• Keine Ergebnisse gefunden

Die Schulen in den Städten Zürich und Winterthur

Im Dokument Schule der Gesellschaft (Seite 61-72)

1.7 Auswahl der untersuchten Schulorte

1.7.3 Die Schulen in den Städten Zürich und Winterthur

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Abgrenzung des Gegenstandes in den Städten Zürich und Winterthur, wo neben der Volksschule ein ausgebautes mittleres und höheres Bildungsangebot bestand und wo viele Privatinstitute oder an bestimmte enge Zwecke gebundene Schulen, wie beispielsweise die Schule für Waisenkinder am Waisenhaus, existierten.

Es stellte sich angesichts des bis zu den höheren Schulen reichenden städ-tischen Bildungsangebotes zunächst die Frage, bis zu welcher Stufe diese Schu-len mit einbezogen werden sollten. Eine besondere Schwierigkeit stellte die Tatsache dar, dass der Übertritt von einer zur nächsten Schulstufe – zumindest zu den ersten beiden Untersuchungszeitpunkten 1771 und 1799 – nicht so sehr an ein bestimmtes Alter als vielmehr an den Erwerb bestimmter Fähigkeiten

166 wettstein, Die Regeneration des Kantons Zürich, S. 479; meyerVon knonau, Der Canton Zürich, S. 18.

167 wirz, Historische Darstellung, S. 15.

gebunden war. Man besuchte eine Schule also so lange, bis man gewisse Inhalte beherrschte, und nicht, bis man ein bestimmtes Altersjahr vollendet hatte. Zur Auswahl der untersuchten Stadtschulen wurde daher für Zürich und Winter-thur ein Normaldurchlauf der Bildungsanstalten bis ungefähr zum fünfzehn-ten Altersjahr angenommen.

Zürich

Dieser Normaldurchlauf begann in der Stadt Zürich in einer der sieben Haus-schulen, an welchen in der Regel Kinder vom vierten bis sechsten Altersjahr beschult wurden. Sie gehörten zu den vier Stadtkirchgemeinden und sieben Stadtquartieren.168 Wollte man im Anschluss an die Hausschule die schulische Laufbahn fortsetzen, folgte der Besuch einer der beiden deutschen Schulen am Bach oder beim Fraumünster. Sie waren obere Elementarschulen, also etwa für das sechste bis achte Altersjahr bestimmt und durften nur von Knaben besucht werden. Aufnahmebedingung war das Erreichen des Niveaus, auf das die sieben Hausschulen vorbereiten sollten.169 Die deutschen Schulen bilde-ten die Vorstufe für die Lateinschulen, die ab dem achbilde-ten Altersjahr besucht werden konnten und ungefähr acht Jahre dauerten.170 Eintrittsbedingung war der Kenntnisstand, auf den die deutschen Schulen vorbereiteten. Danach konnten Knaben, die eine Gelehrtenlaufbahn einschlagen wollten, am unteren Kollegium am Fraumünster zwei Jahre weiterstudieren, bevor sie am Gross-münster in drei Klassen aufgeteilt weitere fünf bis sechs Jahre studierten. Diese Kollegien, in denen klar die Gelehrtenbildung verfolgt wurde, sind nicht Teil dieser Untersuchung. Ebenso wenig kann auf die insbesondere in der Stadt äusserst rege genutzten Privatschulen, die sich noch wenig institutionalisiert und meist häuslichen Rahmen hatten, eingegangen werden. Laut Hartmann besuchten nur gerade 200 Kinder die Hausschulen, obwohl die Stadt bereits etwa 10 000 Einwohner zählte. Für das Jahr 1804 veranschlagt er schon allein das Verhältnis der Privatschulen zu den Hausschulen auf zwei zu drei, wobei der häusliche Unterricht noch nicht mitberücksichtigt ist.171

Zum zweiten Untersuchungszeitpunkt 1799 hatte sich im Bereich der Elemen-tarschule gegenüber 1771 kaum etwas verändert. Weiterhin gab es die sieben Hausschulen und die zwei deutschen Schulen. Inzwischen war aber eine Re-form der Lateinschulen durchgeführt worden, sodass ab 1773 auf den Besuch der deutschen Schule die Realschule folgte, welche vier Klassen mit je einem zweijährigen Kurs umfasste und von den Knaben ungefähr mit zwölf bis

168 Ebd., S. 296 f.

169 Ebd., S. 299.

170 wyss, Politisches Handbuch, S. 401 f.

