es lohnt sich daher, die dominierende Buchstabiermethode kurz zu skizzieren, bevor auf neuere Elemente der Leselehrmethode eingegangen wird.

In einem ersten Schritt des Leselernprozesses gemäss der Buchstabiermethode standen die einzelnen Buchstaben als solche im Zentrum der Lehrbemühun-gen. Sie zu kennen und zu unterscheiden war ein erstes Ziel des Leseunter-richts, das dann erreicht war, wenn die Kinder die Namen und Formen der Buchstaben richtig zuweisen konnten. Als Nächstes lernten die Schulkinder durch Nachsprechen, zu Silben zusammengeschlossene Buchstabenfolgen auszusprechen. Ein weiterer Schritt ging bereits von ganzen Wörtern aus und übte die Kinder im Zerlegen derselben in die einzelnen Silben.50 An dieses sogenannte Sylla bieren schloss das Lesen an, das nicht scharf vom Auswen-diglernen abzugrenzen war. Nach Alfred Messerli diente diese murmelnde, halblaute Lektüretechnik immer auch dazu, einen Text auswendig zu lernen.

Sowohl Wissen als auch Lesen seien mit der Fähigkeit gleichgesetzt worden, einen Inhalt wörtlich zu reproduzieren. Das Wissen habe sich auf wenige verbindliche Texte reduziert, weshalb Messerli auch von einer «restringierten Literalität» spricht. Lesen zu können, hiess, etwas Bestimmtes lesen zu kön-nen.51 Auch Klinke deutet die Schritte des Buchstabierens, Syllabierens und Lesens insgesamt als Vorbereitung auf das den Zeitgenossen äusserst wichtige Memorieren.52 Die restringierte Literalität wurde in den 1770er-Jahren von reformorientierten Pfarrern thematisiert und zuweilen auch kritisiert. So stellte etwa Pfarrer Hans Jakob Oeri53 in Erlenbach erstaunt fest, dass Kinder, welche über Jahre die Schule besucht und ordentlich lesen gelernt hatten, diese Kul-turtechnik nicht mehr zu beherrschen schienen, sobald er ihnen das eigene Buch wegnahm und stattdessen ein Buch von anderem Druck vorlegte.54 Diese oft restringierte Literalität führten reformorientierte Pfarrer auf die als mechanisch kritisierte Buchstabiermethode zurück. Der Pfarrer in Erlenbach schrieb über den dortigen Schulmeister, er lasse die Kinder oft «das a, b, ab, immer nach einander fortlesen; und dadurch bringt er sie zu einem auswendig wissen des a, b, ab, welches bloss Maschinen mässig ist. Ich habe schon oft Kinder in der Schule aufsagen lassen, welche das a, b, ab aus dem Kopf

49 Erneuerte Schul- und Lehrordnung 1778, Lehrordnung, S. 5–7.

50 kLinke, Volksschulwesen, S. 145.

51 messerLi, Lesen und Schreiben, S. 264.

52 kLinke, Volksschulwesen, S. 149.

53 Hans Jakob Oeri (1724–1790) wurde 1745 ordiniert, war Hauslehrer in Gundischwil (Bern), 1753 Pfarrer in Erlenbach, etliche veröffentlichte Predigten. DeJung/wuhrmann, Pfarrer-buch, S. 458.

54 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Erlenbach, B. b. 5.

sagten, und keine einzige Sylbe aussprechen konnten, ja kaum die buchstaben zu nennen wussten, wann man sie ausser der Reihe frug.»55

An etlichen Schulorten wurden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Ver suche unternommen, das individuelle Auswendiglernen zumindest für das anfängliche Buchstabenlernen durch Gruppenunterricht einerseits und andererseits durch spielerische und variantenreichere Zugänge zu ersetzen.

