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Die Sprachlehre in den Volksschulcurricula der 1830er-Jahre

Im Dokument Schule der Gesellschaft (Seite 142-147)

Lesen und Schreiben zusammen denken

2.5.2 Die Sprachlehre in den Volksschulcurricula der 1830er-Jahre

Scherrs Ansichten stiessen zu Beginn der 1830er-Jahre bei den (bildungs-politischen) Eliten auf breite Akzeptanz, sodass der Rat Scherrs Vorschlag für ein Unterrichtsgesetz 1832 verabschiedete. Als erster Lehrgegenstand der Elementarbildung fand in diesem Vorschlag tatsächlich die Sprachlehre Er wähnung. Darunter wurden im Gesetz neben der Übung des Sprachver-mögens, des Verstandes und Gedächtnisses auch der Lese- und Schreib-unterricht gefasst. Diese Grundelemente sollten später auf der Realstufe weiterentwickelt und ihre Anwendung sowohl im mündlichen Vortrag als auch im schriftlichen Aufsatz mit Rücksicht auf die deutsche Grammatik geübt werden.361

360 Siehe etwa messerLi, Lesen und Schreiben, S. 299.

361 Gesetz über die Organisation des gesammten Unterrichtswesens 1832, S. 314.

Das Unterrichtsgesetz von 1832 legte auch die Lehrmittel bereits genau fest.

Im Bereich des Leseunterrichts sollten Tabellen zum Lesenlernen zur Ver-fügung gestellt werden, dann auf der Elementarstufe ein erstes Schulbüchlein mit Lautierübungen, mit Wörtern und Sätzen zu gleichmässig fortschrei-tenden Sprech-, Lese- und Schreibübungen mit kurzen Beschreibungen und Erzählungen sowie ein Lesebuch für die Realschule, worin alle für diese Stufe obligatorischen «Fächer» behandelt würden. Zusätzlich brauche es eine kurz gefasste deutsche Sprachlehre.362 Scherr wurde schliesslich vom Erziehungsrat beauftragt, ein Tabellenwerk nach der Schreib-/Lesemethode zu erstellen, in-dem er den ersten Teil seiner Elementarsprachbildungslehre zu diesem Zweck umforme. Das Werk wurde allerdings erst 1834 für obligatorisch erklärt.363 Doch nicht bloss im Gesetzestext und als Lehrmittelautor, sondern auch direkt bei Teilen der Lehrerschaft machte Scherr die Schreib-/Lesemethode bekannt.

Erstmals ausserhalb der Taubstummenanstalt wurde sie an der Armenschule eingesetzt, wo sie als sehr erfolgreich beschrieben wurde. Zwei Kreislehrer, Meier in Enge und Rellstab in Rüschlikon, führten sie daraufhin an ihren Schu-len ebenfalls ein, und auch sie berichteten von guten Erfolgen. In der Lehrer-schaft wurde der Ruf nach der neuen Methode lauter, worauf Scherr Lehrer in seiner Wohnung darin unterrichtete. Die Nachfrage war so gross, dass solche Versammlungen auch in Horgen, Kilchberg, Enge und Küsnacht abgehalten wurden.364

Angesichts der Konzentration dieser Kursorte entlang der beiden Zürichsee-ufer fragt sich, wie sich die Schreib-/Lesemethode 1834 über das gesamte un-tersuchte Gebiet gesehen etabliert hatte. Die Karte 6 versucht eine Annäherung an die Verteilung entsprechender Unterrichtspraktiken, indem sie Schulen mit traditionellem Lese- und Schreibunterricht nach der Buchstabiermethode von solchen unterscheidet, an deren Examen entweder die Verwendung der Scherr’schen Lehrmittel oder eine praktizierte Form der Sprachlehre oder Grammatik sichtbar wurde.365 Nur gerade an gut 15%366 der Schulorte wurde

362 Ebd., S. 320 f.

363 guBLer, Zürcherische Volksschule, S. 146.

364 groB, Lehrerseminar des Kantons Zürich, S. 20.

365 Die Angaben aus den Schulberichten wurden in folgende Kategorien eingeteilt: 1: nach Buchstabiermethode; 2: deutsche Sprachlehre oder Lautiermethode angewendet; 3: keine Angaben. Wenn die Scherr’schen Lehrmittel, wie etwa in Bonstetten, zwar angeschafft, aber nachweislich nicht verwendet wurden, galten diese Schulen der blossen Anschaffung wegen nicht als solche mit reformiertem Leseunterricht: Weder das Scherr’sche Lesebüchlein noch das Tabellenwerk seien, so der Examensbericht, benutzt worden, obgleich sie zur Verfügung gestanden hätten. Bericht der Bezirksschulpflege Knonau an den Erziehungsrat des Kantons Zürich 1834, StAZH, U 30a 1.