171 hartmann, Volksschule, S. 43.

zehn Jahren verlassen wurde.172 Die zwei ersten Klassen der Realschule zu je zwei Jahreskursen dienten der gemeinsamen Vorbereitung auf gelehrte und praktische Berufe. Nach diesen ersten zwei Klassen traten die Laufbahnen für praktische und gelehrte Berufe auseinander. Die Präparanden für die prak-tischen Berufe besuchten nach der Realschule die ebenfalls 1773 neu gestiftete Kunstschule, während die anderen, die eine wissenschaftliche Bildung anstreb-ten, in der Realschule verblieben und dort die dritte Realklasse absolvierten.173 Die Kunstschule war also für junge Männer bestimmt, die entweder Kauf-mann, Krämer oder Handwerker werden wollten. Sie umfasste drei Klassen, die alle in einem Jahr absolviert wurden. Eintrittsbedingung war der nach vier Jahren erworbene Wissensstand oder eben die Absolvierung von zwei Klassen der Realschule abzüglich der Lateinkenntnisse.174 Die Schülerzahl war auf vierzig festgelegt; wenn nicht genügend Anmeldungen aus den Kreisen der Stadtbürger eingingen, wurden auch Landknaben zugelassen.175

Nur ein Jahr später, 1774, wurde mit der Stiftung der Töchterschule auch für die Mädchen das Bildungsangebot ausgebaut. Die Töchterschule knüpfte an den Kenntnisstand der Hausschulen an und war in drei Klassen organisiert, jede dauerte acht Monate, insgesamt also zwei Jahre. In jede Klasse wurden zwan-zig Schülerinnen aufgenommen. Aufnahmebedingung war das zurückgelegte zwölfte Altersjahr, sodass zwischen dem Austritt aus der Hausschule und dem Eintritt in die Töchterschule wenigstens sechs Jahre zu überbrücken waren.176 Weiter existierten vor allem zu den ersten beiden Untersuchungszeitpunkten viele Spezialschulen, die nicht eigentlich zum allgemein zugänglichen Volks-schulwesen gehörten. So zum Beispiel die Schule im Waisenhaus, die eben nur Waisen offenstand und auch nicht vollständig dem städtischen Aufsichtsorgan, dem Schulrat, unterstellt war.177 Solche Schulen wurden in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt.178 Dasselbe gilt auch für die Schule im Spital, die als Privatinstitut der Ascetischen Gesellschaft geführt wurde.179 Eine enge Aus-legung des Kriteriums schlösse auch die 1786180 gegründete Armenschule der Hülfsgesellschaft aus, die jedoch mitberücksichtigt wurde, weil Armut keine

172 [S. n.], Schulwesen, S. 10. Nach Wyss fünf Klassen insgesamt à acht Jahren. wyss, Politisches Handbuch, S. 401.

173 [S. n.], Schulwesen, S. 10.

174 wyss, Politisches Handbuch, S. 406.

175 Ebd., S. 405–407.

176 Ebd., S. 407; staDLer, Töchterschule.

177 Gesetz Schulverhältnisse der Stadt Zürich, S. 22, § 3.

178 Analog dazu wurde auch die über längere Zeit erfolgreich geführte Schule am Waisenhaus in Regensberg weggelassen.

179 wirz, Historische Darstellung, S. 468.

180 wymann, Oberstufe der Volksschule des Kantons Zürich, S. 1.

inhaltliche Spezialisierung erwarten liess und sie von der Schulberichterstat-tung erfasst worden war.