In Turbenthal etwa steckte der Schulmeister eine Tafel mit einem in grossen Lettern aufgedruckten Alphabet in einen Tisch, rief die Kinder, welche Buch-stabieren lernten, zu sich und erläuterte ihnen ein paar Buchstaben auf der Tafel. Die Kinder wurden anschliessend aufgefordert, in ihren Namen büchern möglichst schnell die neuen Buchstaben zu finden. Der so eingerichtete Wett-bewerb gefalle den Schulkindern und indem der Schulmeister die Gruppe gleichzeitig unterrichten könne, verlängere sich auch die Zeitspanne, in der die Kinder angeleitet lernten.56 Eines ähnlichen Vorgehens bediente sich der Schulmeister in Lindau: Er zeigte den Schülerinnen und Schülern etwa drei Buchstaben auf einmal, benannte diese und übte mit den Kindern, deren Form wiederzuerkennen.57 Dies entsprach in etwa dem Vorgehen, wie es in der neuen Stadtschulordnung von 1781 beschrieben wurde. Diese wies an, in jeder Schule solle eine Tafel mit gedruckten Folioblättern aufgehängt werden, welche das Alphabet, Silben und Ziffern von eins bis tausend zeige, sowie Silben in einer guten Handschrift an die Wandtafel zu schreiben. Mithilfe eines dünnen weissen Stabes habe der Schulmeister den Kindern die ersten Buchstaben auf der Tafel zu zeigen.58 Genauso wie die beschriebenen neueren Unterrichtspraktiken auf der Landschaft schrieb also auch die Stadtschulord-nung von 1781 für die Anfänge des Buchstabierens den Gruppenunterricht vor, um die Anteile angeleiteten Lernens zu erhöhen.59 Ob er an den Stadt-schulen praktiziert wurde, muss offenbleiben. Sicher ist, dass das spielerische Lernen zu Beginn der 1770er-Jahre im Untersuchungsgebiet zwar an einzelnen Schulorten etabliert war, insgesamt jedoch noch kaum praktiziert wurde. Der Pfarrer in Kloten, Ulrich Brennwald,60 berichtete, in seiner Pfarrei habe man

55 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Erlenbach, B. b. 3.

56 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Turbenthal, B. b. 2.

57 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Lindau, B. b. 3.

58 Erneuerte Schul- und Lehr-Ordnung Stadt Zürich, S. 6.

59 So auch für den Leseunterricht, für welchen der Lehrer ähnlich fortgeschrittene Kinder um sich schart und mit allen dieselbe Textstelle im selben Buch liest. Erneuerte Schul- und Lehr-Ordnung Stadt Zürich, S. 8.

60 Ulrich Brennwald (1716–1794) wird im Antwortschreiben zwar nicht namentlich erwähnt. Er war 1752 Pfarrer in Kloten, 1769 auch Dekan. Davor wirkte er zehn Jahre lang als Feldpredi-ger in Frankreich und als Adjunkt der Französischen Kirche in Zürich. DeJung/wuhrmann, Pfarrerbuch, S. 219.

das Spiel-Abc nicht eingeführt und bleibe bei der «alten weise die Kinder zu lehren», die sich, das zeigt sein Bericht, allerdings nur geringfügig von der neuen Art unterschied: «die Kinder fangen im täfelein an die buchstaben zu kennen. darnach wird ihnen das Nammenbüchlein gegeben, und dasselbe zu-weilen wider vorangefangen. Aus dem Nammenbüchlein komt das Kind in die Fragstüklein. Aus dem Fragstüklein in die grossen Fragen, und in denselben musst es so lang buchstabieren bis es ihm so leicht und leüffig wird, dass es die einsilbigen, und bald darauf die zweyselbigen wörter lesend aussspricht.