366 15,3%; 44, n = 287.

Lesen weiterhin vollständig nach der althergebrachten Buchstabiermethode unterrichtet. An die 85%367 der Schulen, über welche die Berichte Auskunft über den Lese- respektive Schreibunterricht gaben, boten hingegen – gemessen an den oben genannten Kriterien – 1834 einen Sprachunterricht an, welcher sich nicht auf Lesenlernen nach der Buchstabiermethode beschränkte. Dieser Befund wird gleich noch etwas differenzierter zu betrachten sein. Zunächst aber soll die Verteilung der Schulen mit traditionellem und reformiertem Lese-unterricht diskutiert werden.

Die Karte 6 zeigt, dass die Stadt Zürich, das rechte Seeufer mit den Bezirken Zürich und Meilen und auch der Bezirk Hinwil Elemente der neuen Sprach-lehre flächendeckend aufgegriffen hatten, dort also keine einzige Schule aus-schliesslich traditionellen Leseunterricht anbot. In den Bezirken Uster, Bülach und Horgen waren es jeweils eine respektive zwei Schulen, die ganz nach der tradierten Buchstabiermethode unterrichteten. Mittlere Werte wiesen die Bezirke Regensberg und Pfäffikon auf, während Knonau (24%), Winterthur (29%) und vor allem Andelfingen (50%) einen erheblichen Anteil Schulen aufwiesen, die den althergebrachten Leseunterricht anboten.368 Die Verteilung verweist wiederum auf eine Zweiteilung des untersuchten Gebiets in eine eher traditionelle nordwestliche und eine Neuerungen gegenüber offenere südöstliche Hälfte, wobei sich der aufgrund seiner fehlenden Antworten auf die 1771er-Umfrage bislang wenig diskutierte Bezirk Mettmenstetten in der Tendenz der nordwestlichen Hälfte des Untersuchungsgebiets ähnlich verhielt.

Die Gemeinden sowohl des Bezirks Meilen als auch des Bezirks Zürich gal-ten auch in anderen Belangen stets als reformfreudig und als mit Affinitägal-ten zu Bildung und Wissen ausgestattet sowie in den allermeisten Fällen auch als wirtschaftlich prosperierend.369 In diesem Sinn entspricht ihre rasche

367 84,7%; 243, n = 287.

368 Von den insgesamt 44 Schulen mit ganz an der traditionellen Buchstabiermethode ausgerich-tetem Leseunterricht liegen 9 im Bezirk Andelfingen (50%; n = 18), 14 im Bezirk Winterthur (29,2%; n = 48), 5 im Bezirk Knonau (23,8%; n = 21), 7 im Bezirk Pfäffikon (15,9%; n = 44), 5 im Bezirk Regensberg (13,5%; n = 37), 2 im Bezirk Horgen – nämlich die beiden Bergschu-len Wädenswil Stocken, Arn – (12,5%; n = 16), mit Nürensdorf 1 im Bezirk Bülach (7,1%;

n = 14) und 1 im Bezirk Uster – Nossikon, die 8. Schule der Kirchgemeinde – (3,6%; n = 28).

369 Wirtschaftlicher Aufschwung im Zusammenhang mit dem Verlagswesen und Emanzipation von Teilen der daran beteiligten Landbevölkerung gingen Hand in Hand, sodass sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche Fabrikanten als selbständige Kaufleute, Tuchhändler oder Manufakturbesitzer etabliert hatten und weite Teile der Landbevölkerung über den regen Handelsverkehr zwischen Stadt und Land auch mit den kommerziellen und kulturellen Formen des bürgerlich-städtischen Lebens in Berührung kamen. Die grössten Veränderungen vollzogen sich entsprechend in den am stärksten in den heimindustriellen Markt integrier-ten und kapitalisierintegrier-ten Gebieintegrier-ten, namentlich entlang der beiden Ufer des Zürichsees, im Zürcher Oberland sowie im Knonauer Amt. Neue gesellige Lebensstile und Vereinigungen verbreiteten sich, Gesangs-, Musik- und Theatervereine wurden gegründet und es entstanden