Seit dem neuen Unterrichtsgesetz von 1832 waren die Stadt- und Landschu-len analog strukturiert, das heisst – anders als auf dem Land – zwar in eine Knaben- und eine Mädchenschule, sonst aber bloss noch in je eine Elementar- und eine Realstufe geteilt.181 1833 wurde die Kantonsschule eröffnet. Sie löste Vorgängerinstitutionen wie die Bürger-, Gelehrten- und die Kunstschule, das Gymnasium und ebenso das technische Institut ab.182 Organisiert wurde sie in zwei Abteilungen: das Gymnasium einerseits und die Industrieschule an-dererseits.183 Das Untergymnasium bestand aus vier Klassen für Schüler vom zwölften bis zum sechzehnten Altersjahr. Ebenso war auch die Industrieschule in zwei Abteilungen gegliedert: die untere Industrieschule mit den Klassen für Schüler vom zwölften bis zum fünfzehnten Altersjahr. Für die vorliegende Untersuchung können die beiden unteren Stufen des Gymnasiums und der Industrieschule mitberücksichtigt werden, da sie mit fünfzehn respektive sech-zehn Jahren absolviert sein sollten.

Auch die Mädchenbildung befand sich neu in städtischer Obhut. 1803 war die Töchterschule an die Stadt übergegangen, bei der Reorganisation des staat-lichen Schulwesens am Anfang der Dreissigerjahre wurden die vier unteren Klassen der Töchterschule ausgegliedert und der städtischen Primarschule zugeschlagen. Die oberen Klassen hingegen wurden zu einer Mädchensekun-darschule umgewandelt.184

Gerade auf den höheren Bildungsstufen blühten in Zürich vor allem seit der Mediationszeit unzählige Privatinstitute: So entstand beispielsweise 1782 das medizinisch-chirurgische Institut, 1807 das politische Institut, 1826 das tech-nische Institut,185 weitere Beispiele sind etwa das Kadetteninstitut, die Indus-trieschule für Töchter186 oder aber die Blinden- und Taubstummenanstalt.187 Sie alle sind als höhere Bildungsanstalten nicht Teil dieser der Volksschulstufe gewidmeten Untersuchung.

181 «In dieser neuen Organisation gehen die bisherigen städtischen Anstalten, die sieben Haus-schulen, die zwei deutschen Schulen, die Bürgerschule und in gewissem Sinne auch die Töch-terschule auf.» [S. n.], Schulwesen, S. 15. Die Berichte der städtischen Schulpflege zeugen ausserdem davon, dass die Restrukturierung auch tatsächlich sofort stattgefunden hat: Jahres-berichte über die Leistungen der Zürcherischen Mädchen-Stadtschulen sowie JahresJahres-berichte über die Leistungen der Zürcherischen Knaben-Stadtschulen, StAZH, U 41e 1.

182 meyerVon knonau, Der Canton Zürich, S. 24.

183 Ebd., S. 23.

184 staDLer, Töchterscule, S. 10 f.

185 [S. n.], Schulwesen, S. 12.

186 wyss, Handbuch, S. 408.

187 [S. n.], Schulwesen, S. 12.

Winterthur

In Winterthur waren die niederen und höheren, also die deutschen und die lateinischen Schulen schon im 17. Jahrhundert zu einer einzigen Schulanstalt vereinigt worden, an deren Spitze ein Rektor stand. Daneben bestanden die sogenannten Nebenschulen, in welchen Knaben und Mädchen gemischt in die elementarsten Kulturtechniken sowie den Katechismus eingeführt wurden.

Ansonsten wurden Knaben und Mädchen in Winterthur getrennt beschult.188 Angesichts des sehr gut ausgebauten städtischen Schulangebotes etablierten sich auch sehr lange kaum Privatschulen und -institute.