darnach wird ihm erlaubt zu lesen doch so dass es die dreysilbigen und zu-letst nur noch die längsten wörter item alle wörter die es falsch ausspricht, buchstabieren muss. Man haltet allso scharf und lang ob dem buchstabieren, und reprimiert der Kinderen begird zu lesen, bis man achtet, dass sie wenig mehr falsch lesen werden. Ja es ist sogar der Vormittag des Mittwochens be-stimmt, dass gar alle Kinder, auch die so fertig lesen können, buchstabierend aufsagen müssen, damit sie das buchstabieren, als das Fundament zum rich-tigen lesen und schreiben, nicht vergessen.»61 Neue Elemente ergänzten also die Buchstabiermethode an einzelnen Schulorten durch kleine Varianten im anfänglichen Buchstabenlernen. Auf die zeitgleich in einem überregionalen Reformkontext diskutierte Lautiermethode wurde im Zusammenhang mit konkreter Unterrichtspraxis kaum verwiesen. Lautstark sprach sich wie so oft der Pfarrer in Erlenbach gegen die übliche Methode des Buchstabierenlernens aus und bezog sich dabei auf den zeitgenössischen deutschen Philanthro-pen Johann Bernhard Basedow, um die Vorzüge der neuen Lautiermethode herauszustreichen.62 «Einmal die bisher gewöhnliche Art, das buchstabiren zulehren, bringet falsche Töne in die wörter hinein, welche das Kind in der aussprache durch den verstand wieder absöndern muss, ehe es die ganze Sylben aussprechen kan. Z. E. wann es Licht buchstabiren soll, so muss es nach der bisherigen lehrart sagen: el – i – ce – ha – te. hat es auch wohl ein Elizehate in seinem leben gesehen? wol aber ein Licht – wenn es erst die buchstaben kennt, so wird es in weit weniger Zeit eine, und nach und nach mehrere Sylben aussprechen lernen; denn wenn es erst ab mit einemal, ohne die falschen töne abeab aussprechen kan, warum solte es nicht den dritten buchstaben eben so leicht zugleich aussprechen lernen, abe, abc, ba, bad. Ich habe etwa die Sylbe so klein, wie eine Sylbe aus dem a, b, ab gemacht, und die Kinder immer noch einen buchstab mehr aussprechen lassen Z. E. Bär, Lamm, af-fe, Ja-co-bus, Cy-rus, E-le-phant, biss sie endlich die ganze Sylbe

61 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Kloten, B. b. 3.

62 Der Hinweis auf Basedow erstaunt an dieser Stelle nicht, denn die Verbesserung des Erst-leseunterrichts mit dem Wechsel von der Buchstabier- zur Lautiermethode war ein im Kreise der Philanthropen rege diskutiertes Thema. Berner, Vernunft und Christentum, S. 146.

herausbrachten.»63 Einer, der es seinen Schulmeistern zumindest freistellte, in Nebenstunden und mit dem Einverständnis der Eltern und Schulbehör-den die Lautiermethode auszuprobieren, war der Küsnachter Pfarrer Johann Heinrich Meister.64 Er meinte, es müsse einem «schwer- und doch ein wenig tief-denkenden Kind wunderlich vorkommen […] dass die Buchstaben anderst lauten wenn sie allein sind, als wann etliche beysamen stehen».65 Keiner der Schulmeister seiner Gemeinde habe aber bisher den Versuch unternommen, die Lautiermethode vorzuschreiben. Diese gar allgemein vorschreiben zu lassen, schreibt Meister, sei nicht seine Absicht. Nur gerade Pfarrer Johann Heinrich Waser66 in der Gemeinde Kreuz spricht von guten Erfahrungen, welche er mit der Lautiermethode bei seinem Sohn gemacht habe, um dann allerdings auch zu betonen, diese Methode einzuführen sei wegen des Widerstandes in der Gemeinde unmöglich.67

Vielmehr zeigt eine Vielzahl weiterer Berichte, darunter auch derjenige des Pfarrers von Weiningen, dass die Praktiken in den Schulstuben weitgehend homogen waren und gemäss der tradierten Buchstabiermethode vom Buch-stabieren bis zum Auswendiglernen fortschritten: «Beym BuchBuch-stabieren- Lehren gehet der Schulmstr so zu Werke, dass er das Kind, wann es einmal die Buchstaben kennt, dann zumalen dj Buchstaben, so eine Sylbe ausmachen, lasst aussprechen, und dann macht er Halt, repetirt die Buchstaben, und lokt das Kind, selbige mit seiner Beyhilf in einen Laut zu bringen, continuiret damit, da er allemal, wann ein Wort mehrere Sylben hat, die vorigen dazu wiederhol-len lasst, und trachtet also den Kindern die Sylben geläuffig und bekannt zu machen. […] Können die Kinder fertig und ohne Anstoss buchstabieren, so schreitet er, und eher nicht, mit ihnen zum Lesen, da es dann der Augenschein mitbringt, dass solche Kinder von selbsten auf das Lesen gerathen […].»68 Der

63 Ähnliche Positionen werden von etlichen Pfarrern vertreten, so etwa in der Kirchgemeinde Kreuz. Antworten auf die Schulumfrage 1771, Erlenbach, Kreuz, B. b. 3.