Öffnung gegenüber Elementen der Scherr’schen Sprachlehre durchaus den Erwartungen. Anders der Bezirk Hinwil, welcher mit seinem gebirgigen und sehr weitläufigen Gebiet, das nicht von Reichtum, sondern von der für die Masse der Bevölkerung wenig abwerfenden protoindustriellen Arbeit geprägt war, welche mehr Kinder von einem langen und regelmässigen Schulbesuch abhielt. Dennoch zeigten sich dort bereits im 18. Jahrhundert, aber auch in den 1830er-Jahren immer wieder Engagement für die Schule und Offenheit gegenüber schulreformerischen Anliegen und Belangen. So hiess es etwa 1834 im Examensbericht über die kleine Nebenschule Itzikon, deren Leh-rer noch keinen Seminarkurs habe besuchen können, besondere Beachtung finde dort der Leseunterricht. Das Verstehen des Gelesenen werde angeleitet durch das Analysieren und Wiedererzählen sowohl in Umgangs- als auch in Schriftsprache. Auch bildeten die Satzlehre und das Verfertigen schriftlicher Aufsätze einen Arbeitsschwerpunkt.370 Diese laut den Schulbehörden in jeder Beziehung befriedigende Leistung der Schule Itzikon kann wohl einem beson-deren lokalen Engagement für Schulangelegenheiten zugeschrieben werden.

Es handelte sich nämlich um eine junge Schule, deren Eröffnung gegen den Willen der Kirchgemeinde, des Pfarrers und der kantonalen obersten Erzie-hungsbehörde von der Schulgenossenschaft selbst mit der Unterstützung des zentralstaatlichen Erziehungsministers während der helvetischen Zeit

durch-Lesegesellschaften. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution entwickelten sich diese zu Foren der Auseinandersetzung mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen.

Insbesondere die Ungleichheiten zwischen Stadt und Land wurden stark kritisiert. Auch im Zusammenhang mit der Verfassungsbewegung (Stäfner Memorial und Stäfner Handel) gelten die kaufmännisch-unternehmerischen Eliten in den protoindustrialisierten Regionen (Zürich see, Oberland, Knonauer Amt) sowie Ärzte und Angehörige anderer bürgerlicher Berufe als Träger der Bewegung. Trotz ihrer angeblichen Orientierung an der städtisch- bürgerlichen Kultur standen gerade die Seegemeinden oft in Opposition zur Stadt Zürich (zum Beispiel Waldmannhandel, Stäfner Handel, Bockenkrieg) und insbesondere von kon-servativen städtischen Kreisen wurde ihnen Angriffigkeit, Kritiklust und leidenschaftliches Temperament nachgesagt. Zudem wiesen die Seegemeinden eine gegenüber anderen Regionen erhöhte Alphabetisierungsrate auf, die von einem «ausgeprägte[n] Interesse an Bildung»

(von Wartburg- Ambühl) zeuge. Auch der Anstoss zum Ustertag 1830, einer Volksversamm-lung, auf der eine neue Verfassung formuliert wurde, welche Stadt und Landschaft gleich-stelle, ging von einer Seegemeinde (Stäfa) aus (Uster wurde lediglich wegen der zentralen Lage als Versammlungsort gewählt). Bruno schmiD: Art. «Ustertag», Version vom 14. Januar 2014, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17230.php, 25. April 2014; peter ziegLer: Art. «Zürichsee», Version vom 19. Dezember 2013, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8651.php, 25. April 2014;

peter ziegLer: Die linksufrigen Zürichsee-Gemeinden im Stäfner Handel, in: Memorial und Stäfner Handel 1794/95, hg. von Christoph Mörgeli, Stäfa 1995, S. 207–224, hier S. 211 f.;

Von wartBurg-amBühL, Alphabetisierung und Lektüre, S. 91; goDenzi, Das Zürcher Pri-vatschulwesen, S. 182; BränDLi, Umbruch, S. 67.

370 Bericht der Bezirksschulpflege Hinwil an den Erziehungsrat des Kantons Zürich 1834, StAZH, U 30a 1.

gesetzt wurde.371 In den Auseinandersetzungen mit den Behörden verwies die Gemeinde Itzikon darauf, jede kleine Gemeinde habe das Recht, eine eigene Schule einzurichten.372 Auch die Tatsache, dass die laut der Einschätzung des helvetischen Schulinspektors arme Gemeinde die im Zusammenhang mit der Schulgründung entstehenden Kosten nicht gescheut hatte, kann wohl nur als besonderes lokales Interesse an einer eigenen Schule gedeutet werden. Die für die Wirtschaftsgeschichte vorgeschlagene feinere Unterscheidung des proto-industriell geprägten Südostens in reine Spinnereigebiete und Gebiete, in denen das anspruchsvollere Webereigewerbe für die Herstellung besonderer Stoffe wie Mousseline und Seidenflor vorkam,373 wird hinsichtlich der Einführung eines reformierten Leseunterrichts nicht bestätigt. Vielmehr wurde die Reform des Leseunterrichts in den 1830er-Jahren in den Seegemeinden und im Bezirk Hinwil gleichermassen stark rezipiert. Das anspruchsvollere Webereigewerbe hingegen hatte sich zwar an den beiden Seeufern sowie in weiten Teilen des Oberlandes, allerdings eher weniger im Kapitel Wetzikon etabliert.