Im Bereich der Volksschule existierten in Winterthur 1771 die ersten Klassen der Knaben- und der Mädchenschule sowie zwei Nebenschulen. Sie entspran-gen alle der deutschen Schule, die seit 1635 von drei Schulmeistern in je eientspran-genen Zimmern geführt wurde.189 Eine der Nebenschulen war für die Mädchen be-stimmt und wurde von einer Nebenlehrgotte gehalten. Mit dieser Darstellung der gesetzlichen Norm scheint zunächst die Schulumfrage von 1771 zu kont-rastieren, indem sie bereits von drei parallelen Mädchenschulen berichtet: zwei obrigkeitlich bestellte und eine bewilligte.190 Es ist allerdings davon auszugehen, dass die beiden obrigkeitlichen Mädchenschulen auf die zwei Klas sen der städ-tischen Mädchenschule verweisen und die bewilligte Schule der Nebenschule entspricht. Auch bei der Knabenschule scheinen die Darstellungen in der Lite-ratur und die Antwort aus der Schulumfrage auseinander zuklaffen. Letztere erwähnt nämlich vier obrigkeitlich bestellte Knabenschulen und eine obrig-keitlich bewilligte Schule. Bei den vier müsste es sich allerdings wiederum um die Klassen der städtischen Schule handeln, bei der bewilligten um eine Neben-schule. Die oberen drei Klassen der städtischen Knabenschule entsprachen seit der Schulreform von 1664 einem Gymnasium und hatten die frühere Latein-schule abgelöst. Diese drei oberen Klassen wurden in der Regel in anderthalb respektive zwei Jahren und in vorgegebener Reihenfolge absolviert: zunächst die Klasse des Provisors (anderthalb Jahre), dann die Klasse des Konrektors (anderthalb Jahre) und schliesslich die Klasse des Rektors (zwei Jahre).191 Zwischen 1771 und 1799 erfuhren die Winterthurer Volksschulen kaum grund legende strukturelle Veränderungen. Eine Schulreform des Jahres 1775 konzentrierte sich vor allem auf die mittlere und höhere Bildung. Lediglich die Nebenschulen wurden in das städtische Schulwesen integriert und das dort tätige Lehrpersonal etwas besser besoldet.192 Neu wurden 1789 in einem

188 kLinke, Volksschulwesen, S. 71 f.

189 winkLer, Schulgeschichte Winterthur, S. 27.

190 Antworten auf die Schulumfrage 1771, Winterthur.

191 winkLer, Schulgeschichte Winterthur, S. 29.

192 troLL, Geschichte der Stadt Winterthur, S. 127–129.

revidierten Schulplan die alten Bezeichnungen durch eine fortlaufende Klassen-kennzeichnung ersetzt, die erstmals für jede Klasse das Alter der Schüler und Schülerinnen festschrieb. Die erste Klasse wurde vom fünften bis zum sechsten Altersjahr besucht, die zweite und dritte Klasse entsprachen der ehemaligen deutschen Schule und wurden im siebten, achten und neunten Altersjahr absolviert. Daran schlossen die Klassen vier bis sechs für Zehn- bis Sechzehn-jährige an.193 Die Knabenschule war bis und mit dritter Klasse obligatorisch, danach machte die Mehrzahl der Schüler bei einem Handwerker eine Lehre.

Ebenfalls mit dem Schulplan von 1789 wurden die Winterthurer Schulen zu Freischulen erhoben.194

1834 gab es in Winterthur schliesslich drei Schulen: die deutsche Schule, die Mädchenschule und die Knabenschule.195 Die deutsche Schule war laut Schul-rat für alle in der Stadt ansässigen Kinder, welche die übrigen öffentlichen Schulen der Stadt nicht besuchten, obligatorisch. Die Schulzeit dauerte zehn Jahre (vom fünften bis zum fünfzehnten Altersjahr). Die Schule war unterteilt in Elementar-, Real- und Repetierklassen, diese umfassten das letzte Schuljahr.

Mädchen mussten zusätzlich nach dem zwölften Altersjahr für zwei Jahre die Arbeitsschule besuchen (wöchentlich zwölf Stunden).196

Die Mädchenschule war in fünf Klassen gegliedert und wurde in der Regel ebenfalls innerhalb von zehn Jahren absolviert. Schuleintritt war mit dem voll-endeten fünften Altersjahr, Austritt mit fünfzehn Jahren. Wie an der deutschen Schule gab es auch an der Mädchenschule eine Arbeitsschule, die mit dem Eintritt in die vierte Klasse, also mit dem zwölften oder dreizehnten Altersjahr, aufgenommen werden konnte. Sie war nicht obligatorisch, musste aber – ein-mal begonnen – beendet werden. Laut einem Rechenschaftsbericht des Erzie-hungsrats entspricht den ländlichen Sekundarschulen in etwa die zweite und dritte Realklasse der Winterthurer Mädchenschule.197