64 Johann Heinrich Meister (1700–1781), seit 1719 Pfarrer, 1721–1730 Hauslehrer in Thun, 1733 Erzieher und Hofprediger beim Grafen von der Lippe in Bückeburg, 1757 Pfarrer in Küs-nacht, 1778 Dekan, Verfasser zahlreicher Schriften in deutscher und französischer Sprache.

DeJung/wuhrmann, Pfarrerbuch, S. 424.

65 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Küsnacht, B. b. 3.

66 Johann Heinrich Waser (1742–1780) wird zwar im Antwortschreiben nicht explizit erwähnt, wirkte aber 1770–1744 als Pfarrer der Kirchgemeinde Kreuz, wurde dann aber wegen Diffe-renzen mit dem Obervogt der Vier Wachten suspendiert, 1776 stand er unter Verdacht, den Abendmahlswein im Grossmünster vergiftet zu haben, Zunftausschluss wegen Angriffen gegen die Behörden, die Publikation von angeblich heiklen Informationen machte ihn zum

«Feind des Vaterlandes», weitere angebliche Vergehen führten schliesslich zu seiner Enthaup-tung im Mai 1780. DeJung/wuhrmann, Pfarrerbuch, S. 597.

67 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Kreuz, B. b. 3.

68 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Weiningen, B. b. 3.

Übergang von einem zum nächsten Lernschritt, also vom Buchstabieren zum Lesen oder vom Lesen zum Auswendiglernen, erfolgte jeweils erst, wenn der vorherige beherrscht wurde.69 Obwohl die im Leseunterricht eingesetzte Me-thode an den meisten Orten sehr ähnlich war, gab es dennoch kleinere lokale Gestaltungsspielräume und Besonderheiten – möglicherweise Anzeichen da-für, dass bei der Rezeption von neuem Wissen jeweils andere Akzente gesetzt wurden. So lernten die Schulkinder in Wülflingen die Buchstaben, indem der Schulmeister laut vorbuchstabierte und die Kinder alles ebenfalls laut wieder-holten, damit sie auch voneinander lernten. Dieselbe Methode gelangte dort im Leseunterricht zur Anwendung.70 Der Pfarrer von Uster hingegen berichtet von spielerischen Eselsbrücken, anhand derer sich die Kinder die Buchstaben einprägen sollten. Diese wurden in einer Art Frage-Antwort-Spiel zwischen Schulmeister und Schulkindern erlernt: «– wie heisst der lange? R[esponsum]

f. – wie das mählbürstli? R[esponsum] L. – wie der Dreyfuss? R[esponsum]

m. – wie der so die bein ob sich strekt? R[esponsum] u wie thuts dir wann dich dein vatter schlagt? R[esponsum] w [.]»71

Dass insgesamt aber die Buchstabiermethode nicht bloss einer breit etablierten schulischen Praxis entsprach, sondern auch unter reformorientierten Pfarrern weiterhin als vertretbar galt, macht der Fragebogen der 1771er-Schulumfrage deutlich. Er fragt ganz selbstverständlich danach, ob die Kinder dazu angehal-ten würden, richtig zu buchstabieren, richtig zu lesen und richtig auszuspre-chen.72 Die Tatsache, dass nicht erhoben wird, ob buchstabiert wird, sondern danach, ob richtig buchstabiert wird, ist Zeugnis dafür, dass das Buchstabieren nicht grundsätzlich infrage gestellt wurde. Auch die im Leseunterricht ver-wendeten, auf diese Methode ausgerichteten Lehrmittel verweisen auf die starke Stellung der Buchstabiermethode.

69 Stellvertretend für viele andere Belege: Antworten auf die Schulumfrage 1771, Töss und Wipkingen, B. b. 13, Seuzach, B. b. 6.

70 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Wülflingen, B. b. 3.

71 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Uster, B. b. 3. Solche spielerische Eselsbrücken gab es auch andernorts. Messerli erwähnt sie für Bern: messerLi, Lesen und Schreiben, S. 252.

72 Der Fragebogen ist als Faksimile und als Transkription greifbar in: tröhLer/schwaB, Volks-schule im 18. Jahrhundert, S. 11–25 (Faksimile) und 99–103 (Transkription).

2.2.3 Die Lehrmittel für Lesen und Auswendiglernen im Zeichen kanonisierter

Im Dokument Schule der Gesellschaft (Seite 78-84)