Insgesamt muss allerdings hinzugefügt werden, dass kaum eine Schule die Scherr’sche Sprachlehre mit der Schreib-/Lesemethode vollumfänglich ein-geführt hatte. An den allermeisten Schulen, welche Elemente der neuen Sprach-lehre umgesetzt hatten, wurde Tradiertes neben den neuen Wissenselemen ten weiterverfolgt, sodass der Leseunterricht 1834 wohl an vielen Landschulen einen hybriden Charakter aufwies und jeweils bloss einzelne Elemente, wie etwa die Lautiermethode, das Lesebuch oder etwas aus der Grammatik, übernahm. Exemplarisch kann dies etwa am Bericht über das Examen an der Schule in Wolsen aufgezeigt werden: «Die Elementarklassen unterschieden Vocalen und Konsonanten, lasen ein- und mehrsilbige Wörter in Schrift und Druck, worbei sie auf Dehnung und Schärfung aufmerksam gemacht wurden und waren dahin gebracht worden, Artikel, H[au]p[t]wort und Beiwort zu unterscheiden; dann buchstabirten und sillabirten diese Klassen noch aus dem Katechismus, alles zur Zufriedenheit der gegenwärtigen Vorsteher.»

Eine noch deutlichere Sprache spricht der Bericht über die Schule in Hinwil, der schlicht festhielt, der Leseunterricht werde nach der Lautier- und nach der Buchstabiermethode erteilt.374 Den hybriden Charakter des erneuerten Unterrichts unterstreicht auch eine in einem Schulpflegebericht notierte

Be-371 De Vincenti/gruBe, Schulaufsicht zwischen pastoraler Inspektion und behördlicher Ad-ministration, S. 29 f.

372 Protokolle des Erziehungsrates 1800, Einträge von Mai bis Oktober, hier Eintrag vom 23. Mai 1800, zur Einschätzung, Itzikon sei eine arme Gemeinde, siehe Eintrag vom 31. Juli 1800, StAZH, KI 56g.

373 LenDenmann, Die wirtschaftliche Entwicklung im Stadtstaat Zürich, S. 167.

374 Berichte der Bezirksschulpflegen Knonau und Hinwil an den Erziehungsrat des Kantons Zürich 1834, StAZH, U 30a 1.

obachtung. Der Visitator bezeugte zunächst, die Prüfungen seien in Bezug auf alle Klassen und Fächer «befriedigend und erfreulich» ausgefallen, dennoch scheine es ihm, «dass auch bey den neuen Fächern nicht Weniges mehr Sache des Gedächtnisses als des Verstandes und der Anschauung sey. In der neuen Sprachlehre z. B. sagten die Schüler im Chor oft ganze Sätze und sehr feine philosophisch zu nennende […] Definitionen her, deren Sinn die Kinder zuverlässig nicht verstehen könnten.»375

Dass dabei die Lehrer und insbesondere ihr Ausbildungsstand eine wichtige Rolle spielen konnten, zeigen etwa die Berichte aus Hettlingen und Kloten. In Hettlingen gelangten die Scherr’schen Tabellen zwar zur Anwendung, doch sei der Leseunterricht wegen Unkenntnis des Schulmeisters trotzdem schlecht.

Schulpflege und viele Bürger wünschten sich daher einen anderen Lehrer, der offenbar aber nicht sofort eingesetzt werden konnte.376 Eine Lehrperson ver-mochte, dies zeigt der Examensbericht über die Schule in Kloten, auch zum Gelingen der Reform beizutragen: Das Examen hebe sich vorteilhaft von den vorangehenden ab, man sehe, dass der Lehrer, was er im Seminar gelernt habe, mit Treue anwende.377 Damit ist natürlich der Unterricht nach den von Scherr propagierten Methoden und Ansätzen gemeint. Dass auch die Eltern mit ihren eigenen Wissensbeständen sowie ihr häuslicher Unterricht der Kinder eine zentrale Rolle spielten, zeigt etwa der Bericht aus Wädenswil Stocken. Im Zusammenhang mit der Lautiermethode hiess es dort, diese sei noch nicht ein-geführt worden, «weil es Winterszeit viele Unterbrechungen des Schulbesuchs giebt, & die Eltern zu Hause mit den Kindern buchstabieren».378

Im Dokument Schule der Gesellschaft (Seite 142-147)