Die Knabenschule war in eine Untere und eine Obere Schule geteilt, wobei die obere Abteilung wiederum in zwei Unterabteilungen zerfiel: die Industrie-schule (fünf Klassen vom zwölften bis fünfzehnten Jahr) und das Gymnasium (ebenfalls fünf Klassen vom zwölften bis fünfzehnten Altersjahr). Damit wurden die beiden Hauptrichtungen der höheren Bildung vorweggenommen und der Unterricht teils mit allen Knaben gemeinsam, teils spezialisiert ab-gehalten.198

193 winkLer, Schulgeschichte Winterthur, S. 38.

194 troLL, Geschichte der Stadt Winterthur, S. 156.

195 Beschlüsse neue Organisation Lehranstalten, StAW, II B 30 k 6.

196 Ebd.

197 Rechenschaftsberichte des Erziehungsrates 1835 bis 1836, StAZH, M 24.1, S. 23.

198 Beschlüsse neue Organisation Lehranstalten, StAW, II B 30 k 6, S. 33.

1810 wurde für Nichtbürger der Stadt auch eine Ansässenschule eröffnet.

Diese Eröffnung erfolgte später als etwa in Zürich, da es bis 1764 Nichtverbür-gerten verboten war, in Winterthur einen eigenen Haushalt zu führen, es also keine fremden Kinder in der Stadt gab. Bis zur Eröffnung der Ansässenschule 1810 besuchten sie die Bürgerschulen.199 Da die Ansässenschule 1834 bereits wieder in die öffentliche Schule integriert worden war, erscheint sie nicht in der vorliegenden Untersuchung. Wie in Zürich entstanden im 19. Jahrhundert auch in Winterthur diverse höhere Privatinstitute, die ebenso wenig Gegen-stand dieser Untersuchung sind.

199 hartmann, Volksschule, S. 78.

2 Lernbereiche

In der Einleitung wurden Curricula von Einzelschulen als Untersuchungs-gegenstand festgelegt und definiert als Gliederung der Lernbereiche sowie Regeln und Formen des Unterrichts oder anders formuliert als Gesamtheit der Fächer und Rahmenbedingungen, unter welchen die Fächer vermittelt werden.

Von eigentlichen Schulfächern wird allerdings sinnvollerweise erst im Zusam-menhang mit der sogenannten modernen Volksschule1 gesprochen. Sie sind das Resultat einer Entwicklung der Curricula weg von der Vermittlung einer einzigen Weltsicht, eines sittlich-religiös geprägten, umfassenden Bildungsver-ständnisses hin zu einem nach Fächern gegliederten Unterricht.2 Dabei waren die unterschiedlichen fachlichen Perspektiven immer auch Perspektiven auf die Welt, die sich im Austausch mit den sich gleichzeitig etablierenden univer-sitären Referenzdisziplinen herausbildeten, Wissen und Praktiken auswählten, tradierten und so auch kanonisierten. Ein eigentlicher Fachunterricht und mit ihm auch ein fachlich-inhaltliches Bildungsverständnis begann sich demnach während des untersuchten Zeitraums erst zu etablieren und löste später die religiös-moralische Bildung in Verbindung mit den Kulturtechniken als zent-rale Bildungsinhalte ab.

2.1 Die Lernbereiche im 18. Jahrhundert – nichts als Religionsunterricht?

Während des 18. Jahrhunderts wurde der grösste Teil der Unterrichtszeit auf die noch nicht zu Fächern ausdifferenzierten Lernbereiche des Buchstabierens, des Lesens und des Auswendiglernens verwendet. Daneben wurden, meist fakultativ, weitere Inhalte wie Gesang, Schreiben, Handschriftenlesen oder Rechnen angeboten. Ernst Schneider unterscheidet daher in seiner Unter-suchung der Berner Landschulen zwei Gruppen von Lernbereichen. Die eine

1 Mit modern wird für den Fall Zürich gemeinhin die seit den Reformen von 1831 institutionell dem staatlichen Bereich zugeordnete Volksschule bezeichnet. Jüngst etwa tröhLer/harD

-egger, Zukunft bilden.

2 sauer, «Vom Nutzen des Gewitters», S. 134.

Gruppe überschreibt er mit dem Titel Religionsunterricht und schlägt ihr sowohl das Buchstabenlernen, Buchstabieren, Lesen als Vorbereitung zum Auswendiglernen als auch das Auswendiglernen sowie das Katechisieren zu.

Die andere, fakultative Gruppe besteht nach Schneider aus Singen, Schreiben, Handschriftenlesen und Rechnen.3 Der Gemeinplatz, vormoderne Schulcur-ricula hätten beinahe ausschliesslich aus Religionsunterricht bestanden,4 dürfte der ihm zugrunde liegenden, etwas anachronistischen Annahme einer kon-sistenten Kontur religiöser Lerninhalte im Sinne eines Faches geschuldet sein.

Wie das Lesen wurden allerdings auch das Singen und Schreiben meist anhand religiös orientierter Materialien eingeübt, sodass bei diesen Lernbereichen die Vermittlung der Religion ebenso ein Teilziel des Unterrichts gewesen sein dürfte. Demnach müssten auch Singen und Schreiben unter den Begriff des Religionsunterrichts subsumiert werden, sodass letztlich tatsächlich beinahe aller Unterricht darunterfiele. Bezeichnungen der Schule im Ancien Régime als «Werkstatt Gottes»5 oder «sittlich-religiöse Zuchtanstalt»6 zeugen von solchen Lesarten der vormodernen Unterrichtspraktiken. Auch Urs Walter Meyer stellt in seiner Untersuchung des reformierten Religionsunterrichts im Kanton Bern für das Ancien Régime fest: «Nach dem alten Schulzweck zielt aller Unterricht auf wahre religiöse Unterweisung ab.» Aller Unterricht habe dem Religionsunterricht gedient, indem sein Ziel in der Anerziehung von Gottesfurcht gelegen habe. Die Schule habe somit auf das Bildungsziel der Kirche, auf die Erziehung zum guten Christen, auf «echte Lebensbewäl-tigung als die der Welt zugekehrte Seite der Erziehungsschule des Diesseits fürs Jenseits» vorbereitet, sodass die Schulerziehung mit der Admission zum Abendmahl habe zusammenfallen können.7 In seiner Untersuchung zu den Bildungsmedien der Berner Elementarschulen streicht auch Beat Wyss die Funktion der Schule als institutionelle Vorbereitung auf die Konfirmation und die Einnahme des Abendmahls als mündiges Mitglied der Kirchgemeinde heraus, welche sie bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beibehalten habe. Mündigkeit habe in diesem Zusammenhang bedeutet, aktiv am Gottes-dienst teilnehmen, also über das Zuhören hinaus auch mitsingen, mitrezitieren und mitbeten zu können.8

Diese Versuche, Schule überhaupt als Religionsunterricht zu fassen, implizie-ren allerdings, dass Lesen, Schreiben oder auch Rechnen im Sinne eines von

3 schneiDer, Bernische Landschule, S. 116.

4 Jüngst etwa LengwiLer et al., Schule Macht Geschichte, S. 12.

5 suter, «Werkstatt Gottes».

6 kLinke, Volksschulwesen, S. 135.

7 meyer, Der reformierte Religionsunterricht, S. 36 f.

8 wyss, Die Ablösung des Katechismus, S. 434.

Inhalten durchaus auch unabhängigen Könnens nicht Ziel dieses Unterrichts waren, was wiederum ihr regelmässiges Vorkommen in den Unterrichtsprak-tiken kaum zu erklären vermag.9 Ohne zu bestreiten, dass die Vermittlung sittlich-religiöser Lerninhalte insgesamt das primäre Bildungs- und Erzie-hungsziel war, verstellt diese schnelle Etikettierung doch den Blick auf eine differenzierte Wahrnehmung zeitgenössischer Unterrichtsziele und -prakti-ken. Ebenso könnte man für die Curricula des 19. oder des 21. Jahrhunderts behaupten, sie betrieben nichts als Bürgerbildung respektive Humankapital-produktion. Obwohl diese Etiketten einer gewissen Beschreibungskraft nicht gänzlich entbehren, sind sie kaum geeignet, ein differenziertes Bild des prakti-zierten Unterrichts abzugeben. Ertragreicher erscheint es daher für die vorlie-gende Untersuchung, zwischen Inhalten und Fähigkeiten zu unterscheiden, die in ihrem Verhältnis später den etablierten Lehrfächern ihr spezifisches Profil geben sollten.10

Im Folgenden wird daher für die Lernbereiche Lesen, Schreiben, Rechnen, Fremdsprachen und Realien nach den verwendeten Lehrmitteln sowie den praktizierten Unterrichtssettings und -methoden gefragt. Religion hingegen wird nicht als ausdifferenzierter Lernbereich untersucht, weil er in den Quel-len für den untersuchten Zeitraum noch kaum als solcher in Erscheinung trat. Vielmehr ist etwa im Fragebogen der Umfrage aus dem Jahr 1771 vom Buchstabieren, Lesen, Auswendiglernen, Schreiben oder Rechnen die Rede.

Noch 1830 schrieb der Erziehungsrat Johann Jacob Hottinger in seinem Bericht über den Zustand des Landschulwesens im Kanton Zürich, «der eigentliche Religionsunterricht wird allenthalben durch Geistliche erteilt».11 Auch in den Berichten von 1834 werden Katechismusfragen immer noch mit den Fähigkeiten im Buchstabieren und Lesen rapportiert, während biblische Geschichte meist zusammen mit der vaterländischen Geschichte genannt wird. Die Verwendung des Begriffs Religionsunterricht erscheint indes erst

9 Für eine ausführliche Diskussion dieses Problems siehe De Vincenti, Lesen und Schreiben.

10 Ähnlich künzLi, Das Schulfach als Denk- und Handlungsrahmen, S. 25. Angesichts der virulenten Debatte über die Bedeutung des Kompetenzbegriffs sowie der heterogenen Ver-wendung des Wissensbegriffs wird für die vorliegende Studie der Versuch unternommen, auf eine weniger umstrittene Begrifflichkeit zurückzugreifen. Es wird im Zusammenhang mit dem Lese- respektive Schreibunterricht zwischen der Vermittlung von Inhalten und der Lese- respektive Schreibfähigkeit im Sinne eines Könnens unterschieden. Utz Maas hat etwa die Schreibfähigkeit als «Aneignung des intellektuellen Produktionsmittels Schrift in vollem Sinne: mit der vergleichenden Verfügung über die schriftliche Produktion […] und der akti-ven Umsetzung im eigenen Schreiben» umschrieben. maas, Ländliche Schriftkultur in der Frühen Neuzeit, S. 253. Analog wird in dieser Arbeit das Lesen-, Schreiben- und Rechnen-können als aktives Beherrschen der entsprechenden Kulturtechnik verstanden und mit den

10 Ähnlich künzLi, Das Schulfach als Denk- und Handlungsrahmen, S. 25. Angesichts der virulenten Debatte über die Bedeutung des Kompetenzbegriffs sowie der heterogenen Ver-wendung des Wissensbegriffs wird für die vorliegende Studie der Versuch unternommen, auf eine weniger umstrittene Begrifflichkeit zurückzugreifen. Es wird im Zusammenhang mit dem Lese- respektive Schreibunterricht zwischen der Vermittlung von Inhalten und der Lese- respektive Schreibfähigkeit im Sinne eines Könnens unterschieden. Utz Maas hat etwa die Schreibfähigkeit als «Aneignung des intellektuellen Produktionsmittels Schrift in vollem Sinne: mit der vergleichenden Verfügung über die schriftliche Produktion […] und der akti-ven Umsetzung im eigenen Schreiben» umschrieben. maas, Ländliche Schriftkultur in der Frühen Neuzeit, S. 253. Analog wird in dieser Arbeit das Lesen-, Schreiben- und Rechnen-können als aktives Beherrschen der entsprechenden Kulturtechnik verstanden und mit den

Im Dokument Schule der Gesellschaft (Seite 61-72)